Zeit der Könige

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Gegen Mittag des 24. Juni war Albrecht nicht mehr ansprechbar. Falk und Hugold standen bei seinem Lager und versuchten, mit feuchten Tüchern Linderung zu verschaffen. Noch einmal riss Albrecht seine Augen weit auf als würde er seine eigene Verdammnis sehen. Und vielleicht ist es ja auch so, dachte Falk bei sich.

„Sophie“, hauchte Albrecht fast unhörbar. Dann tat er einen letzten tiefen Atemzug und sank still in sich zusammen. Hugold trat näher, um zu sehen, ob sein Herr eingeschlafen sei. Doch Albrecht war tot, gestorben am Gift eines Unbekannten.

Noch am selben Tag wurde der Markgraf zurück nach Altzella gebracht, wo man ihn an der Seite seiner Gemahlin Sophie von Böhmen in aller Stille beisetzte. Nur der Abt und Falk waren anwesend, als man den steinernen Deckel seines Sarkophags herabließ.

Teil 2

Im Heiligen Land

Kapitel 9

Sizilien

Ostern 1195

„Hör zu, Nicolas. Ich schleuse dich unter die Diener des Kaisers“, eröffnete Dietrich seinem Schützling. Nicolas fuhr der Schrecken durch die Glieder. Er sollte ganz allein an der Tafel dieses Tyrannen, der sich Kaiser nannte, bedienen? Das durfte doch nicht wahr sein.

„Ich würde lieber mit Euch gehen, Euer Gnaden“, wagte er zu widersprechen und sah seinen Herrn flehend an.

Kaiser Heinrich war in Italien damit beschäftigt, seine Herrschaft in Sizilien zu festigen. Nachdem Dietrich im Frühjahr 1195 Meißen unter dem Vorwand einer Palästina-Wallfahrt heimlich verlassen, begab er sich mit seinen Schützlingen zunächst nach Italien, um Heinrich von seinem Erbanspruch zu überzeugen. Doch der Kaiser war nicht bereit, in dieser Sache nachzugeben. Er war sehr verärgert, dass die beiden Kontrahenten zu keiner friedlichen Einigung fanden. Dietrich wollte sich deshalb aus der näheren Umgebung des Kaisers zurückziehen.

„Ich brauche hier einen zuverlässigen Mann, der mir von den Vorgängen um den Kaiser berichtet“, versuchte Dietrich seinen jungen Vertrauten zu überzeugen. „Ich werde am Gründonnerstag nach Akkon weiterreisen. Heinrich hat sich geweigert, mich zu empfangen. Er ließ mir zu verstehen geben, dass er nicht gewillt sei, dem Streit zwischen Albrecht und mir weiter zuzusehen. Es würde ihn nicht interessieren. Außerdem befahl er mir, mich hier zu seiner Verfügung zu halten.“ Dietrich schnaubte abfällig. „Ich denke ja gar nicht daran. Wenn er mich nicht unterstützt, sehe ich selber zu, wie ich zu meinem Recht komme.“

„Geht Ihr danach zurück nach Meißen?“, fragte Nicolas voller Bangen. Sein Herr würde ihn doch nicht etwa ganz hier zurücklassen. Doch zu seiner Erleichterung schüttelte Dietrich den Kopf.

„Nein. Mein Schwiegervater Hermann will nach Akkon kommen und mich dort treffen. Er hat mir eine Nachricht gesandt, dass ich ihn unterstützen soll beim Aufbau eines Ritterordens. Die Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens werden zu einer ritterlichen Kampftruppe ausgebildet. Als Gegenstück zu den Templern gewissermaßen.“ Dietrich lächelte etwas mitleidig. „Dem Kaiser ist es ein Dorn im Auge, dass die erfolgreichen Templer dem französischen König untertan sind. Und er, der Herrscher des größten Reiches der Christenheit, hat keine eigene Elitetruppe.“

Nicolas Augen wurden groß.

„Waren es nicht Bremer Palästinafahrer, die den Orden gegründet haben, weil die medizinischen Zustände im Kreuzfahrerlager so katastrophal waren?“, fragte er verwundert. „Und jetzt wollen sie selbst kämpfen. Wer kümmert sich dann um die armen Opfer?“

„Die meisten der Ordensbrüder sind aus adligem Hause. Die Pflege der Verwundeten wollen sie lieber Weibern und Mönchen überlassen. Sie begründen ihren Schritt damit, dass sie ja ohnehin mitten im Kampfgeschehen stünden. Da wäre es wohl logisch, wenn sie sich auch selbst verteidigen könnten. Beim Kaiser haben sie damit offene Türen eingerannt. Wie auch immer“, fuhr er fort und sah Nicolas dabei eindringlich an, dass diesem ganz flau im Magen wurde. „Ich brauche dich hier, damit du an der Tafel Heinrichs bedienst und gleichzeitig die Ohren offenhältst, um wichtige Entscheidungen und Befehle des Kaisers sofort an mich weiterzuleiten.“

Nicolas stöhnte.

„Also habt Ihr mir die Rolle des Maulwurfs zugedacht. Und was ist, wenn der Kaiser oder einer seiner Leute mir auf die Schliche kommen?“

„Dann darfst du dich halt nicht erwischen lassen“, meinte Dietrich lapidar. „Du wirst als Page Dienst tun, damit du dich unbeobachtet in der Halle des Kaisers aufhalten kannst.“

Nicolas war am Boden zerstört. All seine Träume von Ruhm und Ehre, die er auf den Schlachtfeldern Palästinas zu erringen gedachte, lösten sich mit einem Wort Dietrichs in Nichts auf.

„Was ist mit Modorok? Bleibt er auch hier?“ Ein kleiner Trost wäre es, nicht ganz allein den Launen des Kaisers ausgesetzt zu sein. Doch Dietrich schüttelte nur den Kopf und sein Blick machte ihm wenig Hoffnung. „Und was sagt der Auensteiner dazu, wenn ich ihm nicht mehr als Knappe zur Seite stehe?“, wagte er einen letzten Versuch, den Grafen umzustimmen.

Aber Dietrich war mit seinem Vetter, Wolfram von Auenstein bereits übereingekommen, dass der Jüngling an der Tafel des Kaisers nützlicher wäre, als im Zelt Wolframs. Seine Antwort zerstörte auch das letzte Fünkchen Hoffnung, dass Nicolas noch gehabt hatte. Er war jetzt fast siebzehn Jahre alt und wollte sich endlich die Rittersporen verdienen, doch das konnte er nun wohl vergessen.

Es wurde bereits Abend, als er in Richtung des großen Saales, in dem der Kaiser zu speisen pflegte, schlenderte. Er hatte es nicht besonders eilig. Die anderen Pagen maßen ihn mit mitleidigen Blicken, war er doch der Älteste unter ihnen. Heute sollte er dem Kaiser selbst als Mundschenk dienen. Wenigstens das hatte Wolfram für ihn arrangiert.

Es war der Vorabend des Ostersonntags. Viele Fürsten hielten sich in Bari auf. Heinrich hatte einen Reichstag einberufen. Bereits im Dezember 1194 hatte der Staufer sich zum König von Sizilien krönen lassen. Einen Tag später, am 26. Dezember wurde sein Sohn Friedrich geboren. Nun wollte er seine Rechte im Süden Italiens festigen und seine Macht ausbauen. Die Kaiserin war dazu persönlich in Bari erschienen. In Anwesenheit der Fürsten sollte auch sie zur Königin von Sizilien erhoben werden.

Der Kaiser richtete sich mit seinem Tross im Castello Svevo ein. Noch deutlich waren die Spuren der Zerstörung aus der Zeit zu sehen, als die Bewohner des apulischen Bari gegen die normannische Herrschaft aufbegehrten. Das Kastell ging durch die Ehe Heinrichs mit Konstanze von Sizilien, der Tochter des letzten normannischen Herrschers, in dessen Besitz über.

Überall hörte Nicolas Getreue des Kaisers abfällig darüber reden, dass Albrecht von Meißen zu Beginn des Jahres in Bari gewesen sei. Doch das wussten er und Dietrich bereits. Denn sie waren ja erst kurz nach seiner Rückkehr aus Italien heimlich aus der Mark verschwunden. Mit Genugtuung kam ihnen allerdings zu Ohren, dass dieser im letzten Winter vergeblich auf eine Audienz beim Kaiser gewartet hatte und unverrichteter Dinge nach Meißen zurückkehren musste. Denn auch Dietrich gelang es nicht, Heinrich in Hinsicht auf sein Erbe umzustimmen.

Die Glocken der nahen Basilika San Nicola läuteten zur Auferstehung des Herrn. Der gesamte Hof hatte sich zum Gottesdienst versammelt. Den Pagen und Knappen stand es frei, ob sie zusammen mit ihren jeweiligen Dienstherren oder allein den Gottesdienst besuchten.

Nicolas kehrte am Abend in sein Quartier zu Wolfram von Auenstein zurück. Leider was es ihm nicht gelungen, nahe genug an den Kaiser heranzukommen, um die Gespräche mit den Gesandten und Fürsten belauschen zu können.

Doch hatte es schnell die Runde gemacht, dass der Kreuzzugsgedanke nicht überall auf fruchtbaren Boden stieß.

„Wie ich gehört habe, will der Kaiser bald zurück ins Reich reisen“, sagte Nicolas wichtigtuerisch zu Wolfram und versuchte, sein weniges Wissen über die Pläne des Kaisers etwas aufzubauschen.

Sein Herr sah ihn augenzwinkernd an. „Da hast du wohl nicht allzu viel herausbekommen, was? Ich glaube, er wird erst noch versuchen, den Papst zu bestechen. Ich hörte, wie er der Kurie 1500 Ritter und noch einmal genau so viele Fußsoldaten versprochen hat.“ Nicolas schaute beschämt zu Boden. Das war wohl nicht ganz im Sinne von Dietrich gelaufen. Der hätte sich von ihm selbst bestimmt genauere Informationen über Heinrichs Pläne erhofft. „Wir reisen morgen nach Palästina weiter“, sagte Wolfram. „Ich habe durch einen Boten Nachricht von Dietrich erhalten. Er hält sich immer noch in Akkon auf und erwartet uns dort.“ Wolfram machte Anstalten, sich zu erheben. Doch Nicolas betroffene Miene ließ ihn innehalten. „Was ist, Bursche? Was hält dich hier in Bari. Doch nicht etwa ein Mädchen?“ Schmunzelnd erhob er sich von der Bank, mit einer Geste Nicolas zum Mitkommen auffordernd.

„Nein, kein Mädchen“, antwortete Nicolas zögerlich. „Doch glaubte ich, wir kehren nach Meißen zurück. Ich hoffte, dass Dietrich wieder zu Hause ist, wo doch Albrecht alles daransetzen wird, ihn aus seinen Besitzungen zu vertreiben.“ Nicolas holte tief Luft. „Aber Akkon...“ Irgendwie wurde ihm etwas bange bei dem Gedanken daran, nun wirklich ins Heilige Land zu reisen. Noch immer haderte er mit Gott, der den schmachvollen Tod seines Vaters nicht verhindert hatte. War es nicht ein Gottesurteil gewesen, das ihm alles genommen hatte? Und nun sollte er ausgerechnet das Grab von Gottes Sohn zurückerobern?

Ach, was soll`s, dachte Nicolas, vielleicht würde er ja da einige Antworten darauf erhalten, warum das Schicksal es so hart mit ihm gemeint hatte.

 

„Und wie kommen wir dahin?“, fragte er.

„Genauso, wie der Bote hierhergekommen ist, mit einer Handelsbarke. Dietrich sandte ihn von Ismir aus zurück. Zu gefährlich schien es ihm, dich hier allein zurückzulassen. Das Schiff bringt uns nach Tirana. Von dort aus segeln wir an der Küste entlang bis Aslan Limani . Was dann kommt, liegt in Gottes Hand.“ Wolframs Stimme wurde nachdenklicher. Er sah wohl auch einen langen mühsamen Weg vor sich und fragte sich im Stillen, was es ihm eigentlich bringen würde, die Strapazen einer Fahrt ins Heilige Land auf sich zu nehmen. Doch hatte er eine Wahl? Auch er war abhängig von Dietrich, dem er vor Jahren den Treueid geschworen hatte. Seine Mutter war eine jüngere Schwester Hedwigs gewesen. Sie wurde mit einem thüringischen Landadeligen verheiratet, der auf Grund seiner ausgedehnten Besitzungen als ein starker Verbündeter für seinen Großvater, Albrecht den Bären, in dessen Kampf gegen den sächsischen Herzog galt. Auch wollte Albrecht damit einen Vorposten gegen den Thüringer Landgrafen schaffen. Inzwischen allerdings war der Sohn des Thüringers der Schwiegervater seines Vetters Dietrich geworden und somit die Bedeutung der Auensteiner gesunken. Was sollte er also daheim, wo seine Ländereien auch ohne ihn bewirtschaftet wurden? Und wie überaus edel von Dietrich, sich um das Schicksal eines unbedeutenden Jungen zu sorgen!

Wolfram straffte die Schultern. „Lass uns gehen, Nicolas. Wir müssen packen und dann möglichst unauffällig aus der Umgebung des Kaisers verschwinden.“

Kapitel 10

„Wo ist dieser elende Bastard?“ Der Kaiser hatte die Stimme erhoben und sah mit scharfem Blick seinen Kammerdiener durchdringend an. Dem wurde heiß bei dem Gedanken, was der Kaiser wohl mit ihm machen würde, witterte dieser eine neuerliche Verschwörung oder Verrat. Nicolas war dem Kaiser aufgefallen. Er war recht stolz gewesen und hatte es nur sehr schwer über sich gebracht, die nötige Demut beim Bedienen an der Tafel walten zu lassen. Heinrich war argwöhnisch geworden und hatte sich vorgenommen, den Jungen näher unter die Lupe zu nehmen.

„Ich weiß es nicht, Majestät. Der Herr von Auenstein ist auch verschwunden. Wie ich hörte, sind sie zu einer Wallfahrt nach Palästina aufgebrochen.“

„Wallfahrt, ja?“ Der Kaiser schnaubte verächtlich. „Dieser Hurensohn Dietrich hält sich im Heiligen Land auf. Was auch immer er sich davon verspricht. Er ahnte wohl nicht, dass ich überall Augen und Ohren habe und wahrscheinlich im Gegensatz zu ihm weiß, dass sein Bruder Albrecht bei mir auf taube Ohren gestoßen ist und sein Land im Chaos versinkt. Welch gute Gelegenheit für mich, jetzt in die Mark Meißen zu reisen und dort unsere Interessen zu sichern.“ Heinrich grinste wölfisch. „Ich werde das Lehen einziehen. Das Silber der Bergwerke kann ich sehr gut gebrauchen. Vielleicht finden ja die Ungläubigen Gefallen an Dietrich, dann braucht er es ohnehin nicht mehr.“ Ein kaltes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Kaisers.

Schon lange hatte Heinrich ein Auge auf die Besitzungen des Meißner Markgrafen geworfen, gab es hier doch unermessliche Vorkommen an Silber und anderen wertvollen Erzen, die den Meißnern unsäglichen Reichtum und damit große Macht beschert hatten. Sie ließen sich nicht vom Kaiser in seine Ränkespiele einspannen und verließen ihr Land nur, um auf den einberufenen Reichstagen zu erscheinen. Aber Albrecht hatte er zuletzt gar nicht vorgelassen und Dietrich war heimlich nach Jerusalem verschwunden.

„Wer war dieser Junge eigentlich, den Dietrich hier zurückgelassen hat? Ich sah ihn bei ihm, als er sich vor einigen Wochen im Audienzsaal befand“, fragte der Kaiser seinen Kammerdiener. Vielleicht sollte er einige Häscher aussenden, die den Kerl zurückbrächten. Er würde dann schon aus ihm herausbringen, was er wissen wollte. Er, der Kaiser, kannte da einige wirksame Methoden. Erst kürzlich ließ er einen ungehorsamen Diener bis zum Hals in die Erde eingraben, nachdem dieser einen Krug mit Wein über den kaiserlichen Rücken gegossen hatte.

„Ein Vasall des Markgrafen, der seinen Knappendienst bei Wolfram von Auenstein ableistet. Wohl ein armer Schlucker ohne Land und Titel“, antwortete der Diener.

Das Abendläuten der Basilika unterbrach des Kaisers Gedanken. Eigentlich war er auf dem Weg zur Andacht gewesen, als ihm auffiel, dass weder der Auensteiner noch dessen Knappe unter seinem Gefolge waren. Und gab es wahrhaftig jetzt wichtigeres, als sich mit der Abwesenheit solch eines unbedeutenden Bengels zu befassen.

Wolfram und Nicolas waren an Bord der „Santa Teresa“ bis nach Tirana gekommen. Ab hier sollte sie ein Schiff die Küste entlang bis nach Aslan Limani, das die Griechen auch Piräus nannten, bringen.

Das Wetter hatte umgeschlagen und die schon fast frühsommerlichen Temperaturen der letzten Tage waren von starkem Regen und heftigem Wind abgelöst worden. Mit einem flauen Gefühl im Magen starrte Nicolas auf das Boot, dass am Kai liegend an seiner Vertäuung zerrte, als wolle es sich auf das Meer hinaus in die Fluten stürzen, um am Getümmel der Wellen teilzuhaben. Die letzten Handelsgüter waren bereits an Bord gebracht worden. Der Kapitän wollte noch bis zum Abend warten, da sich das Wetter bessern sollte. Allerdings hatte er keine allzu große Hoffnung. Doch er musste in drei Tagen in Aslan Limani sein. Hier würde seine Ladung auf ein größeres Schiff verladen werden, das dann nach Khios segelte und von da weiter nach Latakia an der Syrischen Küste.

Unschlüssig stand Nicolas am Steg, der den Kai mit dem Schiff verband. Wolfram wartete bereits seit einer Stunde an Bord auf ihn. Von der Reling aus redete er ihm gut zu: „Komm schon, du hast gar keine andere Wahl. Willst du allein hier zurückbleiben, ohne Geld, ohne Proviant und so ganz ohne jemanden zu kennen?“ Obwohl Nicolas immer einsam und ohne Familie gewesen war, gab es dennoch einen Unterschied, allein in einem fremden wilden Land zu sein oder sich am märkgräflichen Hof zu befinden inmitten von Menschen, die er mehr oder weniger kannte. Zögerlich setzte er einen Fuß auf den hölzernen Steg, als ihn eine Windbö um ein Haar ins Wasser gerissen hätte. Heftig mit dem Armen rudernd, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen, nahm er allen Mut zusammen und rannte über den Steg. Mit einem Satz sprang er auf das Deck, seine wenigen Habseligkeiten, die er zu einem Bündel geschnürt auf dem Rücken getragen hatte, flogen in hohem Bogen über seinen Kopf hinweg und schlitterten einige Meter weit über die Schiffsplanken. Durch den Schwung mitgerissen, verlor Nicolas das Gleichgewicht und prallte gegen seinen Dienstherrn, der ihn relativ unsanft auffing. „Was für ein Tölpel“, sagte Wolfram mehr zu sich selbst als zu dem Unglücksraben. „Heb deine drei Sachen auf und folge mir ins Quartier unter Deck, bevor alles vollends durchweicht ist“, blaffte er ihn an. Nicolas war noch zu verdattert, um groß nachdenken zu können, schnappte sein Bündel und folgte Wolfram durch eine Luke, die über eine steile Leiter in den Bauch des Schiffes führte.

Im trüben Licht einer Ölfunzel konnte er undeutlich die Umrisse des Raumes erkennen. Er war nicht sehr groß. An den Seiten stapelten sich sperrige Kisten und Ballen mit Waren, die, obwohl sie mit dicken Seilen an den Sparren festgezurrt waren, bedenklich an ihrer Verankerung rissen. Die Lampe schwankte hin und her, tauchte den Raum in ein unruhiges Licht. Schatten tanzten an den Wänden und die flackernden Silhouetten der Gegenstände erschienen wie bizarre Ungetüme.

Nicolas ließ sein Bündel direkt in der Mitte des Raumes einfach fallen, was ihm einen ungläubigen Blick des Ritters einbrachte. „Was glaubst du wohl, wo du dich hier niederlässt?“, schnauzte er Nicolas an. „Nimm deinen Kram und verstau ihn dort hinten, in der Nische zwischen den Ballen. Oder willst du, dass der Erstbeste, der die Leiter herunterkommt, über dich stolpert. Ich bin weiß Gott nicht scharf darauf, hier unnötig Aufsehen zu erregen.“

Nicolas machte ein trotziges Gesicht. „Niemals lege ich mich zwischen das ganze Gerümpel. Soll ich erschlagen werden? Schaut doch, wie es an der Verankerung zerrt!“ Damit setzte er sich auf den Boden und würdigte Wolfram keines Blickes mehr. Sollte der doch wütend auf ihn sein, was konnte er jetzt hier unten schon ausrichten, wenn Nicolas ihm den nötigen Gehorsam verweigerte. Auch rebellierte sein Magen bereits, und er wünschte sich, er wäre an Deck geblieben. Zum Glück war die letzte Mahlzeit schon vor einer ganzen Weile gewesen und hatte nur aus einem harten Kanten Brot und etwas verdünntem Wein bestanden. Schon der bloße Gedanke an sein karges Frühstück bescherte ihm eine neue Welle von Übelkeit. Wolfram setzte sich umständlich auf den Boden. Sein schweres Kettenhemd behinderte ihn. Doch es auszuziehen, kam nicht in Frage. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man gerade in einer fremden Umgebung sich immer gut gerüstet und mit großer Vorsicht bewegen sollte. Mit dem Rücken an einer großen Kiste lehnend, streckte er die Beine aus und schloss die Augen. Es dauerte auch nicht lange und die Strapazen der letzten Tage forderten ihren Tribut und Wolfram verfiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Auf Deck wurde ein Rufen laut. Im harten Befehlston erteilte jemand Kommandos, und Nicolas hörte über sich das Getrappel von etlichen Füßen. Trotzt der unruhigen Bewegungen der Dau, fühlte er, wie das Schiff allmählich Fahrt aufnahm. Doch es dauerte keine halbe Stunde und ihm war so schlecht, dass ihn nur noch der Gedanke, schnellstens nach oben an die Reling zu kommen, beherrschte. Er raffte seinen Umhang und rannte die Leiter hinauf. Inzwischen war es Nacht geworden, und fast völlige Dunkelheit hüllte das Schiff ein. Eine Laterne am Bug schwankte im heftigen Wind hin und her und warf ab und zu einen schwachen Lichtschein über das Deck. Da der Himmel nicht vollkommen bedeckt war, konnte Nicolas wage die Umrisse der Reling erkennen. Das Schiff war nicht sehr groß und mit wenigen Schritten war er an der Schiffswand. Er würgte und würgte, doch nichts wollte aus seinem leeren Magen kommen. Nicolas erinnerte sich, nicht einmal einen Schluck Wasser seit dem frühen Morgen getrunken zu haben. Die Kräfte verließen ihn und er sank unglücklich auf die Schiffsplanken, wo er resigniert liegen blieb. Seine Gedanken wanderten nach Hause, zu dem großen Saal, wo er zusammen mit den anderen Knappen geschlafen hatte, zu Berthe, die ihm eine warme Brühe einschenkte, zu seinem alten Lehrmeister Tassilo von Hohnberg. Ob dieser wohl noch lebte? Zuletzt war der alte Haudegen von einem starken Husten gequält worden. Seine Kraft hatte merklich abgenommen. Selbst der Gedanke an die verblichene Markgräfin erschien Nicolas jetzt irgendwie tröstlich, entführte er ihn im Geiste doch in vertraute Gefilde. Eine heftige Sturmbö ließ das Schiff gleichsam erzittern, sein Kopf prallte an die Reling. Doch war ihm zu elend, als dass er die Kraft aufgebracht hätte, sich darum zu scheren. Leicht benommen von dem heftigen Schlag döste er, den Wetterunbilden zum Trotz, langsam ein.

Ein Rütteln an der Schulter riss Nikolaus unsanft aus einem unruhigen Traum. Die Erschöpfung und die Übelkeit hatten ihn in einen tiefen Schlaf versinken lassen, so dass er weder den einsetzenden Regen noch die Kälte spürte. Über ihm stand der Eigner des Schiffes. Er gestikulierte wild und zeigte immer wieder in die Richtung der Luke, die unter das Deck führte. Nicolas verstand nicht, was der Mann sagte. Aber irgendetwas schien passiert zu sein. Mühsam rappelte er sich auf. Der Wind hatte deutlich nachgelassen und es nieselte nur noch leicht. Etwas unsicher taumelte er zur Leiter und schaute zusammen mit dem zeternden Kerl durch die Luke hinab. Leider war es zu finster da unten, um etwas erkennen zu können. Nicolas musste also wohl oder übel wieder in den Bauch des Schiffes klettern, obwohl er sich geschworen hatte, den Rest der Reise an Deck zu verbringen. Und es waren ja noch seine Sachen da unten. Auch, wenn es sich nur um wenige Habseligleiten handelte, so war es doch alles, was er besaß.

Der Kapitän folge ihm mit einem Kienspan in der Hand. Das Bild, das sich Nicolas bot, war erschreckend. Die Ladung hatte sich in der Nacht losgerissen und im gesamten Raum verteilt. Aber wo war Wolfram? Saß er nicht zuletzt dort drüben an der Wand? Nicolas riss dem Kapitän die Fackel aus der Hand und leuchtete die Ränder ab. Da sah er die Beine des Ritters in einem vollkommen unnatürlichen Winkel unter einer großen Kiste hervorschauen, die sich aus der Verankerung gelöst hatte und quer durch den Raum geschleudert worden war. Der schlafende Wolfram hatte keine Chance gehabt. Er war von der Kiste erschlagen worden, ohne vorher wach geworden zu sein.

 

Zutiefst erschüttert ließ sich Nicolas zu Boden sinken. Der Kapitän ging zur Luke zurück und rief zwei seiner Leute herunter. Zu dritt gelang es ihnen, die Kiste von dem Leichnam herabzuziehen. Wolframs Brustkorb war wohl von der schweren Last zerquetscht worden. Er musste sofort tot gewesen sein. Langsam kam Nicolas wieder zu sich und schaute mit stummem Entsetzen auf das Bild, das sich ihm bot. Doch obwohl ihn der Tod des Ritters tief berührte, galt sein erster Gedanke der Tatsache, was nun aus ihm selbst werden würde. Verstohlen schaute er auf den Anführer des Schiffes. Auf ein fast unmerkliches Zwinkern ihres Herrn hin, packten die zwei Kerle Nicolas grob an den Armen und rissen ihn in eine Ecke. Dort hielt der eine ihn fest, während der andere dem Schiffseigner half, Wolfram die Rüstung vom Leib zu zerren. Den Leichnam des Ritters wickelten sie in eine Leinwand und hievten ihn die Leiter hinauf an Deck. Nicolas wurde hinterher geschleift, immer noch hielt ihn der Matrose fest im Griff.

„Du dich jetzt verabschieden von Herrn“, sagte der Anführer in schlechtem Französisch. „Wir schnell ihn begraben in Meer, bevor Unheil an Bord“. Nicolas war zu verstört, um Einspruch erheben zu können. Stumm ließ er sich neben dem Ritter auf die Knie sinken. Als er sich nicht rührte, stieß ihn der Kapitän unsanft mit dem Fuß in die Seite. „Los du“, stieß er rau hervor. „Wir hier nicht ewig Zeit.“

Leise begann Nicolas das Vaterunser zu beten, wie ganz von selbst bewegten sich seine Lippen, konnte sein Gehirn das Unfassbare noch gar nicht verarbeiten. Als er verstummte, packten die Gehilfen des Kapitäns den Ritter und wuchteten ihn unsanft wie einen Sack Lumpen über die Schiffswand. Ein lautes Klatschen, dann war Wolfram für immer in seinem nassen Grab versunken.

„Du gehen unter Deck. Ich dich holen, wenn da.“ Die Worte des Kapitäns drangen nur mühsam zu Nicolas vor. Wie in Trance bewegte er sich auf die Luke zu und stieg die Leiter hinunter. Über ihm wurde die Tür zugeworfen und Dunkelheit hüllte ihn ein. Was sollte jetzt bloß werden? Die Reisepläne waren im Kopf von Wolfram gewesen. Er hatte ihm nur wenig erzählt, da er Nicolas immer als eine Belastung empfand, die ihm aufgebürdet worden war. Ob Dietrich noch in Jerusalem weilte? Er musste unbedingt dorthin gelangen, koste es was es wolle.

Im Finstern begann er um sich her den Boden abzutasten. Dann stieß seine Hand an das Bündel, das er hier unten gelassen hatte. Sich daran orientierend kroch er an der Wand entlang bis er auf ein neues Hindernis stieß. Etwas Feuchtes war unter seinen Händen zu spüren, und mit Entsetzen ging ihm auf, dass dies das Blut von Wolfram sein musste. Den Gedanken verdrängend, tastete er weiter. Irgendwo hier mussten noch die Sachen Wolframs liegen. Die Rüstung und das Schwert hatten die Kerle an sich genommen, doch den Sack mit den wenigen Kleidern des Ritters und dem Proviant liegen gelassen. Und da, es fühlte sich wie derbes Leinen an. Er strich mit den Händen darüber. Jetzt fand er die Öffnung und langte hinein. Und in der Tat war es Wolframs Habe, die sich darin befand. Doch noch etwas ertastete er: einen Dolch und, was noch viel schwerer wog, einen kleinen Beutel mit Münzen. Schnell nahm er die Sachen an sich und robbte zurück, bis zu seinem eigenen Bündel. Er schnürte es mit Wolframs zusammen, die Münzen steckte er in sein Wams. Was gäbe er jetzt darum, das Schwert und das Kettenhemd seines Ritters zu besitzen.

Nach schier endloser Zeit wurde die Luke über ihm wieder geöffnet. Einer der Gesellen, die ihn zuvor festgehalten hatten, erschien auf der Leiter und warf ihm ein kleines Päckchen zu. Im schwachen Schein des hereinfallenden Tageslichtes wickelte Nicolas es aus. Darin fand er einen Kanten helles Brot und ein kleines Stück weißen Käses zusammen mit einigen Früchten, die ihm völlig unbekannt waren, aber einen köstlichen Duft verströmten. Der Kerl erschien wieder in der Luke. Diesmal stieg er einige Sprossen herab und hielt Nicolas einen Krug hin. Als der ihn entgegennahm, stieg ihm der Geruch sauren Weins in die Nase. Doch war das besser als nichts, hatte er doch schon seit fast anderthalb Tagen nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Erst jetzt merkte er, wie taumelig ihm schon war vor Hunger und vor allem vor Durst.

Die Luke wurde wieder geschlossen und von neuem hüllte Nicolas Finsternis ein. Er wickelte sich in seinen Umhang und umklammerte sein Gepäck. Nicht noch einmal wollte er unvorbereitet irgendwohin gezerrt werden, ohne seine Sachen bei sich zu haben.

So verging der Tag. Nicolas hörte hin und wieder Gemurmel. Die barsche Stimme des Schiffseigners rief Befehle, dann war wieder vollkommene Stille. Wahrscheinlich war es inzwischen Nacht geworden. Nicolas döste stundenlang vor sich hin, bis ihn der Schlaf übermannte. Ein heller Lichtstrahl weckte ihn. Jemand hatte die Luke erneut geöffnet und die Sonne, die hoch am Himmel stand, schien ihm direkt ins Gesicht. Laute Geräusche drangen in den Schiffsbauch herunter. „Komm“, sagte eine barsche Stimme, das Gesicht des Kapitäns erschien daraufhin in der Luke. „Wir in Aslan Limani .“ Dann verschwand das Gesicht wieder, worüber Nicolas nicht unbedingt betrübt war. Langsam stieg er die Leiter herauf, das grelle Licht der Sonne blendete ihn zunächst. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Sie waren in den Hafen von Aslan Limani eingefahren. Es herrschte bereits reges Treiben auf der Dau, Waren wurden heruntergeschafft und neue heraufgeladen. Niemand beachtete Nicolas. Vollkommen unbehelligt verließ er das Schiff. Am Kai schaute er um sich. Es war zwar ein recht weites Hafenbecken. Auch lagen noch andere Schiffe vor Anker, aber nur kleinere Handelsboote und Schiffe, die an der Küste entlangfuhren. Keine größere Brigg oder Galeere waren zu sehen. Kein Schiff, das ihn hätte weiter bringen können an die syrische Küste.