Reise zum Mittelpunkt der Erde

Text
Aus der Reihe: Jules Verne bei Null Papier #17
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Da mein On­kel die Fra­ge auf das Ge­biet der Hy­po­the­sen ver­pflanz­te, so hat­te ich nichts dar­auf zu er­wi­dern.

»Nun denn, ich will dir nur sa­gen, dass ech­te Ge­lehr­te, wie Poi­son un­ter an­de­ren, be­wie­sen ha­ben, dass, wenn im In­nern des Erd­balls eine Hit­ze von zwei­mal­hun­dert­tau­send Grad exis­tier­te, das aus den zer­schmol­ze­nen Stof­fen er­zeug­te glü­hen­de Gas eine sol­che Spann­kraft er­lan­gen wür­de, dass die Erdrin­de nicht mehr Wi­der­stand zu leis­ten ver­möch­te und zer­sprin­gen wür­de, wie die Wän­de ei­nes Dampf­kes­sels durch die Aus­deh­nung des Damp­fes.«

»Das ist Poi­sons An­sicht, lie­ber On­kel, nichts wei­ter.«

»Ein­ver­stan­den, aber es ist auch die An­sicht an­de­rer aus­ge­zeich­ne­ter Geo­lo­gen, dass das In­ne­re des Erd­balls we­der aus Gas, noch Was­ser, noch schwe­re­ren Stei­nen be­steht, als die wir ken­nen, denn in die­sem Fall wür­de die Erde ein zwei­fach ge­rin­ge­res oder ver­dop­pel­tes Ge­wicht ha­ben.«

»O! Mit Zif­fern be­weist man al­les, was man will!«

»Und ist’s mit Tat­sa­chen, lie­ber Jun­ge, eben­so? Ist’s nicht aus­ge­macht, dass die Zahl der Vul­ka­ne seit den ers­ten Ta­gen der Welt be­stän­dig ab­ge­nom­men hat? Und wenn es eine Zen­tral­wär­me gibt, kann man nicht dar­aus schlie­ßen, dass sie im­mer schwä­cher wird?«

»Lie­ber On­kel, wenn du dich aufs Feld der Voraus­set­zun­gen be­gibst, hab’ ich nicht mehr zu re­den.«

»Und ich habe zu sa­gen, dass die An­sich­ten der be­ru­fens­ten Män­ner mit der mei­ni­gen über­ein­stim­men. Erin­nerst du dich, wie mir im Jah­re 1825 der be­rühm­te eng­li­sche Che­mi­ker Hum­phry Davy einen Be­such mach­te.«

»Durchaus nicht, denn ich kam erst neun­zehn Jah­re spä­ter auf die Welt.«

»Nun, Hum­phry Davy be­such­te mich auf ei­ner Durch­rei­se nach Ham­burg. Wir be­spra­chen uns lan­ge, un­ter an­derm über die Hy­po­the­se der Flüs­sig­keit des in­nern Kerns der Erde. Wir wa­ren ein­stim­mig dar­in, dass die Flüs­sig­keit nicht mög­lich sei, aus ei­nem Grun­de, wor­auf die Wis­sen­schaft nie eine Ant­wort ge­fun­den hat.«

»Und wel­cher ist das?« frag­te ich et­was be­trof­fen.

»Weil die­se flüs­si­ge Mas­se gleich dem Ozean der An­zie­hung von sei­ten des Mon­des aus­ge­setzt wäre, und folg­lich zwei­mal täg­lich im In­nern Ebbe und Flut ent­ste­hen wür­den, wel­che durch Em­por­he­ben des Erd­bo­dens zu pe­ri­odi­schen Erd­be­ben An­lass gä­ben.«

»Aber es ist doch un­ver­kenn­bar, dass die Erd­ober­flä­che der Ver­bren­nung aus­ge­setzt ge­we­sen ist, und man darf an­neh­men, dass die äu­ße­re Krus­te sich erst ab­kühl­te, wäh­rend die Hit­ze sich zum Zen­trum zu­rück­zog.«

»Irr­tum«, er­wi­der­te mein On­kel; »die Erde ist erst durch Ver­bren­nung ih­rer Ober­flä­che in Hit­ze ge­ra­ten, nicht an­ders. Ihre Ober­flä­che be­stand aus ei­ner großen Quan­ti­tät von Me­tal­len, wie Po­tas­si­um und So­di­um, wel­che die Ei­gen­schaft ha­ben, bei der blo­ßen Berüh­rung mit Luft und Was­ser in Brand zu ge­ra­ten. Die­se Me­tal­le ge­rie­ten in Brand, als die at­mo­sphä­ri­schen Düns­te als Re­gen auf den Bo­den her­ab­ka­men; und all­mäh­lich, als die Ge­wäs­ser durch die Rit­zen der Erdrin­de dran­gen, ver­an­lass­ten sie aber­mals Brand mit Ex­plo­sio­nen und Aus­brü­chen. Da­her die zahl­rei­chen Vul­ka­ne in der ers­ten Zeit der Welt.«

»Das ist doch eine sinn­rei­che Hy­po­the­se!« rief ich et­was wi­der Wil­len.

»Und Hum­phry Davy mach­te mir’s durch ein sehr ein­fa­ches Ex­pe­ri­ment er­kenn­bar. Er ver­fer­tig­te eine me­tal­le­ne Ku­gel haupt­säch­lich aus den Me­tal­len, wo­von ich eben sprach, als ein voll­stän­di­ges Eben­bild un­se­res Erd­balls. Als man die­sel­be mit ei­nem fei­nen Tau auf ih­rer Ober­flä­che be­netz­te, schwoll sie auf, oxy­dier­te und bil­de­te ein klei­nes Ge­bir­ge; an des­sen Spit­ze öff­ne­te sich ein Kra­ter, und es fand ein Aus­bruch statt, und teil­te der Ku­gel eine sol­che Hit­ze mit, dass man sie nicht mehr in der Hand hal­ten konn­te.«

Wahr­lich, die Be­weis­grün­de des Pro­fes­sors fin­gen an, auf mich Ein­druck zu ma­chen; er mach­te sie zu­dem mit sei­ner ge­wöhn­li­chen Lei­den­schaft und sei­nem En­thu­si­as­mus gel­tend.

»Du siehst, Axel«, füg­te er bei, »der Zu­stand des in­nern Kerns hat ver­schie­de­ne Hy­po­the­sen un­ter den Geo­lo­gen ver­an­lasst; nichts ist we­ni­ger be­wie­sen, als die Tat­sa­che ei­ner in­nern Hit­ze; mei­ner An­sicht nach ist sie nicht vor­han­den, könn­te nicht vor­han­den sein; doch, wir wer­den’s se­hen, und wer­den, wie Arne Sak­nus­semm, dann wis­sen, wor­an man sich hin­sicht­lich die­ser Fra­ge zu hal­ten habe.«

»Nun ja!« er­wi­der­te ich, in­dem ich die­sen En­thu­si­as­mus zu tei­len an­fing, »ja, wir wer­den’s se­hen, wenn man je­doch dort se­hen kann?«

»Und warum nicht? Kön­nen wir nicht auf elek­tri­sche Er­schei­nun­gen rech­nen, die uns Licht ge­wäh­ren, und selbst auf die At­mo­sphä­re, wel­che bei An­nä­he­rung an das Zen­trum durch ih­ren Druck leuch­tend wer­den kann?«

»Ja«, sag­te ich, »ja! Das ist mög­lich nach al­lem.«

»Das ist ge­wiss«, er­wi­der­te mein On­kel tri­um­phie­rend; »aber nur stil­le, ver­stehst du? Kein Wort von alle die­sem; kein Mensch soll die Idee be­kom­men, vor uns das Zen­trum der Erde zu ent­de­cken.«

Siebtes Kapitel

So schloss die­se merk­wür­di­ge Un­ter­re­dung. Ich war fie­ber­haft an­ge­regt. Ich ver­ließ ganz ver­blüfft das Ka­bi­nett mei­nes On­kels, und die Luft Ham­burgs reich­te nicht aus, um mich dar­in zu er­ho­len. Ich eil­te da­her an das El­bu­fer nach der Dampf­fäh­re hin, wel­che zur Ver­bin­dung der Stadt mit der Ham­bur­ger Ei­sen­bahn dient.

War ich von dem, was man mich eben ge­lehrt hat­te, über­zeugt? War ich nicht viel­mehr dem Pro­fes­sor Li­den­b­rock er­le­gen? Soll­te ich im Ernst neh­men, dass er ent­schlos­sen sei, zum Zen­trum des Erd­kör­pers zu drin­gen? Hör­te ich so­eben die tol­len Spe­ku­la­tio­nen ei­nes Nar­ren, oder die wis­sen­schaft­li­che Dar­le­gung ei­nes großen Ge­nies? Bei al­lem, wo hör­te die Wahr­heit auf, be­gann der Irr­tum?

Ich schwank­te zwi­schen tau­send sich wi­der­spre­chen­den Hy­po­the­sen, ohne mich an ei­ner fest­hal­ten zu kön­nen.

Doch er­in­ner­te ich mich, dass ich über­zeugt war, ob­wohl mein En­thu­si­as­mus an­fing mä­ßi­ger zu wer­den; aber ich hat­te un­ver­züg­lich ab­rei­sen wol­len, ohne mir Zeit zum Über­le­gen zu las­sen. Ja, es hät­te mir nicht an Mut ge­fehlt, au­gen­blick­lich mei­nen Ran­zen zu schnal­len.

Doch muss ich ge­ste­hen, eine Stun­de her­nach war die­se Über­rei­zung schon ge­sun­ken, die Span­nung mei­ner Ner­ven ließ nach, und kam wie­der aus den Ab­grün­den der Erde zur Ober­flä­che em­por.

»Das ist ja lä­cher­lich!« sag­te ich mir; »es hat kei­nen rech­ten Ver­stand! Solch einen Vor­schlag kann man ei­nem ver­stän­di­gen Jun­gen nicht im Ernst ma­chen. Das al­les ist ei­tel nichts. Ich habe übel ge­schla­fen, einen schlim­men Traum ge­habt.«

In­zwi­schen war ich längs dem Ufer der Elbe um die Stadt her­um­ge­kom­men und auf die Stra­ße nach Al­to­na. Es hat­te mich eine rich­ti­ge Ah­nung die­sen Weg ge­führt, denn ich be­merk­te bald mein lie­bes Gret­chen, das ra­schen Schrit­tes tap­fer nach Ham­burg heim­ging.

So erreichte ich das Ufer der Elbe.

»Gret­chen!« rief ich ihr von wei­tem zu.

Das Mäd­chen stand stil­le, et­was be­trof­fen, schi­en es, auf of­fe­ner Stra­ße so an­ge­ru­fen zu wer­den. Mit zehn Schrit­ten war ich bei ihr.

»Axel!« sag­te sie über­rascht. »Du bist mir ent­ge­gen ge­gan­gen, das ist ja recht hübsch.«

Als nun aber Gret­chen mich an­sah, ent­ging ihr mein un­ru­hi­ges, ver­stör­tes Aus­se­hen nicht.

»Was ist dir?« sag­te sie, mir die Hand rei­chend.

»Was mir ist, Gret­chen!« rief ich.

Und in zwei Se­kun­den, in drei Sät­zen hat­te ich mei­ne hüb­sche Vier­län­de­rin über die Lage der Din­ge in Kennt­nis ge­setzt. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke schwieg sie. Ob ihr Herz gleich dem mei­ni­gen klopf­te, weiß ich nicht, aber ihre Hand in der mei­ni­gen zit­ter­te nicht. Hun­dert Schrit­te gin­gen wir stumm ne­ben­ein­an­der her.

»Axel!« sag­te sie end­lich.

»Lie­bes Gret­chen!«

»Das wird eine schö­ne Rei­se sein.«

Ich sprang auf bei die­sen Wor­ten.

»Ja, Axel, eine Rei­se, des Nef­fen ei­nes Ge­lehr­ten wür­dig. Ein Mann muss sich durch ein großes Un­ter­neh­men aus­zeich­nen!«

»Wie? Gret­chen, du rätst mir nicht von solch ei­nem Un­ter­neh­men ab?«

»Nein, lie­ber Axel, und ich wür­de euch ger­ne be­glei­ten, wenn nicht ein ar­mes Mäd­chen ein Hin­der­nis für euch wäre.«

»Ist das wirk­lich dein Ernst?«

»Wirk­lich.«

Ach. Wie sind doch Frau­en, jun­ge Mäd­chen, weib­li­che Her­zen stets un­be­greif­lich! Seid ihr nicht die schüch­t­erns­ten We­sen, so seid ihr die tap­fers­ten! Ver­nunft hat bei euch kei­ne Gel­tung. Wie? die­ses Kind er­mun­ter­te mich, die Rei­se mitz­u­ma­chen! Sie hat­te kei­ne Furcht vor ei­ner aben­teu­er­li­chen Fahrt! Sie dräng­te mich dazu, den sie doch lieb­te.

Ich war ver­le­gen und, of­fen zu sa­gen, schäm­te ich mich.

»Gret­chen«, fuhr ich fort, »wir wol­len se­hen, ob du mor­gen noch eben­so sprichst.«

»Mor­gen, lie­ber Axel, werd’ ich re­den, wie heu­te.«

Wir gin­gen Hand in Hand, aber in tie­fem Schwei­gen un­se­res We­ges wei­ter. Die Gem­müts­be­we­gun­gen des Ta­ges hat­ten mich klein­laut ge­macht.

»Im­mer­hin«, dach­te ich, »ist der ers­te Juli noch weit ent­fernt, und bis da­hin kann noch man­ches vor­ge­hen, was mei­nen On­kel von der tol­len Lust, eine Rei­se un­ter die Erde zu ma­chen, hei­len mag.«

 

Es war schon Nacht ge­wor­den, als wir bei dem Hau­se der Kö­nigs­tra­ße an­lang­ten. Ich hat­te ver­mu­tet, wir trä­fen die Woh­nung ru­hig, mei­nen On­kel, wie ge­wöhn­lich, schon zu Bet­te und Mar­tha mit Ab­stau­ben des Spei­se­zim­mers be­schäf­tigt.

Aber ich hat­te die Un­ge­duld des Pro­fes­sors nicht in An­schlag ge­bracht. Ich fand ihn un­ter ei­ner Trup­pe Last­trä­ger, wel­che al­ler­hand Wa­ren in die Al­lee brach­ten, mit lau­tem Ge­schrei hin und her ren­nend; die alte Die­ne­rin wuss­te nicht, wo ihr der Kopf stand.

»Aber, so komm doch, Axel; eile doch, Un­glück­se­li­ger!« rief mein On­kel schon von wei­tem, wie er mich er­blick­te. »Und dein Kof­fer ist noch nicht ge­packt, und mei­ne Pa­pie­re noch nicht ge­ord­net, und der Schlüs­sel mei­nes Rei­se­sacks nicht zu fin­den, und mei­ne Ga­ma­schen blei­ben aus!«

Ich fand meinen Onkel schreiend und zeternd.

Ich war wie vom Don­ner ge­rührt, die Stim­me ver­sag­te mir. Kaum ver­moch­ten mei­ne Lip­pen die Wor­te her­vor­zu­brin­gen:

»Also rei­sen wir ab?«

»Ja, Un­glück­se­li­ger, und du gehst spa­zie­ren, an­statt bei der Hand zu sein!«

»Wir rei­sen ab?« frag­te ich noch­mals mit schwa­cher Stim­me.

»Ja, über­mor­gen in al­ler Frü­he.«

Ich konn­te nichts wei­ter an­hö­ren und flüch­te­te in mein Zim­mer­chen.

Es war nicht mehr dar­an zu zwei­feln. Mein On­kel hat­te den Nach­mit­tag dazu ver­wen­det, einen Teil der Rei­se­be­dürf­nis­se an­zu­schaf­fen: die Al­lee lag voll Strick­lei­tern, Fa­ckeln, Rei­se­fla­schen, ei­ser­nen Ha­ken, Spitz­hau­en, be­schla­ge­nen Stö­cken, Spa­ten – wo­für man zehn Mann we­nigs­tens zum Her­bei­schlep­pen brauch­te.

Ich brach­te eine ent­setz­li­che Nacht zu. Am fol­gen­den Mor­gen hör­te ich schon früh mich an­ru­fen. Ich war ent­schlos­sen, mei­ne Tür nicht zu öff­nen. Aber wie hät­te ich ei­ner so sü­ßen Stim­me wi­der­ste­hen kön­nen, die mir zu­rief: »Lie­ber Axel!«

Ich ging aus mei­ner Kam­mer und dach­te, mein ver­stör­tes, blas­ses Aus­se­hen, mei­ne ro­ten Au­gen wür­den auf Gret­chen wir­ken, dass sie ihre Ge­dan­ken än­der­te.

»Nun! Mein lie­ber Axel«, sag­te sie zu mir, »ich sehe, du be­fin­dest dich bes­ser, und die Nacht hat dich be­ru­higt.«

»Be­ru­higt!« rief ich.

Ich eil­te vor mei­nen Spie­gel. Ei nun! Ich sah nicht so übel aus, als ich ge­dacht hat­te. Kaum glaub­lich.

»Axel«, sprach Gret­chen zu mir, »ich habe lan­ge mit mei­nem Vor­mund ge­plau­dert. Es ist ein küh­ner Ge­lehr­ter, ein mu­ti­ger Mann, und du wirst dich er­in­nern, dass sein Blut in dei­nen Adern fließt. Er hat mir von sei­nen Plä­nen er­zählt, von sei­nen Hoff­nun­gen, wes­halb und wie er sei­nen Zweck zu er­rei­chen hofft. Ich zweifle nicht, dass er ihn er­rei­chen wird. Ach! Lie­ber Axel, wie schön ist’s, sich so sei­ner Wis­sen­schaft zu wid­men! Wel­cher Ruhm wird Herrn Li­den­b­rock zu­teil wer­den, und auf sei­nen Ge­nos­sen zu­rück­strah­len! Bei der Rück­kehr wirst du ein Mann sein, sei­nes­glei­chen, frei zu re­den, zu han­deln, frei end­lich zu …«

Er­rö­tend stock­te das Mäd­chen. Sei­ne Wor­te mach­ten mir wie­der Mut. Den­noch woll­te ich noch nicht an un­se­re Abrei­se glau­ben. Ich zog Gret­chen mit mir zu dem Zim­mer des Pro­fes­sors.

»Lie­ber On­kel«, sag­te ich, »es ist also aus­ge­macht, dass wir ab­rei­sen?«

»Wie? Du zwei­felst dar­an?«

»Nein«, sag­te ich, um ihm nicht zu wi­der­spre­chen. »Nur möcht’ ich Sie fra­gen, ob es so Eile da­mit hat.«

»Ja­wohl! Die Zeit drängt! Die Zeit, die un­wie­der­bring­lich schnell ent­flieht!«

»Wir ha­ben ja doch erst den 26. Mai, und bis zu Ende Juni …«

»Hm! Meinst du denn, Un­wis­sen­der, dass man so leicht nach Is­land kom­me? Wä­rest du nicht wie ein Narr von mir ge­lau­fen, so hät­te ich dich mit auf das Ko­pen­ha­ge­ner Büro, zu Lif­fen­der & Cie., ge­nom­men. Da hät­test du er­fah­ren, dass von Ko­pen­ha­gen nach Rey­kja­wik nur ein­mal mo­nat­lich, am 22., ein Boot ab­ge­ht.«

»Nun?«

»Nun? Wenn wir bis zum 22. Juni war­te­ten, wür­den wir zu spät kom­men, um zu se­hen, wie ›des Scar­ta­ris Schat­ten den Kra­ter des Snef­fels lieb­kost‹. Wir müs­sen da­her so schnell wie mög­lich nach Ko­pen­ha­gen kom­men, um da­selbst für die Über­fahrt ein Be­för­de­rungs­mit­tel zu fin­den. Geh’ und pack’ dei­nen Kof­fer!«

Da­rauf war kein Wort zu er­wi­dern. Ich be­gab mich wie­der in mein Zim­mer. Gret­chen folg­te mir nach und be­müh­te sich selbst, mei­ne Rei­se­be­dürf­nis­se in einen klei­nen Ran­zen zu pa­cken. Es ging ihr das nicht nä­her zu Her­zen, als wenn sich’s um einen Aus­flug nach Lü­beck oder Hel­go­land han­del­te. Ihre klei­nen Hän­de be­weg­ten sich ohne Übe­rei­lung hin und her. Sie plau­der­te ru­hig und führ­te mir die ver­stän­digs­ten Grün­de zu­guns­ten un­se­rer Un­ter­neh­mung an. Sie wirk­ten zau­ber­haft auf mich, und ich konn­te ihr nicht zür­nen. Manch­mal, wenn ich auf­brau­sen woll­te, ach­te­te sie nicht dar­auf und setz­te mit me­tho­di­scher Ruhe ihre Ar­beit fort.

End­lich war der letz­te Rie­men des Ran­zen ge­schnallt, und ich kam her­ab ins Erd­ge­schoss.

Die­sen Tag über ka­men die Ab­lie­fe­run­gen von phy­si­ka­li­schen In­stru­men­ten, Waf­fen, elek­tri­schen Ap­pa­ra­ten noch häu­fi­ger. Die gute Mar­tha ver­lor den Kopf.

»Ist der Herr ein Narr ge­wor­den?« sag­te sie zu mir.

Ich mach­te ein Zei­chen der Be­ja­hung.

»Und er nimmt Sie mit?«

Glei­ches Ja.

»Wo­hin soll’s ge­hen?« frag­te sie.

Ich deu­te­te mit dem Fin­ger nach dem In­nern der Erde.

»In den Kel­ler?« schrie die alte Die­ne­rin.

»Nein«, sag­te ich end­lich, »noch tiefer hin­ab!«

Der Abend kam. Ich wuss­te gar nicht mehr, wie die Zeit ver­flos­sen war.

»Mor­gen früh«, sag­te mein On­kel, »prä­zi­se sechs Uhr rei­sen wir ab.«

Um zehn Uhr sank ich wie eine trä­ge Mas­se auf mein Bett. Wäh­rend der Nacht kam mir wie­der die Angst.

Ich träum­te in ei­nem fort von Ab­grün­den! Ich ver­fiel dem Wahn­sinn. Ich fühl­te mich von des Pro­fes­sors star­ker Hand er­grif­fen, fort­ge­zo­gen, in einen Sch­lund ge­stürzt. Ich fiel in un­er­gründ­li­che Schluch­ten hin­ab mit der wach­sen­den Schnel­lig­keit fal­len­der Kör­per. Mein Le­ben war nur noch ein end­lo­ses Fal­len.

Um fünf Uhr wach­te ich auf, zer­schla­gen durch Er­schöp­fung und Auf­re­gung. Ich be­gab mich ins Spei­se­zim­mer hin­ab. Mein On­kel saß bei Ti­sche und schlang sein Früh­stück hin­un­ter. Ich blick­te ihn mit ei­ner Art Grau­en an. Aber Gret­chen war zu­ge­gen. Ich sprach nichts, konn­te nicht es­sen.

Um halb sechs Uhr hör­te man das Ras­seln ei­nes Wa­gens – in der Stra­ße. Es kam ein großer Wa­gen, uns auf die Al­to­na­er Ei­sen­bahn zu brin­gen. Er war bald mit den Col­lis1 mei­nes On­kels be­packt.

»Und dein Kof­fer?« sag­te er zu mir.

»Er ist fer­tig«, er­wi­der­te ich, und es ward mir schwach.

»So bring’ ihn rasch her­ab, oder du bist schuld, dass wir den Zug ver­feh­len!«

Ge­gen mein Ge­schick an­zu­kämp­fen, schi­en mir da­mals un­mög­lich. Ich be­gab mich wie­der in mei­ne Kam­mer, ließ mei­nen Ran­zen die Trep­pe hin­a­b­rut­schen und folg­te hin­ter­drein.

In die­sem Au­gen­blick gab mein On­kel die »Zü­gel« sei­nes Hau­ses in Gret­chens Hän­de. Mei­ne hüb­sche Vier­län­de­rin be­wahr­te ihre ge­wohn­te Ruhe. Sie um­arm­te ih­ren Vor­mund, konn­te aber, als sie mei­ne Wan­ge mit ih­ren sü­ßen Lip­pen be­rühr­te, eine Trä­ne nicht zu­rück­hal­ten.

Martha und das Mädchen verabschiedeten sich ein letztes Mal von uns.

»Gret­chen!« rief ich aus.

»Geh’ lie­ber Axel, geh’«, sag­te sie zu mir, »du ver­läs­sest dei­ne Braut, aber bei der Rück­kehr fin­dest du dei­ne Frau.«

Ich schloss Gret­chen in mei­ne Arme, dann setz­te ich mich in den Wa­gen. Mar­tha und das jun­ge Mäd­chen sag­ten uns von der Schwel­le des Hau­ses aus Le­be­wohl. Da­rauf rann­ten die Pfer­de, durch das Pfei­fen ih­res Kut­schers an­ge­regt, im Ga­lopp über die Al­to­na­er Stra­ße.

1 Kol­lo (Plu­ral Kol­li, oft auch Col­li, von ita­lie­nisch col­lo bzw. fran­zö­sisch co­lis, engl. tra­ding unit) be­zeich­net die kleins­te Ein­heit ei­ner Wa­ren­sen­dung. Hier: Stück­gut. <<<

Achtes Kapitel

Von Al­to­na aus, wel­ches zum Weich­bild Ham­burgs ge­hört, führt eine Ei­sen­bahn nach Kiel, wo wir ans Ufer des Belt ge­lang­ten. In zwan­zig Mi­nu­ten ka­men wir auf hol­stei­ni­sches Ge­biet.

Um halb sie­ben hielt der Wa­gen vorm Bahn­hof; die zahl­rei­chen Col­lis mei­nes On­kels, sei­ne um­fang­rei­chen Rei­se­ar­ti­kel wur­den ab­ge­la­den, trans­por­tiert, ge­wo­gen, eti­ket­tiert, in den Ge­päck­wa­gen ge­bracht, und um sie­ben Uhr sa­ßen wir in der­sel­ben Wag­go­n­ab­tei­lung ein­an­der ge­gen­über. Der Dampf zisch­te, die Lo­ko­mo­ti­ve setz­te sich in Be­we­gung. Wir be­fan­den uns un­ter­wegs.

Ich hat­te mich noch nicht drein­ge­fun­den. Doch wirk­ten die fri­sche Mor­gen­luft, die bei der Schnel­lig­keit der Fahrt rasch er­neu­er­ten Ein­drücke dar­auf­hin, mich durch Zer­streu­ung aus mei­ner großen Be­fan­gen­heit zu rei­ßen.

Die Ge­dan­ken des Pro­fes­sors eil­ten of­fen­bar dem Zug vor­aus, der für sei­ne Un­ge­duld zu lang­sam fuhr. Wir be­fan­den uns al­lein in dem Wag­gon, spra­chen aber kein Wort mit­ein­an­der. Mein On­kel durch­mus­ter­te sei­ne Ta­schen und sei­nen Rei­se­sack mit sorg­fäl­ti­ger Acht­sam­keit. Ich sah wohl, dass es ihm für die Aus­füh­rung sei­ner Plä­ne an nichts man­gel­te.

Un­ter an­de­rem hat­te er ein sorg­fäl­tig zu­sam­men­ge­leg­tes Blatt Pa­pier, mit dem Wap­pen der dä­ni­schen Kanz­lei und der Un­ter­schrift des dä­ni­schen Kon­suls zu Ham­burg, der ein Freund des Pro­fes­sors war. Mit Hil­fe des­sel­ben konn­ten wir leicht in Ko­pen­ha­gen Emp­feh­lun­gen an den Gou­ver­neur von Is­land be­kom­men.

Ich be­merk­te auch das merk­wür­di­ge Do­ku­ment in der ge­heims­ten Ta­sche des Por­te­feuil­les aufs sorg­fäl­tigs­te auf­ge­ho­ben. Ich ver­fluch­te es aus Her­zens­grund und sah mir das Land an. Es war eine un­ge­heu­re Rei­he we­nig merk­wür­di­ger Ebe­nen, die ein­för­mig, schlam­mig und ziem­lich frucht­bar wa­ren: Eine Land­schaft, die zur An­la­ge von Ei­sen­bah­nen sehr ge­eig­net war und ge­ra­de Li­ni­en zuließ, wel­che den Ei­sen­bahn­ge­sell­schaf­ten so er­wünscht sind.

Aber die­se Ein­för­mig­keit konn­te mir nicht ein­mal lang­wei­lig wer­den, denn be­reits drei Stun­den nach un­se­rer Ab­fahrt hielt der Zug in Kiel zwei Schrit­te vom Meer.

Da un­ser Ge­päck nach Ko­pen­ha­gen ein­ge­schrie­ben war, brauch­ten wir uns nicht dar­um zu be­küm­mern. Doch wur­de es von dem Pro­fes­sor wäh­rend des Trans­ports zum Dampf­boot mit sorg­li­chen Au­gen über­wacht. Hier wur­de es im un­tern Schiffs­raum ge­bor­gen.

Mein On­kel hat­te bei sei­ner über­mä­ßi­gen Eile die Stun­den des An­schlus­ses von Dampf­boot und Ei­sen­bahn so wohl be­rech­net, dass wir einen vol­len Tag zu ver­lie­ren hat­ten. Das Dampf­boot El­le­no­ra ging nicht vor Abend ab. Daraus ent­sprang ein neun­stün­di­ger Fie­ber­zu­stand, wäh­rend­des­sen der zorn­wü­ti­ge Rei­sen­de die Ver­wal­tung der Boo­te und der Ei­sen­bah­nen zum Teu­fel wünsch­te, samt den Re­gie­run­gen, wel­che der­glei­chen Miss­stän­de ge­stat­te­ten. Ich muss­te dar­in ein­stim­men, als er den Ka­pi­tän der El­le­no­ra dar­über zur Rede stell­te. Er woll­te ihn nö­ti­gen, un­ver­züg­lich hei­zen zu las­sen. Der aber hieß ihn sei­nes We­ges ge­hen.

In Kiel muss wohl, wie an­der­wärts, ein Tag hin­zu­brin­gen sein. Wir gin­gen an den grü­nen Ufern der Bai, in de­ren Hin­ter­grund das Städt­chen sich er­hebt, spa­zie­ren, durch­lie­fen die be­laub­ten Ge­bü­sche, wel­che ihm das Aus­se­hen ei­nes Nes­tes un­term Ge­zweig ge­ben, die Vil­len zu be­wun­dern, wel­che sämt­lich mit Ba­de­häus­chen ver­se­hen sind; so kam un­ter Her­um­lau­fen und Flu­chen zehn Uhr abends her­an.

Die Rauch­wol­ken der El­le­no­ra wir­bel­ten in die Lüf­te; das Ver­deck zit­ter­te un­ter den Stö­ßen des Dampf­kes­sels; wir be­fan­den uns an Bord im Be­sitz von zwei La­ger­stät­ten über­ein­an­der in der ein­zi­gen Kam­mer des Boo­tes.

 

Um zehn Uhr fünf­zehn Mi­nu­ten wur­den die An­ker ge­lich­tet und der Damp­fer fuhr rasch über die dunklen Flu­ten des Gro­ßen Belt.

Es war dunkle Nacht, ein hüb­scher See­wind, und das Meer stark wo­gend; ei­ni­ge Feu­er an der Küs­te schim­mer­ten durch die Fins­ter­nis; spä­ter, ich weiß nicht wo, glänz­te ein Leucht­turm hell über den Flu­ten.

Um sie­ben Uhr früh lan­de­ten wir zu Kor­sör, ei­nem Städt­chen an der West­küs­te See­lands. Hier stie­gen wir un­ver­züg­lich in den Wag­gon ei­ner neu­en Ei­sen­bahn und fuh­ren durch eine Land­schaft, die nicht min­der flach war, als die Ebe­nen Hol­steins.

Nach drei Stun­den lang­ten wir in der Haupt­stadt Dä­ne­marks an. Mein On­kel hat­te die gan­ze Nacht kein Auge ge­schlos­sen. Ich glau­be, in sei­ner Un­ge­duld trat er den Wag­gon mit Fü­ßen.

End­lich ge­wahr­te er eine Mün­dung ins Meer.

»Der Sund!« rief er.

Zu un­se­rer Lin­ken be­fand sich ein un­ge­heu­rer Bau, der ei­nem Spi­tal glich.

»Das ist ein Ir­ren­haus«, sag­te ei­ner un­se­rer Rei­se­ge­fähr­ten.

»Gut«, dach­te ich, »da soll­ten wir bis ans Ende un­se­rer Tage blei­ben! Und so groß dies Spi­tal ist, so wäre es doch zu klein für alle Narr­heit des Pro­fes­sors Li­den­b­rock!«

End­lich, um zehn Uhr, stie­gen wir zu Ko­pen­ha­gen aus; das Ge­päck wur­de auf einen Wa­gen ge­la­den und mit uns zum Ho­tel Phö­nix in Bred-Gale ge­fah­ren. Das dau­er­te eine hal­be Stun­de, denn der Bahn­hof liegt au­ßer­halb der Stadt. Da­rauf nahm mein On­kel, nach­dem er ein we­nig sei­ne Toi­let­te ge­ord­net, mich mit sich. Der Por­tier des Ho­tels sprach deutsch und eng­lisch, aber der Pro­fes­sor, der vie­ler Spra­chen kun­dig war, frag­te ihn auf gut dä­nisch, und in gu­tem Dä­nisch gab ihm der Mann an, wo das Mu­se­um der Nor­di­schen Al­ter­tüm­mer lag.

In die­ser merk­wür­di­gen An­stalt sind eine Men­ge wun­der­ba­rer Din­ge auf­ge­sta­pelt, wor­aus man die Ge­schich­te des Lan­des mit sei­nen al­ten Stein­waf­fen, sei­nen Hum­pen und Schmuck­sa­chen wie­der auf­bau­en könn­te. Der Di­rek­tor des­sel­ben, der ge­lehr­te Pro­fes­sor Thom­son, war ein Freund des ham­bur­gi­schen Kon­suls.

Mein On­kel hat­te einen Brief an den­sel­ben, der ihn warm emp­fahl. Im All­ge­mei­nen emp­fängt ein Ge­lehr­ter den an­de­ren ziem­lich schlecht. Aber hier war’s ganz an­ders. Herr Thom­son als dienst­fer­ti­ger Mann ließ dem Pro­fes­sor Li­den­b­rock, und selbst sei­nem Nef­fen einen herz­li­chen Emmpfang zu­teil wer­den. Dass mein On­kel dem treff­li­chen Di­rek­tor ge­gen­über sein Ge­heim­nis be­wahr­te, brauch’ ich kaum zu sa­gen. Un­se­re Ab­sicht war ganz ein­fach, als Lieb­ha­ber ohne In­ter­es­se Is­land zu be­su­chen.

Herr Thom­son stell­te sich uns ganz zur Ver­fü­gung, und wir lie­fen über die Quais, um ein ab­fah­ren­des Schiff auf­zu­su­chen.

Ich hoff­te, es wer­de ganz an Be­för­de­rungs­mit­teln feh­len, aber ich täusch­te mich. Eine klei­ne dä­ni­sche Cor­vet­te, die Val­ky­rie, soll­te am 2. Juni nach Rey­kja­wik un­ter Se­gel ge­hen. Der Ka­pi­tän, Herr Bjar­ne, be­fand sich an Bord. Sein dem­nächs­ti­ger Pas­sa­gier drück­te ihm in sei­ner Freu­de tüch­tig die Hän­de. Der wa­cke­re Mann war über die­se Herz­lich­keit et­was be­trof­fen. Er fand es ganz ein­fach, dass er, wie es ihm ob­lag, nach Is­land fah­re. Mei­nem On­kel kam das als et­was Er­ha­be­nes vor. Der wür­di­ge Ka­pi­tän be­nutz­te die­sen En­thu­si­as­mus, um uns für die Über­fahrt dop­pelt be­zah­len zu las­sen. Aber wir mach­ten uns dar­aus nicht viel.

Herr Bjar­ne strich eine an­sehn­li­che Sum­me Spe­zies­ta­ler ein und sag­te: »Er­schei­nen Sie Diens­tag um sie­ben Uhr früh an Bord.«

Wir dank­ten Herrn Thom­son für sei­ne Be­mü­hung und be­ga­ben uns ins Ho­tel Phö­nix zu­rück.

»Das geht ja schön! Recht schön!« sprach mein On­kel. »Welch glück­li­cher Zu­fall, dass wir dies Schiff zum Ab­fah­ren be­reit fan­den! Jetzt wol­len wir früh­stücken und dann die Stadt be­se­hen.«

Wir be­ga­ben uns zum Kon­gens-Nye-Torw, ei­nem un­re­gel­mä­ßi­gen Platz, wo sich ein Pos­ten be­fand mit zwei auf­ge­protz­ten un­schul­di­gen Ka­no­nen, die kei­nem Men­schen Angst ma­chen. Dicht da­ne­ben, Nr. 5, be­fand sich eine fran­zö­si­sche »Re­stau­ra­ti­on«, die von ei­nem Koch na­mens Vin­cent ge­hal­ten wur­de. Wir früh­stück­ten da­selbst hin­läng­lich für den mä­ßi­gen Preis von vier Mark die Per­son.

Her­nach freu­te ich mich wie ein Kind, die Stadt zu be­se­hen; mein On­kel ließ sich füh­ren; üb­ri­gens sah er nichts, we­der den un­be­deu­ten­den Kö­nigs­pa­last, noch die hüb­sche Brücke aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert, die vor dem Mu­se­um über den Kanal führt, noch das un­ge­heu­re Grab­mal Thor­wald­sens, das an den Wän­den mit ab­scheu­li­chen Ge­mäl­den ge­ziert ist und die Wer­ke die­ses Bild­hau­ers ent­hält, noch in ei­nem ziem­lich schö­nen Park das al­ler­liebs­te Schloss Ro­sen­berg, noch den be­wun­derns­wer­ten Rea­nissance-Bau der Bör­se, noch de­ren Turm, der aus den ver­schlun­ge­nen Schwän­zen von vier bron­ze­nen Dra­chen ge­bil­det ist, noch die großen Müh­len der Fes­tungs­wer­ke, de­ren un­ge­heu­re Flü­gel gleich den Se­geln ei­nes Schif­fes im See­wind schwel­len.

Was könn­ten wir da, mei­ne hüb­sche Vier­län­de­rin mit mir, für köst­li­che Spa­zier­gän­ge ma­chen längs des Ha­fens, wo die Zwei­de­cker und Fre­gat­ten un­ter ih­rer ro­ten Be­da­chung ruh­ten, an dem grü­nen Ge­sta­de der Meeren­ge, durch das schat­ti­ge Busch­werk, in des­sen Scho­ße die Zi­ta­del­le sich birgt, de­ren Ka­no­nen zwi­schen Ho­lun­der und Wei­den­ge­zweig ihre schwar­ze Mün­dung her­vor­stre­cken!

Aber ach! Mein ar­mes Gret­chen war fern, und konn­te ich hof­fen, sie je­mals wie­der­zu­se­hen?

Mein On­kel je­doch hat­te kein Auge für die­se rei­zen­den Ge­gen­den; umso mehr aber ge­fiel ihm ein Glock­en­turm der In­sel Amak, wel­che den süd­west­li­chen Teil Ko­pen­ha­gens bil­det.

Wir rich­te­ten un­se­re Schrit­te dort­hin, be­stie­gen ein klei­nes Dampf­fahr­zeug, wel­ches zum Ver­kehr auf den Kanä­len diente, und in ei­ni­gen Au­gen­bli­cken leg­te es am Quai Dock-Yard an.

Nach­dem wir durch ei­ni­ge enge Stra­ßen ge­kom­men, wo Ga­lee­ren­sträf­lin­ge in halb gel­ben, halb grau­en Ho­sen un­ter dem Stock der Pro­fo­sen ar­bei­te­ten, ka­men wir vor Frels­ers-Kirk. Die­se Kir­che bie­tet nichts Merk­wür­di­ges. Da­ge­gen wur­de die Auf­merk­sam­keit des Pro­fes­sors durch einen ziem­lich ho­hen Turm an­ge­zo­gen, um des­sen Spit­ze sich von der Platt­form an au­ßen im Frei­en eine Trep­pe spi­ral­för­mig win­det.

Der Turm von Frelsers-Kirk

»Stei­gen wir hin­auf«, sag­te mein On­kel.

»Aber der Schwin­del?« ent­geg­ne­te ich.

»Umso mehr, man muss sich ge­wöh­nen.«

»Doch …«

»Kom­m’, sag’ ich dir, wir ha­ben kei­ne Zeit zu ver­lie­ren.«

Ich muss­te mich fü­gen. Ein Auf­se­her, der ge­gen­über wohn­te, stell­te uns einen Schlüs­sel zu, und wir be­gan­nen hin­auf­zu­stei­gen. Mein On­kel ging mit mun­term Schritt vor­an. Ich folg­te nicht ohne Angst nach, denn es ward mir sehr leicht schwin­de­lig. Es ging mir die Hal­tung des Ad­lers und die Un­emp­find­lich­keit sei­ner Ner­ven ab.

So­lan­ge wir uns in der in­nern Schne­cke be­fan­den, ging al­les gut. Aber nach etwa hun­dert­und­fünf­zig Stu­fen weh­te mir die Luft ins Ge­sicht; wir wa­ren bis zur Platt­form ge­kom­men, von wo aus die Trep­pe in frei­er Luft be­gann, mit ei­nem schwa­chen Ge­län­der und Stu­fen, die stets en­ger wur­den und bis zum Unend­li­chen zu füh­ren schie­nen.

»Es ist mir nicht mög­lich! Nie­mals!« schrie ich.

»Soll­test du wohl so fei­ge sein? Steig’!« er­wi­der­te un­barm­her­zig der Pro­fes­sor.

Ich muss­te durch­aus ihm fol­gen und klam­mer­te mich an.

In der frei­en Luft schwand mir die Be­sin­nung; ich fühl­te bei den hef­ti­gen Wind­stö­ßen den Turm schwan­ken, mei­ne Bei­ne ver­sag­ten mir den Dienst; ich rutsch­te bald auf den Kni­en, dann auf dem Leib; ich schloss die Au­gen, es wur­de mir übel.

End­lich, in­dem mein On­kel mich am Kra­gen fass­te, kam ich bei der Ku­gel an.

»Jetzt schau’«, sag­te er, »und schaue recht! Du musst ler­nen, in einen Ab­grund bli­cken!«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?