Zeit der Könige

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Kapitel 3

Das Licht mehrerer großer Kerzen beleuchtete flackernd den Sarg, in dem der Leichnam Isberts von Lichtenwalde aufgebahrt lag. Seinen Körper verhüllte ein dunkler, hoch geschlossener Mantel. Auf dem Kopf trug er einen leichten Helm, der ihm bis in die Stirn gezogen war, so dass man seine schwere Verletzung kaum noch sehen konnte. Seine Züge wirkten friedlich, als ob er schliefe. Er hatte schon vor dem Kampf Frieden mit seinem Schöpfer geschlossen und das unausweichliche Ende des fürchterlichen Streites als Gottesurteil angenommen. In seinen Händen hielt er sein Schwert. Der Markgraf hatte bestimmt, dass es ihm mit in das Grab gegeben werden sollte, wohl aus Reue darüber, das Leben dieses edlen Mannes vergeudet zu haben.

Am Fußende des Sarges lag Lioba im stillen Gebet. Nicolas schlich sich leise heran. Keiner sollte sehen, wie schwer es ihm fiel, seine Tränen zurückzuhalten, am allerwenigsten seine Mutter, für die er nur noch Verachtung empfand und die ihm kein Trost sein konnte. Doch sie spürte seine Anwesenheit und hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Nicolas hielt die Luft an, als er die tränenfeuchten Augen seiner Mutter sah, die ihn stumm um Vergebung anflehten. Nicolas wandte sich ab und beugte sich über den Sarg seines Vaters. Hier verharrte er einen Moment im stillen Gebet für die Seele des Toten – er schwor sich, dass es sein letztes sein würde, dass er jemals gen Himmel sandte – dann küsste er den Ring an dessen rechter Hand, der das Wappen der Familie Lichtenwalde trug, und rannte aus der Kapelle. Seine Mutter sollte er nie mehr wiedersehen.

Im Stall wartete auf ihn Konrad von Blankenau, ein zehnjähriger Knabe, den Isbert von den Ländereien seines Vaters Markward mitgebracht hatte. Der Knabe war der Nachkomme fränkischer Siedler, die dem Ruf Barbarossas gefolgt waren und zusammen mit vom Kaiser eingesetzten Adligen den dunklen Urwald in dem wilden Gebirge an der Grenze zu Böhmen besiedelten. Konrads Vater war ein Dienstmann Markwards, und verwaltete ein kleines Gut nahe der reichsfreien Stadt Chemnitz. Doch Blankenau war arm und konnte kaum eine Familie ernähren, geschweige denn das Erbe von drei Söhnen sein. So war Konrad zum Dienst bei Isbert bestimmt worden, der ihn als Page mit sich nach Meißen nahm. Hier ließ er ihn zusammen mit seinem Sohn von seinem eigenen alten Waffenmeister Tassilo erziehen, der schon unter dem Vater Markgraf Albrechts diese Aufgabe innehatte. Ein anderer Bruder Konrads war Novize im Kloster Altzella. Sein ältester Bruder Wisbert würde später einmal den Gutshof erben.

Konrad schaute Nicolas ängstlich an. Er wusste nicht so recht, was er dem älteren Jungen sagen sollte, der gerade seinen Vater verloren hatte.

„Hast du schon die Pferde gefüttert, Konrad?“ fragte Nicolas etwas barsch. Froh darüber, dass sein Freund von so etwas Banalem, wie dem Füttern von Pferden, anfing, nahm er ihm den Tonfall nicht übel.

„Ja, auch Basilius, das Pferd deines Vaters. Aber Falk hat gesagt, Basilius gehöre jetzt dem Markgrafen.“ Konrad warf dem Älteren einen unsicheren Blick zu. „Ich hatte Zeit, das Pferd zu füttern“, fügte er schnell hinzu, als er sah, dass Nicolas protestieren wollte. „Was meinst du, Nico, ob der alte Hohnsberg uns heute mitnimmt, wenn er mit den Rekruten nach Helmsdorf auf die große Wiese reitet?“ Schon öfters waren die beiden Jungen mit den Rekruten geritten, auch wenn ihre Ausbildung zum Knappen noch nicht begonnen hatte. Sie waren Pagen am Tisch des Markgrafen. Doch Tassilo sah es gern, wenn die Knaben der Ausbildung der jungen Krieger zuschauten. So konnten sie schon einiges über das Waffenhandwerk lernen. Auch wurde es nun langsam Zeit, dass Nicolas seine Ausbildung zum Knappen begann. Tassilo hatte Nicolas bereits vor Wochen versprochen, mit dessen Vater zu reden. Nun hatte sich alles geändert. Nicolas fragte sich, wer wohl von nun an über seine Geschicke bestimmen würde. Er hatte in dieser Sache bestimmt kein Mitspracherecht. Er wünschte sich fort von hier, in die fernen Wälder, von denen Konrad manchmal mit so viel Wehmut sprach. Ob er diese jemals sehen würde? Wie herrlich wäre es, mit Basilius unter den hohen Bäumen dahinzupreschen, dem Rauschen des Windes in den lichten Wipfeln zu lauschen. Er kannte nur die kleinen Gehölze, die am Ufer der Elbe standen. Zwar wurde er in der Stadt Freiberg nahe des großen Dunkelwaldes geboren, aber seine Eltern folgten bald dem Ruf Ottos des Reichen an dessen Hof, wo sein Vater zunächst in den Diensten des alten Markgrafen stand. Es war eine Ehre gewesen, die der Familie von Lichtenwalde anheimgefallen war. Oft erzählte der Vater ihm davon, dass sein Großvater ein enger Vertrauter des deutschen Kaisers Barbarossa gewesen war und dieser ihm reiche Ländereien unweit von Freiberg bis hin zum dunklen Wald für dessen Verdienste zum Lehen gegeben hatte. Nach dem Tod des alten Marquard erbte sein Vater all das, doch war diesem nie die Zeit geblieben, sich selbst um die Besitzungen zu kümmern. So übernahmen diese Aufgabe wiederum Lehnsmänner. Einer von ihnen war Konrads Vater.

„Nein, ich glaube nicht, dass er das tut“, antwortete Nicolas nach einer Weile.

„Was tut?“ fragte Konrad verwundert, der schon wieder ganz anderen Gedanken nachhing und eigentlich gar keine Antwort mehr auf seine Frage erwartet hatte.

„Ich meine, dass er uns mitnimmt, auf die Wiese. Der Markgraf erwartet heute einen Gesandten vom König. Das habe ich in der Küche gehört. Dort backen und braten sie schon seit dem frühen Morgen. Da werden wir bei Tisch bedienen müssen. Eigentlich habe ich auch gar keine Lust auf irgendwelche Kämpfe… nicht heute.“ Nachdenklich starrte Nicolas auf das Stroh, was vor ihm in den Boxen lag.

„Du warst in der Küche? Was wolltest du dort? Warum hast Du der Köchin nicht ein paar Küchlein vom Blech stibitzt? Der Hirsebrei am Morgen war wieder ohne Honig. Ich glaube, die junge Markgräfin wollte uns für unsere Sünden bestrafen.“

„Konrad, was glaubst du…Ich hatte heute morgen bestimmt keine Gedanken für deine Kuchen“ brauste Nicolas auf. „Was sagst du da?, fuhr er etwas milder fort. „Die Markgräfin hat Euch für Eure Sünden bestraft? Warum? Was haben die armen Stallknechte getan?“

Konrad schaute zu Boden und wagte nicht, den Blick zu Nicolas aufzuheben. „Sag es mir, Konni. Warum? Was für Sünden?“

„Ich habe gehört, wie die alte Berthe, die den Morgenbrei bringt, zu einer der Mägde gesagt hat, es sei eine Schande, dass ein so tapferer Ritter wie Isbert umkommen musste, nur weil ein dahergelaufener Galan nicht seinen Hosenlatz zulassen kann. Und die Knechte im Stall hätten auch noch zugeschaut, anstatt die beiden aus dem Stroh zu jagen.“ Nicolas schnappte nach Luft.

„Was ist los Nico? Weißt du, was sie gemeint hat?“

Der Ältere strich dem Knaben mit der Hand über die blonden Locken und nickte langsam. „Du würdest es nicht verstehen.“ Aber er, er verstand es, er wusste, was sie gemeint hatten. Auch wenn er erst zwölf Jahre alt war. Oh, wie er seine Mutter hasste.

Stimmengewirr riss Nicolas aus seinen Gedanken. Die Knappen, welche unter Tassilos Aufsicht standen, kamen, um ihre Pferde zu holen. Ein hochgewachsener Jüngling betrat als erster den Stall. Sein langes schwarzes Haar war zu einem losen Zopf geflochten und fiel ihm weit über den Rücken. Seine dunkelblauen Augen glitzerten im Licht der Stalllaterne kalt wie Stahl. Als er Nicolas sah, blieb er unvermittelt stehen und musterte ihn mit einem Anflug eines boshaften Lächelns. Obwohl nur zwei Jahre älter als Nicolas, überragte er diesen bereits um mehr als einen Kopf. In wenigen Jahren würde er zu einem stattlichen Mann herangewachsen sein. Doch ging von ihm bereits jetzt eine Kälte aus, die einen schaudern machte.

„Hallo Falk“ rief der kleine Konrad. „Ich habe dein Pferd bereits mit Zaumzeug versehen, du musst nur noch den Sattel auflegen.“ Konrad schaute voller Erwartung eines Lobes zu Falk auf. Falk dankte ihm mit einem kurzen Nicken und nahm den Sattel vom Haken an der Wand der Box. Dabei ließ er Nicolas nicht aus den Augen.

„Wieso machst du das, Konrad? Du stehst in Diensten meiner Familie, nicht in seiner!“ rief Nicolas heftig. Ein höhnisches Auflachen Falks ließ ihn seinen Ausbruch sofort bereuen.

„Welche Familie, armer Nicolas? Deine Familie hat heute früh aufgehört zu existieren. Schon vergessen?“

Blind vor Wut stürzte sich Nicolas auf den Älteren. Dieser hatte den Angriff vorausgesehen und bevor Nicolas ihn erreichte, versetzte er ihm schon einen Schlag, der ihn in die Box zurücktaumeln ließ.

Doch Nicolas wollte nicht klein beigeben. „Falk von Schellenberg, wer gibt dir das Recht dazu, so zu reden? Was weißt du schon von meiner Familie oder davon, was passiert ist?“

„Genug, um zu wissen, dass du den Dreck unter meinen Stiefeln nicht wert bist“ entgegnete Falk kalt und wandte sich ab, um sein Pferd zu satteln.

Die anderen Zöglinge, die nach Falk in den Stall gekommen waren, lauschten mit betretenem Schweigen dem Wortwechsel zwischen Falk und Nicolas. Doch keiner wagte es, ein Wort für Nicolas einzulegen. Selbst die älteren verspürten keine Lust, sich mit dem Schellenberger anzulegen. Trotz seiner vierzehn Jahre war er bereits sehr kräftig und hatte schon manchem von ihnen eine blutige Nase geschlagen. Auch gehörte seine Familie zu den mächtigen Reichsministerialen, die Kaiser Barbarossa zur Erweiterung seines Reiches im Osten eingesetzt hatte. Sie besaßen gewaltige Ländereien am Fuße des Dunkelwaldes nahe der reichsfreien Stadt Chemnitz. Falk wusste, dass er sich alles erlauben konnte, solange nur sein Lehrer Tassilo von Hohnberg nicht in der Nähe war. Falk zog den Sattelgurt fest und führte das Pferd aus dem Stall, ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen.

 

Die jungen Rekruten machten jetzt ihre Pferde bereit, um auf der nahen Wiese mit ihren Waffen zu trainieren. Einer nach dem anderen verließ den Stall, ohne ein Wort an Nicolas zu richten. Höchstens heimliche verstohlene Blicke warfen sie ihm zu, manche gepaart mit einem boshaften Lächeln, aber auch Blicke des Mitleides und der Entrüstung. Nicolas entging keiner dieser Blicke, und er prägte sie sich sehr genau ein. Schon jetzt wusste er wohl unter Freund und Feind zu unterschieden.

Da spürte er den vagen Druck einer Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich langsam um. Hinter ihm stand Thilo von Jessen, ein Knabe, kaum älter als er, erst seit wenigen Wochen unter der Aufsicht Tassilos. Bis vor kurzem hatten sie noch gemeinsam an der Tafel des Markgrafen gedient, dann war Thilo zum Knappen berufen worden. Jetzt stand Thilo hinter ihm und blickte ihn entschuldigend an. „Vergiss, was er gesagt hat, Nico. Du weißt, wie arrogant er ist. Er glaubt, etwas Besseres zu sein, weil sein Vater in der Gunst Albrechts ganz oben steht. Aber, glaube mir, die Jungen sind nicht alle so. Sie haben nur Angst vor ihm.“

„Und du, hast du auch Angst vor ihm? Wirst du mich auch verachten, wie die anderen?“

„Ja, ich habe auch Angst vor ihm. Und, nein, ich verachte dich nicht, Nico. Genauso wenig, wie dich Konrad oder Ragin meiden werden. Aber Angst, ja Angst habe ich schon. Wer hätte das nicht, die ihn so gut kennen, wie wir? Die wissen, wozu er fähig ist? Wenn du einen Blick in die Hölle tun willst, dann schaue in seine Augen. Doch eines Tages wird sich unsere Furcht in Vorsicht wandeln. Und diesen Tag werden wir gemeinsam erleben, Nico. Aber bis dahin brauchen wir noch viel Kraft. Du solltest sie nicht in sinnlosen Versuchen, gegen den Schellenberger aufzutrumpfen, vergeuden. Spare sie auf. Der Tag der Abrechnung wird kommen.“ Thilo wollte sich zum Gehen umwenden. Doch Nicolas hielt ihn zurück. „Wenn du meinst, in die Hölle zu blicken, wenn du in seine Augen schaust, dann, glaube mir, siehst nur den Vorhof zu ihr. Die Hölle wird das sein, was ich denen bereite, die mir das hier angetan haben. Vater- und letztendlich auch mutterlos, ein Ausgestoßener aus dieser Welt, habe ich eh nicht viel zu verlieren.“ Nicolas nahm Konrads kleine Hand und zog ihn hinter sich her in die kalte Herbstluft hinaus. Drinnen im Stall näherte sich ein völlig verstörter Ragin von Riesenburg dem erschrocken dreinblickenden Thilo. Der hob nur abwehrend die Hand und hinderte mit einer Geste den anderen daran, etwas zu sagen. Ragin machte das Zeichen des Kreuzes in Richtung der Tür, durch die Nicolas hinausgegangen war. Er war etwas älter als die anderen Jungen, und es erschütterte ihn, einen Zwölfjährigen solcherlei Reden führen zu hören. Er würde bald seinen Ritterschlag erhalten und dann endgültig in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Aber dieser Knabe hier, hatte nach den traumatischen Ereignissen des Morgens nichts Kindliches mehr an sich. Er war bereits älter, als sie alle zusammen.

Tassilo von Hohnberg war gerade auf dem Weg in den Hof, als er den beiden Knaben begegnete. Nicolas hatte nach wie vor Konrads kleinere Hand in der seinen, so als wolle er diesen nie mehr gehen lassen, als würde er sich mit aller Macht an diesem einen, noch völlig unvoreingenommenen und arglosen Freund festhalten. Die Jungen machten eine etwas schüchterne Verbeugung vor Tassilo, zollten sie ihm doch großen Respekt.

„Ah Nicolas, ich nehme an, ihr geht in die Halle, um am Tisch zu bedienen, wenn der Gesandte des Kaisers kommt. Gut.“ Er zögerte einen Moment. Dann legte er Nicolas eine Hand auf die Schulter. „Du weißt, dass es mir leid tut, Nico“ begann er. „Doch es ist nun mal geschehen. Und dein Leben geht weiter, so ist der Lauf der Welt. In einigen Tagen wirst du anfangen, über deine Trauer hinwegzukommen. Sag mir Bescheid, wenn es so weit ist. Es wird der Tag sein, an dem ich dich unter meine Fittiche nehme.“ Damit wollte er weitergehen, da er nicht so recht wusste, wie er einem Halbwüchsigen Trost zusprechen sollte, wo Worte kaum helfen konnten. Doch dann blieb er verblüfft stehen, als Nicolas antwortete. „So sei es. Und Ihr könnt gewiss sein, der Tag wird bald kommen. Auch wenn meine Trauer jetzt groß ist und sicher nie ganz vergehen wird, das beste Mittel dagegen wird sein, sich darauf vorzubereiten, die Tore der Hölle zu öffnen. Und wehe denen, die sich dann davor aufhalten.“ Nicolas nahm abermals Konrads Hand in die seine und ging in Richtung Saal. Tassilo von Hohnsberg verspürte einen Stich in der Brust. Sicher war es der grenzenlose Schmerz, der den Jungen solche Worte in den Mund legte. Aber er befürchtete auch, dass der Knabe für Gott verloren war, wenn nicht irgendwann ein großes Wunder geschehen würde. Doch bis dahin wollte er alles tun, um ihn zu beschützen.

An der Tür zum Rittersaal fragte Konrad: „Was wird denn aus mir, wenn du jetzt keine Familie mehr hast? Mein Vater ist doch ein Lehnsmann der Lichtenwalder. Aber dein Vater lebt nicht mehr, und du...“ Tränen erstickten seine Stimme.

„Hör mir gut zu.“ Nicolas packte den armen Konrad an den Oberarmen, dass dieser vor Schmerz zusammenzuckte. Er lockerte daraufhin seinen Griff etwas. „Ich werde dich niemals verlassen, Konni, wenn auch du mir versprichst, mir immer treu zur Seite zu stehen. Doch eines merke dir. Du sollst mir nicht dienen, wie ein Knecht seinem Herrn, oder so wie wir dem Markgrafen. Du sollst mein Freund sein. Und wenn du mir einen Gefallen erweist, dann soll dieser von Herzen kommen und weil du es so willst. Verstehst du das, Konni?“ Konrad zögerte einen Moment, als müsste er das Gehörte erst verarbeiten. Dann breitete er, einem Impuls folgend, seine dünnen Arme aus und warf sie dem Älteren um den Hals. „Ich werde immer dein Freund sein, Nico. Immer!“

Auf der anderen Seite des Hofes stand Falk von Schellenberg bei seinem Pferd. Die Knappen hatten sich bereits versammelt, um hinter Tassilo von Hohnsberg aus der Burg zu reiten. Falk warf einen schnellen Blick zu den beiden Jungen hinüber, bevor er sich auf sein Pferd schwang und den anderen nachdenklich folgte.

Die Monate am fürstlichen Hof vergingen. Ein Tag glich förmlich dem anderen, ausgefüllt mit den Pflichten an der Tafel des Markgrafen und dem Dienst bei dem jeweiligen Ritter, dem die Pagen später als Knappen zugeteilt werden sollten.

Nicolas lebte in der Familie des Herrn von Auenstein, die eines der Häuser in der Burggasse, welche den erzbischöflichen Teil der Burg und den des Markgrafen miteinander verband, bewohnte. Die Gemahlin Wolfram von Auensteins, Trudis, hatte Nicolas mit offenen Armen empfangen. Sie war eine sehr gutherzige Frau. Außer zwei Töchtern, von denen Maria, die ältere, einen Ritter Dietrichs geheiratet hatte und mit diesem auf der Burg Weißenfels lebte, hatte sie noch einen Knaben, der dem Kleinkindalter gerade entwachsen war. Die jüngere ihrer Töchter, Gerlind, war in das Kloster Heilig Kreuz elbabwärts zur Ausbildung gegeben worden.

Man schrieb nun bereits das Jahr des Herrn 1193. Am Tag vor dem Weihnachtsfest sollte für viele der am Hofe und auf den umliegenden Adelshöfen lebenden Pagen im Dom zu Meißen die Erhebung zum Knappen stattfinden. In der Burg, in den angrenzenden Gassen des Domviertels und in den vornehmen Gasthäusern unten in der Stadt wimmelte es förmlich von Besuchern. Die Eltern und Verwandten der Pagen waren schon Tage zuvor angereist, um dem Spektakel ihrer Sprösslinge beizuwohnen.

Auch Nicolas sollte heute endlich zum Knappen des Herrn von Auenstein erhoben werden.

Vor zwei Monaten war er vierzehn Jahre geworden und damit älter als die meisten anderen Knaben. Endlich endete seine Zeit als Page.

Nicolas freute sich darauf, in den Kreis der Kämpfer aufgenommen zu werden. Zusammen mit ihm warteten fünfzehn andere aufgeregte Knaben, am Abend im Dom das traditionelle, vom Bischof persönlich gesegnete, Kurzschwert zu erhalten, unter ihnen sein neuer Freund Modorok. Da beide keine Anverwandten besaßen, war es die alte Markgräfin Hedwig gewesen, die sich der Jungen angenommen hatte.

Modorok war nach dem Tode seines Bruders, einem Dienstmann Dietrichs in dessen Burg Weißenfels, vor einem Jahr nach Meißen gekommen. Er besaß, genauso wie Nicolas, niemanden auf der Welt, der sich um ihn scherte, und so hatte Hedwig auch ihn unter ihre Fittiche genommen.

Der Dom war erhellt von einem Meer teurer Kerzen, die der Markgraf eigens für diesen Anlass gestiftet hatte. Die Jungen betraten in einer Reihe hintereinander das Gotteshaus und schritten langsam vor den Altar. Hier knieten sie nieder, während der Bischof sie segnete. Die Kurzschwerter lagen auf einem bereitgestellten Tisch, auch hier hielt der Geistliche seine Hand segnend darüber. Dann traten die Jungen einzeln vor, um das Schwert zusammen mit einem eisernen Helm und einer Streitaxt oder Keule zu empfangen. Im Anschluss daran begaben sie sich zu ihren Familien, die der Zeremonie von den Kirchenbänken aus gespannt zusahen. Nicolas und Modorok gingen stolz zu ihren Sitzen neben der alten Markgräfin. Auch die Auensteiner hatten dort Platz nehmen dürfen, worüber sich Nicolas sehr freute, da es jetzt die einzige Familie war, die er die seine nennen konnte.

Im Anschluss an die Zeremonie las der Bischof eine Messe, die bis weit nach Mitternacht dauerte, denn in dieser Nacht feierte man die Geburt des Herrn.

Kapitel 4

Burg Meißen

März 1194

Die Sonne sandte ihre späten Strahlen durch das wirre Geäst der kahlen Bäume, die das Ufer gegenüber der Burg säumten. Auf den Steinen unweit der Brücke hockte eine zusammengesunkene Gestalt und starrte reglos auf den Fluss. Von seinem Fenster aus konnte Nicolas genau sehen, wie sich der Einsame hin und wieder mit dem Ärmel über das Gesicht wischte. Beim genaueren Hinschauen fielen ihm die roten ausgeblichenen Beinkleider auf, die unter der braunen Tunika hervorlugten. Trotz der Entfernung wusste Nicolas, wer dort am Ufer saß. Einem Impuls folgend, wollte er sich vom Fenster abwenden, um hinunter zu eilen und seinem Freund Gesellschaft zu leisten. Da sah er aus dem Schatten der Bäume heraus die unverkennbare Gestalt Falks von Schellenberg auf den Sitzenden zugehen. Nicolas runzelte die Stirn. Was wollte der Schellenberger von Modorok? Er schwankte hin und her, im Zweifel, ob er zu dessen Unterstützung eilen oder aber die Situation vom Fenster aus beobachten sollte. Von hier aus konnte er nicht hören, was die beiden miteinander sprachen, aber er sah, dass Falk heftig gestikulierte und schließlich sogar mit dem Stiefel gegen Modoroks Bein trat, was diesem allerdings keinerlei Reaktion entlockte. Modorok war groß gewachsen für sein Alter. Und schon jetzt zeichnete sich ab, dass er einmal sehr kräftig werden würde. Sein dunkelblondes Haar, das ihm in Wellen auf die Schultern fiel, wirkte immer etwas zerzaust. Seine schönen Augen, in denen sich oft eine große Traurigkeit widerspiegelte, die aus den Tiefen seiner Seele zu kommen schien, waren grün wie die großen Wälder seiner Heimat.

Jetzt hatte Nicolas genug. Da es bitterkalt draußen war, schnappte er sich seinen Umhang, der auf einem Stuhl lag und rannte die Stufen des Turmes hinunter. Die kleine Tür am Fuße der Treppe ließ sich nur schwer öffnen, da sie vom Alter und der feuchten Witterung verzogen war. Ungeduldig warf sich Nicolas mit Gewalt dagegen, einmal, zweimal. Endlich gab sie nach und Nicolas wurde zusammen mit der Tür schwungvoll nach draußen geworfen. Sich krampfhaft an den Türknauf klammernd, fing er sich aber sogleich wieder, straffte seinen Rücken und rannte über den Hof auf das Tor zu. Doch er kam nicht allzu weit, die Markgräfin hatte beschlossen, noch vor der Abenddämmerung mit ihren Hofdamen dem Dom einen Besuch abzustatten. Nicolas fluchte leise, musste er jetzt vor den hohen Damen halten, ihnen seine Referenz erweisen und warten, bis sie weiter ihres Weges gingen. Doch die Markgräfin hatte andere Pläne. Zu selten kam sie aus ihrer Kemenate in den Hof, und da sie der Meinung war, immer und überall genau Bescheid wissen zu müssen, darüber, was vor sich ging, warf sie ihren durchdringenden Blick auf Nicolas. Dieser schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich von dem Schrecken zu erholen, der ihn durchfuhr, als die Gräfin ihn fixierte. Zu grausam waren die Erinnerungen, die ihm der Anblick dieser Frau bescherte. Der Blick aus ihren stechenden grauen Augen, welche gleichsam über ihrer viel zu langen spitzen Nase zu schweben schienen, kam ihm einem Blick der Medusa gleich. Der verkniffene Mund der Markgräfin verzog sich zu einem nahezu sardonischen Lächeln. Nicolas schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Bilder zu verscheuchen. Jetzt schaute sie nur noch verächtlich drein, was ihn aber keineswegs beruhigte. Erst kürzlich war sie der Meinung gewesen, Nicolas habe es ihr gegenüber an der entsprechenden Demut fehlen lassen. Im Ergebnis dieser Anschuldigung war sein alter Lehrmeister Tassilo von Hohnberg gezwungen, ihm im Beisein der anderen Knappen mit der Peitsche zehn kräftige Hiebe zu erteilen. Dann musste er die ganze Nacht am Pranger verbringen, wie ein gemeiner Dieb. Erst am Morgen war Falk von Schellenberg gekommen und hatte ihm die Fesseln gelöst, nicht ohne ein hämisches Grinsen und mit einem eindeutigen Ausdruck von Genugtuung in den Augen.

 

Nicolas beschloss, seinen Blick zu senken und wartete mit größter Unterwürfigkeit darauf, dass die Gräfin ihn ansprach.

„Was spionierst du hier herum, Bursche? Hast du nichts Besseres zu tun, als hochedle Damen zu erschrecken oder gar niederzurennen? Ich werde ein Wort mit deinem Lehrmeister sprechen, damit er dir Respekt beibringt“, keifte sie ihm entgegen. Nicolas ballte die Fäuste unter seinem Umhang. Noch einmal ließ er sich nicht demütigen, nicht von dieser Frau und auch von keiner anderen. Zu viel hatte er schon gelitten an diesem Hof Markgraf Albrechts. Ein Jahr noch, dann war seine Ausbildung beendet, dann könnte er fortgehen von hier, auch wenn dies Armut und den Verlust seines Lehens bedeuten würde. Aber letzteres hatte der Markgraf ja sowieso schon eingezogen, obwohl er immer behauptete, er würde es nur für Nicolas verwalten.

Doch schien das Glück diesmal auf seiner Seite. Es erschien in Gestalt Dedo von Wißlingens, der auf der Suche nach der Gräfin war.

„Hochedle Frau, der Markgraf schickt mich. Es ist ein Bote eingetroffen mit allerwichtigsten Nachrichten. Der Markgraf sagt, Ihr sollt Eure Andacht verschieben, er müsse sofort mit Euch sprechen, da er den Boten unverzüglich wieder zurückschicken muss.“

Sophie wollte schon zu einer barschen Erwiderung ansetzen, was dem Ritter einfallen würde, sie auf dem Gang zu ihrer Zwiesprache mit Gott aufzuhalten. Dann fiel ihr ein, dass der Markgraf von weitreichenden politischen Ereignissen gesprochen hatte, die auf das Reich zukämen. Ihre Neugier und wohl auch ihre Angst vor dem Unmut des Gatten, wenn sie seiner Aufforderung nicht nachkam, ließ sie innehalten. Sie neigte leicht den Kopf, raffte ihre Röcke und ging wortlos an Hugo vorbei in Richtung Palas, in der Gewissheit, dass ihr ihre Damen folgten. Doch Hugo war kein Mann, der sich so leicht einschüchtern ließ, schon gar nicht von einer Frau, auch wenn es die Markgräfin höchstpersönlich war. Immerhin gehörte er zu den Vertrauten Albrechts, was ihm, wenn schon nicht den Respekt, so doch ein gesundes Maß an Vorsicht seitens der Mitglieder des markgräflichen Hofes einbrachte.

„Verzeiht, hohe Frau, wenn ich Eure Damen zurückhalte. Doch der Markgraf wünscht Euch allein zu sprechen. Die Damen sollen ihre Andacht fortsetzen…man wird ihnen eine Begleitung schicken. Ich habe den Befehl, Euch in die Burg zurückzubringen.“

Sophie verlangsamte ihre Schritte, doch war sie viel zu stolz, stehenzubleiben. Nichts weiter deutete daraufhin, dass sie ihn gehört hatte. Hugo verbeugte sich rasch in Richtung der Hofdamen und wies mit der Hand zum Eingang der Kirche. Dann eilte er hinter der Markgräfin her, die bereits ein gutes Stück auf den Palas zu weitergegangen war. Niemand nahm mehr Notiz von Nicolas, der sich langsam zum Tor hin verzog. Was mochte der Bote wohl für Nachrichten gebracht haben, die so dringend waren? Nicolas hörte so mancherlei Getuschel unter den Höflingen, wenn sie an der abendlichen Tafel saßen. Er war immer noch Wolfram von Auenstein als Knappe zugeteilt. So sah es die Ausbildung vor, jeder Zögling war einem Ritter des Hofes verpflichtet. Er musste ihm beim Training und bei Turnierkämpfen mit der Rüstung helfen, die Waffen sorgfältig pflegen und schärfen und bei der Tafel bedienen. Letzteres allerdings nur, wenn der gesamte Hof gemeinsam im großen Saal der Burg speiste. Und das kam zum Glück nicht allzu oft vor.

Am Tor winkte Nicolas dem Wächter zu. Dieser schaute verdutzt auf, als der Junge an ihm vorbeirannte. So kam ihm auch nicht der Gedanke, diesen aufzuhalten und zu fragen, wohin er so eilig wolle. Grummelnd schüttelte er den Kopf und versank wieder in seine eigenen Gedanken.

Modorok saß zusammengesunken auf einem Stein am Fluss. Es dauerte eine Weile, bis Nicolas den weiten Weg um den Burgberg herum geschafft hatte. Er befürchtete bereits, seinen Freund hier nicht mehr anzutreffen. Doch als er ihn jetzt so am Ufer der Elbe sitzen sah, verzögerte er seinen Schritt. Er wusste, das Modorok ein einsamer Junge war, der sich meistens in sich zurückzog. Er hatte nie viele Worte verloren, auch nicht als sein älterer Bruder Gero bei einem Scharmützel mit marodierendem Raubgesindel tödlich verwundet wurde. Nur wer ihn gut kannte, konnte ahnen, wie tief ihn der Verlust dieses letzten Verwandten getroffen hatte. Modorok war der Sohn einer Hofdame der alten Markgräfin Hedwig, die jedoch bei seiner Geburt gestorben war. Die Familie war, dem Rufe Barbarossas folgend vor vielen Jahren aus dem Harz in die Gegend von Freiberg gekommen, um hier im Dienste des Kaisers bei der Besiedlung neuer Gebiete im Dunkelwald zu helfen. Doch dann war sein Vater auf die Burg Weißenfels gegangen. Er wurde ein Dienstmann des Markgrafensohnes Dietrich. Zusammen mit diesem hatte er sich auf den Kreuzzug begeben, seinen jüngeren Sohn in der Obhut des älteren zurücklassend. Doch er kehrte nicht mehr zurück. Bei einem nächtlichen Überfall war er wenige Tage vor dem Tode Kaiser Barbarossas wie vom Erdboden verschwunden, und kein Mensch konnte sagen, ob er noch am Leben oder von den Sarazenen umgebracht worden war.

Die alte Markgräfin fragte zwar dann und wann nach dem Jungen; darüber hinaus kümmerte sie sich allerdings nicht weiter um ihn, soviel Interesse hatte sie nun auch wieder nicht an dem Sohn eines unbedeutenden Ritters.

„Modorok“, sagte Nicolas leise, so, als wolle er den Freund nicht erschrecken, obwohl er genau wusste, dass dieser ihn längst gesehen hatte. Ein kurzes Zusammenzucken von Modoroks Rücken zeigte ihm, dass der andere ihn gehört hatte aber dennoch in tiefe Gedanken versunken war. „Was wollte Falk von dir? Wollte er dir etwas antun?“, fragte er besorgt.

Modorok drehte sich mit einem heftigen Schnauben herum. „Warum, zum Teufel, glaubst du immer, alle Welt beschützen zu müssen? Wer hat dir die Rolle zugeteilt, für alles und jeden die Verantwortung zu tragen? Glaubst du, ich sei solch ein Schwächling, dass ich mich nicht gegen Falk von Schellenberg und seinesgleichen zur Wehr setzen könnte? Immer so edel und großherzig. Immer über allem stehend. Unverwundbar. Hah! Dabei bist du genauso ein armes Schwein wie ich.“

Nicolas zuckte verstört zusammen. Schätzte der Freund ihn wirklich so ein, dass er sich über andere erheben wollte und den Gönner spielte, nur um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten ablenken zu können? Hatte er vielleicht sogar recht damit? Nein, so war es doch nicht.

„Hör zu, Modorok, ich wollte dir nicht zu nahetreten. Ich glaubte nur, dass Falk vielleicht…“ Nicolas verstummte. Was sollte er auch sagen. Natürlich hatte er gedacht, Modorok könne sich nicht selbst verteidigen. Wie oft war es auch so gewesen, dass der andere sich dem stärkeren und rücksichtsloseren Schellenberger untergeordnet hatte. Aber ihm war nie der Gedanke gekommen, dass er es vielleicht aus Gleichgültigkeit getan haben könnte. Modorok war es schlichtweg egal, ob er der Stärkere war oder ein anderer. Während er, Nicolas, immer allen beweisen musste, dass er der Bessere war. Erst vor wenigen Tagen hatte er sich in seinem Ruhm gesonnt, dass er auf dem Übungsplatz den besten Freund von Falk von Schellenberg besiegte, einen üblen Burschen, der sich besonders durch seine Verschlagenheit auszeichnete. Ralf Blutaxt nannten die Knappen ihn, da er andere oft mit seiner Streitaxt verletzte. Ob dies nur aus Versehen geschah, wusste niemand so recht zu sagen, allerdings kamen so manchem darüber Zweifel.