Innen wachsen – außen wirken

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Nicht nur die wissenschaftlichen Ergebnisse sprechen diese Sprache, auch in unserem Alltagsleben ist dieser Wandel spürbar. Dass die Pegelstände großer Flüsse in den vergangenen Jahrzehnten gesunken sind, ist nichts Neues. In den letzten Sommern kam es durch die extremen Dürreperioden dazu, dass sie noch einmal deutlich weniger Wasser führten als sonst und sogar die Schifffahrt eingestellt werden musste. 2018 etwa hatte der Rhein als Deutschlands wichtigste Wasserstraße bei Düsseldorf zeitweise nur noch eine Fahrwassertiefe von weniger als zwei Metern.14 Neben dem Wasserverkehr musste in diesem Jahr auch die Landwirtschaft starke Einbußen hinnehmen. Die Hektarerträge deutscher Landwirte lagen bei Getreide um 16 Prozent niedriger als in den Vorjahren, und wer im damaligen Sommer per Auto oder Bahn quer durch Mitteleuropa unterwegs war, konnte sich von den vertrockneten Feldern selbst überzeugen.15

Neben den Feldern hat auch unser geliebter Wald massive Probleme mit den veränderten Temperaturen der letzten Jahrzehnte. Unsere hochgezüchteten Fichtenwälder wollen es eigentlich kühl und sondern bei zu starker Hitze ein Stresshormon ab, das wiederum den Borkenkäfer anlockt. In einer Monokultur voll von Fichten hat dieser dann ein leichtes Spiel und kann binnen einer Saison ganze Waldstriche dem Erdboden gleichmachen. Auch deshalb, weil er sich aufgrund längerer Wärmeperioden jährlich einmal mehr fortpflanzen kann, als dies früher der Fall war.

Unsere Normalität ist eine Krise

Klimawandel, Artensterben und Plastikverschmutzung sind nur drei von vielen Dutzenden Beispielen, die bezeugen, wie wir Menschen auf die Natur Einfluss nehmen und sie schädigen oder irreversibel zerstören. Im Anthropozän, dem Erdzeitalter des Menschen, haben wir bereits sieben von neun planetaren Grenzen überschritten und damit die Stabilität und Resilienz unserer Ökosysteme massiv gefährdet.16 Wer behauptet, dass unsere Normalität auch ohne Coronavirus einer einzigen Krise gleicht, der liegt also gar nicht so falsch.

Lange Zeit haben wir Menschen uns eingeredet, dass ökologische Probleme nur rein ökologische Folgen mit sich bringen und uns deshalb nicht unmittelbar zu kümmern brauchen. Somit wurde der Schutz der Natur eher als Benefit denn als Notwendigkeit, geschweige denn als etwas Selbstverständliches gesehen. In der Realität haben ökologische Probleme aber immer auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen zur Folge und betreffen uns damit ganz direkt. Als etwa die Ölbohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko nach einer Explosion versank, zerstörten die 800 Millionen Liter an austretendem Erdöl nicht nur das dortige Ökosystem.17 Auch Tausende von Fischern verloren ihre Existenz und der Tourismus und viele zuliefernde Betriebe mussten schließen.18

Wenn heute immer mehr Menschen aufgrund von Trockenheit, Unfruchtbarkeit, Wassermangel oder Waldrodung ihre bäuerliche Lebensgrundlage verlieren, dann machen sie sich auf und flüchten in andere Länder. Dies führt zu massiven Problemen in überfüllten Flüchtlingscamps und in der Folge auch zu sozialen Spannungen in unserer Gesellschaft, die, einfach formuliert, mit fremden Kulturen meist nicht wirklich umzugehen weiß.

Ökologische Katastrophen sind also eng mit sozialen und wirtschaftlichen Problemen verflochten und können zu Hunger, Armut, globaler Ungerechtigkeit oder im schlimmsten Fall zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Und was lange Zeit scheinbar nur auf fremde Länder zutraf, setzt sich mittlerweile auch bei uns immer weiter durch. Unser hiesiges Bienensterben führt auch zum Imkersterben und das wiederum bedroht die Existenz der ohnehin ständig unter Stress stehenden Landwirte. Der Borkenkäfer rodet nicht nur unsere Wälder, er führt auch viele Waldbesitzer in den Ruin. Und unsere durch Stickoxide und Feinstaub belastete Luft führte allein 2016 zu mehr als 400.000 Todesfällen innerhalb der EU.19

All diese Dinge wissen wir und finden sie bedenklich, tragisch oder sogar gefährlich. Doch gleichzeitig ist dies eben auch unsere akzeptierte Normalität. Solange es aber normal ist, unser Land in einzelne Monokulturen zu verwandeln, unsere Felder mit Gift zu bespritzen und unsere Luft mit Dutzenden Abgasen zu verunreinigen, so lange wird sich auch nichts ändern. Und so wird diese Normalität noch zu vielen weiteren Krisen führen und irgendwann unsere eigene Existenz bedrohen.

Wie aber könnte unsere Welt aussehen, wenn wir beginnen würden, diese geltende Normalität von ihrem hegemonialen Thron zu stoßen? Was wäre, wenn es ein neues »Normal« gäbe, das unsere Lebensgrundlagen nicht langfristig ruiniert? Und was, wenn es an uns läge, diese neue Normalität zu erschaffen?

1.2 Der globale Zustand als Spiegel unserer selbst

Im 21. Jahrhundert ist es die große Herausforderung unserer Spezies, wieder in Einklang mit der Natur zu kommen und sie in all unserem Tun mit zu bedenken. Damit uns dies als Kollektiv gelingt, braucht es die Anstrengung und Veränderung von jedem Einzelnen von uns. Wie wir bereits gesehen haben, ist unser Umgang mit der Natur eher von Zerstörung denn von Respekt und Miteinander geprägt. Die Verbindung zur Natur ist uns über weite Bereiche abhandengekommen, und viele Menschen haben darüber hinaus auch die Verbindung zu sich selbst verloren.

Könnte es also sein, dass es Parallelen gibt zwischen der Art, wie wir mit der Erde umgehen, und der Art, wie wir mit uns selbst umgehen? Könnte es sein, dass wir Menschen ähnlich kränkeln wie unser gesamter Planet? Wäre es möglich, dass der Zustand der Welt lediglich ein Spiegel für den inneren, geistigen und emotionalen Zustand der Menschheit ist? Wir sehen ein paar spannende Parallelen, die wir im Folgenden näher beleuchten wollen.

Burn-out im Menschen, Burn-out in der Natur

Beginnen wir mit der immerzu produktiven Marktwirtschaft. Ob diese wirklich produktiv ist, sei dahingestellt. Fakt ist, sie will es sein! Und da uns in unserer Kurzsichtigkeit nichts Produktiveres einfällt als eine Maschine, haben wir die gesamte Arbeitswelt auch entsprechend diesem Maschinen-Denken gestaltet. Nicht nur das, wir haben es sogar so weit gebracht, dass sich der heutige Mensch seine eigene Daseinsberechtigung erst verdienen muss. Es scheint, als wären wir nur dann wertvoll, wenn wir funktionieren, uns zu Tode arbeiten und dabei irgendetwas produzieren.

Mit diesem maschinellen »Funktionieren« in der Arbeitswelt geht die Tatsache einher, dass wir auch gesellschaftlich funktionieren müssen. Wir sollen brav sein, zur Arbeit gehen, unser Geld verdienen und es am besten allen anderen recht machen. Ob wir es dadurch auch uns selbst recht machen, steht oft nicht zur Debatte. Solche Bestrebungen beschreiben Psychotherapeuten wie der Deutsche Wolf Büntig als eine Dynamik, die man an der Basis aller psychosomatischen Krankheiten sieht.20 Und dass diese vor allem in der Arbeitswelt immer stärker zunehmen, ist seit dem Massenphänomen Burn-out kein Geheimnis mehr.

In einer 2019 veröffentlichten Studie mit rund tausend Erwachsenen wurde festgestellt, dass 19 Prozent der österreichischen Bevölkerung zumindest erste Anzeichen dieser Störung aufweisen, 17 Prozent sich in einem Übergangsstadium befinden und 8 Prozent als erkrankt gelten.21 Die Studienautoren erklären ferner, dass sich gemäß ihrer Forschung nur rund die Hälfte, 52 Prozent, als gesund betrachten können. Unser aktueller Umgang mit Arbeit lässt uns also ausbrennen und macht uns im schlimmsten Fall sogar krank. Zur Erklärung: »Ein Burn-out ist ein emotionaler, geistiger und körperlicher Erschöpfungszustand nach einem vorangegangenen Prozess hoher Arbeitsleistung, Stress und/oder Selbstüberforderung.«22

Die Analogie zur Natur ist in diesem Fall recht einfach zu sehen. Auch unser Planet leidet an einer Art Burn-out. Unser hohes, krank machendes Arbeitspensum führt natürlich auch zu einer dauerhaften Produktion aller möglichen Güter und dies wiederum zur Erschöpfung des Planeten. Die nachwachsenden wie auch die nicht nachwachsenden Ressourcen erschöpfen sich, die fruchtbaren Böden gehen zur Neige und die meisten Ökosysteme stehen, ebenso wie wir Menschen, ständig unter Stress.

Gerät ein Mensch ins Burn-out, so ist er gut beraten, sich erst einmal völlig zurückzuziehen und eine längere Auszeit zu nehmen. Auch eine mehrwöchige Kur in einer entsprechenden Klinik wird als sinnvolle Maßnahme genannt. Zusätzlich ist ein genereller Lebenswandel vonnöten, soll dieser Zustand nicht einige Jahre später erneut auftreten. Um dies zu begreifen, braucht man in der Regel kein Arzt zu sein. Der gesunde Menschenverstand reicht hierfür völlig aus.

Leider reicht dieser Menschenverstand meist nicht weit genug, um auch der Natur eine solche Auszeit zu gewähren. Gerade unsere Ökosysteme bräuchten dringend Zeiten der Ruhe, um nicht ins Burn-out zu geraten. Viele davon haben Tausende Jahre benötigt, um entstehen zu können und eine Vielfalt hervorzubringen, die wir an manchen Orten glücklicherweise noch immer zu sehen bekommen. Diese Vielfalt wird bald schon verschwinden und zahlreiche Ökosysteme werden sich nie wieder von ihren Beschädigungen erholen können. Ebenso wie jene Menschen, die ihre Symptome zu lange ignorieren und irreversible Schäden an Körper und Geist erfahren.

Ein Verständnis für die Ruhezeiten der Natur fehlt im gesellschaftlichen Bewusstsein jedoch meist gänzlich. Die einzigen Auszeiten, die unsere Erde in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt hat, waren die Wirtschaftskrise rund um 2009 und die Coronakrise ein Jahrzehnt später. In diesen Zeiträumen lässt sich sogar anhand wissenschaftlicher Kennzahlen darstellen, dass eine kurzfristige Erholung auf unserem Planeten stattfand. So wanderte in diesen Zeiten etwa der »Welterschöpfungstag«, an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt, weiter nach hinten.23 Darüber hinaus kennen wir vermutlich alle die im April 2020 aufgenommenen Bilder aus Venedig, wo die sonst dauerbefahrenen Kanäle wegen der Ausgangsbeschränkungen einmal leer blieben, wieder klares Wasser führten und von zahlreichen Fischen und Schwänen besiedelt wurden. Oder die Luftbilder aus Frankreich, Spanien und China, wo der Ausstoß von Stickoxiden aufgrund der Corona-Maßnahmen im Vergleich zum Vorjahr drastisch zurückging.

 

Da wir nun aber wieder alles daransetzen, weitermachen zu können wie zuvor, war diese Erholung nur eine kurze Verschnaufpause für Mutter Erde. Verglichen mit dem menschlichen Burn-out war es wohl wie ein Wochenendtrip in den Wald, nach dem man am Montag pünktlich um 7 Uhr wieder zur Tat schreitet – um sich selbst und dem Planeten den Rest zu geben.

Der kollektive Pillenwurf

Nicht nur bei psychischen Symptomen wie dem Burn-out gibt es Analogien zwischen dem planetaren Zustand und uns selbst. Auch beim Umgang mit unserem Körper können wir das Ausmaß unseres Irrwegs gut sehen. Ein wacher Mensch weiß, dass ein gesunder Körper nur dann ein solcher bleibt, wenn man ihn täglich pflegt. Zu dieser Pflege gehören neben einer guten Work-Life-Balance und einer ausgewogenen Ernährung vor allem auch regelmäßige Bewegung, Sport, Meditation oder andere körperliche Betätigungen. Und da der Gesundheitsmarkt gerade Hochkonjunktur hat, hat diese Entwicklung schon zahlreiche Köpfe unserer geliebten Spezies erreicht.

Gleichzeitig gibt es immer noch zu viele von uns, die von all dem entweder nicht viel halten oder aber noch nichts mitbekommen haben. Sozialisiert nach einem veralteten Weltbild, behandeln sie ihren Körper so, als wäre er eine Maschine. Brummt das Köpfchen, gibt’s Tablette Nummer eins, bei Magenbeschwerden die zwei, im Grippefall dann Pille Nummer drei, Tablette Nummer vier hilft bei Mangel an Vitamin D und die fünfte lässt die Muskeln schneller wachsen. Dem nicht genug, wird bei Beschwerden aller Art zur Sicherheit noch eine Reihe Antibiotika nachgelegt, frei nach dem Motto: »Hilft es nicht, dann schadet’s auch nicht.«

Dass ein gesunder Mensch bei entsprechender Lebensführung über weite Lebensstrecken fast zur Gänze ohne Medikamente auskommen kann, ist vielen nicht einmal mehr bewusst. Zu sehr hat sich der Griff zur Pillenschachtel in unser Bewusstsein eingebrannt. So leben viele von uns ihr Leben unachtsam vor sich hin – im guten Glauben, dass es für alles, was kommt, die passende Tablette geben wird. Und wenn nicht, dann setzt sich dieses Spielchen im Krankenhaus eben fort. Bis man irgendwann doch mal in die Grube fährt.

Im Bereich der Nachhaltigkeit lässt sich eine analoge Geschichte erzählen. Obwohl wir in manchen Bereichen schon erkannt haben, dass ein Umdenken dringend nötig ist, betreiben wir dies bestenfalls halbherzig. Auch im Umgang mit unserer Natur hat sich ein Verhalten eingestellt, das einem kollektiven Tabletteneinwerfen ähnelt.

Eine wache Gesellschaft denkt die Natur als ihren Leben spendenden Körper bei all ihren Handlungen von vornherein mit. Von einem wachen Zustand sind wir derzeit jedoch weit entfernt. Wir schädigen uns und unseren Heimatplaneten in dem irrwitzigen Glauben, dass es auch in diesem Fall für alle Probleme die passende Tablette geben wird. Anstatt etwa unsere fossilen Heizsysteme vollständig auf umweltfreundliche Alternativen umzustellen, entwickeln wir lieber immer neue Filter für unsere Schornsteine. Anstatt das Müllproblem an der Wurzel anzugehen, bauen wir immer bessere Müllanlagen. Und anstatt unseren Fleischkonsum und damit unsere Treibhausgase zu reduzieren, entwickeln wir Mundschutzmasken für Kühe. Nicht wegen Corona, sondern um die Methangase aus den Rindermäulern ein klein wenig zu reduzieren. Diese Gummimasken sind mit solarbetriebenen Ventilatoren versehen und sollen die Ausatmungen der Tiere in eine Kammer leiten und dort unschädlich machen.24

Auch wenn viele dieser Ideen sicherlich einer guten Absicht entspringen, beschäftigen sie sich einzig und allein mit der Bekämpfung des Symptoms und werden das Problem somit nie lösen können. Das ist schade, denn für viele Probleme gäbe es bereits sehr vielversprechende Alternativen, die wirklich einen Unterschied machen könnten. Für die Schonung der Ökosysteme gibt es die biologische Landwirtschaft, für den gerechten Handel haben wir das Fair-Trade-System eingeführt, und das Verkehrsproblem löst sich womöglich über eine Stärkung der öffentlichen Verkehrsmittel mit gleichzeitigem Carsharing von Elektroautos mit Strom aus PV-Anlagen.

Dank unzähliger Pioniere haben wir in den letzten Jahrzehnten neue Möglichkeiten entwickelt, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft aussehen könnte und wie wir die ökologische Krise in den Griff bekommen. Würden wir diese Ideen als Masterplan verstehen, so könnten sie tatsächlich die Gesundung unserer Erde vorantreiben. Doch leider verwenden zu viele von uns diese neuen Möglichkeiten nur als Tablette für zwischendurch.

Als Geschenk kauft man seinen Liebsten gern mal die Pralinen in Bioqualität, im Alltag bleibt man bei jenen vom Diskonter. Eine Spende für den brasilianischen Regenwald ist immer drin, bei der Verhandlung mit den Bauern muss man aber doch die Preise drücken, um seine Boni zu erhalten. Und auch wenn man im Alltag mal gern aufs Auto verzichtet, so ist der jährliche Städtetrip über den Atlantik einfach ein Muss. Manchmal kaufen wir auch Öko-Schuhe, regionales Biogemüse, lassen die Eckbank vom örtlichen Tischler bauen und genießen die Firmenfeier am Bauernhof in der Region. Beim großen Rest unserer Lebenszeit heißt es dann halt doch wieder business as usual.

Man könnte diese Beispiele endlos weitertreiben und würde zu dem Schluss kommen, dass wir in Mitteleuropa zu einer Art Wochenend-Ökos geworden sind. Überall, wo es leicht geht, sind wir bereit, Abstriche für die Natur zu machen. Überall dort, wo nur eine kleine Tablette zu schlucken ist, tun wir dies gern, der Umwelt zuliebe. Der große Bewusstseinswandel sieht aber anders aus. Darum lass uns doch einmal ausmalen und untersuchen, wie ein echter und tiefgreifender Wandel aussehen könnte!

1.3 Die Vision eines umfassenden Wandels

Nachhaltigkeit bedeutet, Ökonomie, Ökologie und Soziales miteinander in Einklang zu bringen und heute das Leben so zu führen, dass die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht gefährdet und dauerhaft erhalten werden. Leider ist unsere Lebensweise von solch einer Nachhaltigkeit weit entfernt. Wenn uns die vorigen Kapitel eines klargemacht haben sollten, dann, dass die missliche Lage, in der wir uns heute global befinden, nach mehr als nur Korrekturmaßnahmen verlangt. Kleine, punktuelle oder symptomorientierte Rettungsaktionen sind zwar wichtig, reichen aber einfach nicht aus, um eine zukunftsfähige und dauerhaft lebenserhaltende Gesellschaft zu verwirklichen.

Was wir heute vielmehr brauchen, ist eine Nachhaltigkeit, die als ganzheitlicher und umfassender Wandel in Erscheinung tritt. Ein Wandel, der alle Bereiche der Gesellschaft berührt: die Spielregeln und Funktionsweisen unserer Wirtschaftskreisläufe und Arbeitswelten; die Gestaltung unseres gesellschaftlichen und sozialen Zusammenlebens; die Fragen von Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf Chancen, Macht und Kapital; die Art, wie wir demokratische und partizipatorische Prozesse in der Politik einsetzen; das Selbstverständnis, das wir von uns selbst haben, und wie wir auf die uns umgebende Welt blicken; das Ausmaß an Wertschätzung und Liebe, das zu schenken wir imstande sind; die Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen, und auf Basis welcher Ethik wir darüber entscheiden; und nicht zuletzt ein genaues Prüfen unserer Konzepte von Wohlstand und Lebensqualität sowie unserer Wertehaltungen und Prioritäten.

Bei einer wirklich zukunftsweisenden Vision darf es längst nicht mehr nur darum gehen, kein Unheil anzurichten oder die gesetzlichen Mindestanforderungen zu erfüllen. Vielmehr muss sie regenerative Kulturen25 und Praktiken hervorbringen, die die Schäden der Vergangenheit wieder sanieren und ein gesundes Gleichgewicht zwischen Mensch, Gemeinschaft und Natur herstellen. Nicht Schadensbegrenzung, sondern echte Heilung, Regeneration und Kooperation mit der Natur sind das Gebot der Stunde!

Wie also könnte diese Welt aussehen, in der eine solch tiefgreifende Trendumkehr bereits gelungen ist? Welche Zukunft könnten wir erschaffen, wenn wir alle erforderlichen Kräfte für die Umsetzung beisammenhätten und entsprechend einsetzen würden? Wie würde sich das Leben auf Erden wohl gestalten, wenn Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit auf allen Ebenen Eingang in unsere Lebensweise gefunden hätten?

Anstatt nur die Probleme zu betrachten, sollten wir uns wieder verstärkt mit Utopien und Visionen beschäftigen! Warum nicht einmal träumen von der Welt von morgen, wie wir sie uns wünschen? Sind es denn nicht die Träume, die unsere Sehnsucht schüren und uns Motivation und Antrieb für die Umsetzung schenken? Sind es nicht die positiven Zukunftsbilder, die uns Lust auf dieses schöne Morgen machen – viel mehr, als es die angstmachenden Katastrophenszenarien je vermögen?

Das gute Leben für alle

»Stellen wir uns eine Welt vor, die frei von Armut, Hunger, Krankheit und Not ist und in der alles Leben gedeihen kann. Eine Welt, die frei von Furcht und Gewalt ist. Eine Welt, in der alle Menschen lesen und schreiben können. Eine Welt mit gleichem Zugang zu hochwertiger Bildung, zu Gesundheitsversorgung und Sozialschutz. Eine Welt, in der das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen gewährleistet ist. Eine Welt, in der wir unser Bekenntnis zum Menschenrecht auf einwandfreies Trinkwasser und Sanitärversorgung bekräftigen und in der erschwingliche und nährstoffreiche Nahrungsmittel in Fülle und für jeden vorhanden sind. Eine Welt, in der die menschlichen Lebensräume sicher, widerstandsfähig und nachhaltig sind und in der alle Menschen Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher und nachhaltiger Energie haben.«26 Diese Zeilen sind keineswegs nur das Wunschdenken von ein paar weltfremden Träumern. Nein. Sie finden sich etwa in der Präambel der wegweisenden Agenda 2030 der Vereinten Nationen (UN).

Deshalb möchten wir dich fragen: Ist es denn nicht dieses »gute Leben für alle«, nach dem wir Menschen uns eigentlich sehnen? Wollen wir denn nicht alle in einer Welt leben, in der auch unsere Kinder noch die unschätzbare Schönheit des Planeten mit eigenen Augen sehen und erfahren können? Wünschen wir uns denn nicht alle dieses Leben aus dem Herzen, das uns friedfertig, liebevoll und mitfühlend mit unserer Mitwelt sein lässt? Wollen wir denn nicht alle diese großzügigen Menschen sein, die lieber schenken als gierig horten? Wollen wir nicht viel lieber eine Wirtschaft in Richtung Gemeinschaftlichkeit und Kooperation aufbauen, als weiterhin auf Profit und Konkurrenz zu setzen? Und ist es nicht unser tiefster und sehnlichster Wunsch, die unbändige Liebe, die tief in jedem von uns verborgen liegt, zu verschenken und auszudehnen, auf alles, was lebt? Wir Autoren sagen Ja!

Was wir als Gesellschaft daher brauchen, ist eine grundlegende Neuausrichtung all unserer Handlungen, wie es übrigens schon im Jahr 2000 in der visionären Erd-Chartaa geschrieben steht.27 Dieser Wandel muss sowohl breite strukturelle und systemische Alternativen hervorbringen, als auch die destruktiven Paradigmen in unseren Köpfen in lebensdienliche Welt- und Wertebilder überführen. Die ökologischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, ethischen und spirituellen Probleme und Hoffnungen der Menschheit sind eng miteinander verbunden, sie können nicht voneinander getrennt betrachtet werden.28 Dementsprechend können sie auch nicht einzeln gelöst werden. Weshalb es erforderlich ist, einen umfassenden Blick auf das Ganze zu entwickeln.

In einer so vernetzten und komplexen Welt wie der unsrigen hängen beispielsweise Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden eng zusammen mit dem Schutz der Natur und dem wirtschaftlichen Wohlergehen. Viel zu lange haben wir die Welt in kleine Stückchen, in einzelne Disziplinen geteilt und uns gegen den Blick über den Tellerrand gewehrt. Nun aber ruft die Welt nach globaler Partnerschaft und Zusammenarbeit, um umfassende Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden und realisieren zu können.

 

Wenn wir als Menschheit auf diesem Planeten also noch lange weiterbestehen wollen, so müssen wir erkennen, dass wir trotz aller Vielfalt an Kulturen und Lebensformen letztlich eine Familie sind. Eine globale Gemeinschaft, die einer gemeinsamen Herausforderung gegenübersteht. Da wir alle denselben Planeten bewohnen, teilen wir »die Sorge um das gemeinsame Haus«, meint etwa Papst Franziskus in seiner berühmten, 2015 veröffentlichten Enzyklika »Laudato si«29.Wir müssen also zusammenarbeiten, um jene Gesellschaft zu erschaffen, die wir uns im Grunde alle wünschen. Eine Gesellschaft, in der die Natur und die Menschenrechte, die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens gewahrt werden.

Um diese Wünsche zu verwirklichen, müssen wir eine neue Wahl treffen und uns mit der ganzen Weltgemeinschaft und mit allem Lebendigen genauso verbinden wie mit unseren lokalen Gemeinschaften vor Ort. Wir sind Bewohner verschiedener Nationen und gleichzeitig der einen Welt. Und so sind wir als Weltbürger mitverantwortlich für das gegenwärtige und künftige Leben auf der Erde, und es ist unabdingbar, dass wir als Bevölkerung der Erde gemeinsam Verantwortung übernehmen. Und zwar für uns selbst, füreinander, für die größere Gemeinschaft allen Lebens und auch für künftige Generationen. Denn eine Welt, in der die negativen Auswirkungen unseres Lebensstils und unserer Wirtschaftsweisen alle betreffen, erfordert einen globalen Masterplan. Einen Masterplan, der aus einer globalen Perspektive der Gerechtigkeit heraus entworfen und umgesetzt wird.

Einen vielversprechenden Ansatz dazu liefern etwa die Sustainable Development Goals, die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung, kurz SDGs genannt. Diese wurden 2015 von den Vereinten Nationen in ihrer »Agenda 2030« verabschiedet. Anhand von 17 Zielen und 169 Subzielen beschreiben sie, wie die »Transformation unserer Welt« aussehen kann, in der »people, planet and profit« – also Mensch, Natur und Wirtschaft – im Einklang miteinander stehen. Dabei werden neben sozialen Themen wie Armut, Bildung und Gleichstellung auch ökonomische Fragen, wie nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, und ökologische Themen, wie der Schutz und die Regeneration der Ökosysteme, behandelt. – Ein wichtiger Meilenstein, wie wir finden! Alle 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben die Agenda unterzeichnet und bekennen sich damit zur Umsetzung der Ziele auf nationaler wie internationaler Ebene.30

Mut zur eigenen Vision

Auf globaler Ebene gibt es sie also bereits, die Vision einer besseren und nachhaltigeren Welt. Wie aber sieht es auf der individuellen Ebene aus? Welche Zukunftsbilder tragen wir Menschen in uns? Kann die Utopie einer regenerativen Gesellschaft überhaupt funktionieren, oder sind wir als Individuen viel zu verschieden, um uns auf eine gemeinsame Zukunftsvision einzulassen? Diese Frage lässt sich wohl nicht vollständig beantworten. Mit dem folgenden Erlebnisbericht möchten wir dir jedoch Mut machen und zeigen, dass viel mehr möglich ist, als wir uns oft vorstellen können.

Im September 2020 hatte ich, Julia, die große Freude, beim Zukunftsdialog im Rahmen des Projekts »Tales of Tomorrow«b 23 Jungpolitiker und Jugendvertreter, Männer wie Frauen, aus den verschiedenen politischen Lagern mit einer meditativen Visionsreise ins Jahr 2035 zu entführen. Auf den Flügeln unserer Vorstellungskraft reisten wir in die Zukunft, öffneten uns für unsere eigenen Träume und Visionen und teilten diese den anderen im Anschluss mit.

Zugegeben war ich im Vorfeld schon unsicher, ob sich die Teilnehmer für diese unkonventionelle Methode öffnen würden und die Visionsreise in diesem kurzen Rahmen denn überhaupt funktionierte. Meine Bedenken waren schnell verflogen, denn die Ergebnisse waren wirklich verblüffend. Nicht nur, dass sich der Großteil der Teilnehmer gut einlassen konnte, sie alle hatten auch sehr ähnliche Visionen und Vorstellungen.

Ich dachte, wie kann es sein, dass Menschen aus so unterschiedlichen politischen Lagern, mit so verschiedenen ideologischen Hintergründen, von ein und derselben Zukunft träumen? Wie kann es sein, dass eine so bunt gemischte Gruppe von Menschen die gleichen Bilder über die Zukunft empfängt? Meine Erklärung dafür ist, dass wir Menschen uns im Herzen oft viel näher sind, als es der Verstand je vermuten würde. Der Verstand zieht ideologische Grenzen, unterscheidet zwischen »wir« und den »anderen«, teilt die Welt und die Menschen sozusagen in Schubladen ein.

Die tiefere Weisheit in uns kennt diese Trennungen allerdings nicht. Wir alle sehnen uns nach einer lebenswerten und liebevollen Zukunft. Nach einem Leben im Einklang mit uns selbst und der Natur. Nach einer Welt voller Wertschätzung und Miteinander. Nach Sinn und Freude im täglichen Tun. Leider sprechen wir viel zu selten über diese Träume. Dabei würden wir darin so viel Verbindendes finden! Wir würden sehen, dass wir viel mehr gemeinsam haben, als wir denken. Wir würden viel motivierter an einem Strang ziehen – jeder mit anderen Zugängen und Methoden, aber alle fokussiert auf das gemeinsame Ziel. Genauso, wie wir es damals beim Zukunftsdialog erleben durften.

Für einen Einblick in die Ergebnisse dieser Visionsreise habe ich die Erlaubnis eingeholt, einige Auszüge aus der gemeinsamen, parteiübergreifenden Vision zu teilen, die die Jungpolitiker und Jugendvertreter an besagtem September-Wochenende geschmiedet haben. Die Vision ist aus der Sicht des Jahres 2035 formuliert. Möge sie auch deine inneren Bilder beflügeln und dir ein Gefühl vermitteln, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen könnte.31

Das Jahr 2035:

 Unsere Städte sind überall von Grün bedeckt: auf den Dächern, an den Fassaden, zwischen den Häusern und auf öffentlichen Plätzen. Die Stadt ist zu einem großen Park geworden, voller Artenreichtum und voller Natur.

 Der Individualverkehr hat rasant abgenommen und findet fast nur noch unterirdisch oder als Schwebeverkehr statt.

 Der öffentliche Raum ist wieder ganz an die Bedürfnisse der Menschen angepasst.

 Ehemalige Parkplätze sind zu Plätzen der Begegnung umgebaut. Hier wird gelacht, gespielt, geredet und freundlich miteinander umgegangen.

 Viele Menschen haben den Wert des Miteinanders, der Nachbarschaft und des Zusammenhalts neu für sich entdeckt. Man hilft einander aus, man tauscht und teilt Güter: Lebensmittel, Geräte, Elektroautos, Bücher u. v. m.

 Es gibt eigene Zonen der Stille, wo Menschen Kraft tanken und Ruhe finden können.

 Das Leben ist viel entschleunigter und bewusster geworden.

 Geld hat nicht mehr den Stellenwert, den es früher einmal hatte. Heute zählt vor allem, wie viel Zeit man im Leben hat und wie glücklich und zufrieden man ist.

 Unsere Arbeitsmodelle sind flexibler, ortsunabhängiger und dezentraler geworden.

 Im Beruf geht es vor allem darum, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, Freude bei der Arbeit zu erfahren und sich persönlich entfalten zu können.

 Arbeit wird fair entlohnt. Vormals unbezahlte Arbeit, wie die Pflege, der Haushalt, die Kindererziehung oder zivilgesellschaftliches Engagement, wird als gleichermaßen wichtig angesehen, wertgeschätzt und finanziell honoriert.

 Es gibt viel mehr nachhaltige Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen. Diese werden transparent gekennzeichnet, sodass die Konsumenten genau wissen, welchen ökologischen und sozialen Fußabdruck ein Produkt hat.

 Urban Gardening ist zu einem beliebten Hobby avanciert, das viele Städter dazu einlädt, ihr eigenes Gemüse und Kräuter anzubauen.

 Die Menschen essen viel weniger Fleisch als früher, dafür qualitativ hochwertiges. Das Tierwohl ist zu einem wichtigen Anliegen geworden.

 Neue politische Partizipationsformate, ähnlich jenen der Bürgerinnen- und Bürger-Räte, sind aktiv in Entscheidungsfindungen integriert.

 Das Wissen wird den jungen Menschen nicht mehr frontal vermittelt, sondern auf eine Art und Weise, die sie befähigt, selbst aktiv zu werden und zu Lösungen beitragen zu können.

Wie geht es dir, wenn du solche Zeilen liest? Kannst du dich darauf einschwingen und die Bilder vor deinem inneren Auge lebendig werden lassen? Oder klingt das alles zu utopisch für dich? Natürlich werden wir niemals wissen können, wie unsere Zukunft aussieht oder welchen Lauf unsere Geschichte nehmen wird. Egal wie viele Forscher ihre Prognosen abgeben, das Ergebnis ist immer das gleiche: »Alles ist möglich, aber nix is fix.« Die Zukunft steht niemals fest. Sie ist ein Netz aus potenziellen Möglichkeiten. Sie will erträumt, erdacht und gewählt werden. Wir können uns diesbezüglich also nur folgende Frage stellen: