Da mein Onkel die Frage auf das Gebiet der Hypothesen verpflanzte, so hatte ich nichts darauf zu erwidern.
»Nun denn, ich will dir nur sagen, dass echte Gelehrte, wie Poison unter anderen, bewiesen haben, dass, wenn im Innern des Erdballs eine Hitze von zweimalhunderttausend Grad existierte, das aus den zerschmolzenen Stoffen erzeugte glühende Gas eine solche Spannkraft erlangen würde, dass die Erdrinde nicht mehr Widerstand zu leisten vermöchte und zerspringen würde, wie die Wände eines Dampfkessels durch die Ausdehnung des Dampfes.«
»Das ist Poisons Ansicht, lieber Onkel, nichts weiter.«
»Einverstanden, aber es ist auch die Ansicht anderer ausgezeichneter Geologen, dass das Innere des Erdballs weder aus Gas, noch Wasser, noch schwereren Steinen besteht, als die wir kennen, denn in diesem Fall würde die Erde ein zweifach geringeres oder verdoppeltes Gewicht haben.«
»O! Mit Ziffern beweist man alles, was man will!«
»Und ist’s mit Tatsachen, lieber Junge, ebenso? Ist’s nicht ausgemacht, dass die Zahl der Vulkane seit den ersten Tagen der Welt beständig abgenommen hat? Und wenn es eine Zentralwärme gibt, kann man nicht daraus schließen, dass sie immer schwächer wird?«
»Lieber Onkel, wenn du dich aufs Feld der Voraussetzungen begibst, hab’ ich nicht mehr zu reden.«
»Und ich habe zu sagen, dass die Ansichten der berufensten Männer mit der meinigen übereinstimmen. Erinnerst du dich, wie mir im Jahre 1825 der berühmte englische Chemiker Humphry Davy einen Besuch machte.«
»Durchaus nicht, denn ich kam erst neunzehn Jahre später auf die Welt.«
»Nun, Humphry Davy besuchte mich auf einer Durchreise nach Hamburg. Wir besprachen uns lange, unter anderm über die Hypothese der Flüssigkeit des innern Kerns der Erde. Wir waren einstimmig darin, dass die Flüssigkeit nicht möglich sei, aus einem Grunde, worauf die Wissenschaft nie eine Antwort gefunden hat.«
»Und welcher ist das?« fragte ich etwas betroffen.
»Weil diese flüssige Masse gleich dem Ozean der Anziehung von seiten des Mondes ausgesetzt wäre, und folglich zweimal täglich im Innern Ebbe und Flut entstehen würden, welche durch Emporheben des Erdbodens zu periodischen Erdbeben Anlass gäben.«
»Aber es ist doch unverkennbar, dass die Erdoberfläche der Verbrennung ausgesetzt gewesen ist, und man darf annehmen, dass die äußere Kruste sich erst abkühlte, während die Hitze sich zum Zentrum zurückzog.«
»Irrtum«, erwiderte mein Onkel; »die Erde ist erst durch Verbrennung ihrer Oberfläche in Hitze geraten, nicht anders. Ihre Oberfläche bestand aus einer großen Quantität von Metallen, wie Potassium und Sodium, welche die Eigenschaft haben, bei der bloßen Berührung mit Luft und Wasser in Brand zu geraten. Diese Metalle gerieten in Brand, als die atmosphärischen Dünste als Regen auf den Boden herabkamen; und allmählich, als die Gewässer durch die Ritzen der Erdrinde drangen, veranlassten sie abermals Brand mit Explosionen und Ausbrüchen. Daher die zahlreichen Vulkane in der ersten Zeit der Welt.«
»Das ist doch eine sinnreiche Hypothese!« rief ich etwas wider Willen.
»Und Humphry Davy machte mir’s durch ein sehr einfaches Experiment erkennbar. Er verfertigte eine metallene Kugel hauptsächlich aus den Metallen, wovon ich eben sprach, als ein vollständiges Ebenbild unseres Erdballs. Als man dieselbe mit einem feinen Tau auf ihrer Oberfläche benetzte, schwoll sie auf, oxydierte und bildete ein kleines Gebirge; an dessen Spitze öffnete sich ein Krater, und es fand ein Ausbruch statt, und teilte der Kugel eine solche Hitze mit, dass man sie nicht mehr in der Hand halten konnte.«
Wahrlich, die Beweisgründe des Professors fingen an, auf mich Eindruck zu machen; er machte sie zudem mit seiner gewöhnlichen Leidenschaft und seinem Enthusiasmus geltend.
»Du siehst, Axel«, fügte er bei, »der Zustand des innern Kerns hat verschiedene Hypothesen unter den Geologen veranlasst; nichts ist weniger bewiesen, als die Tatsache einer innern Hitze; meiner Ansicht nach ist sie nicht vorhanden, könnte nicht vorhanden sein; doch, wir werden’s sehen, und werden, wie Arne Saknussemm, dann wissen, woran man sich hinsichtlich dieser Frage zu halten habe.«
»Nun ja!« erwiderte ich, indem ich diesen Enthusiasmus zu teilen anfing, »ja, wir werden’s sehen, wenn man jedoch dort sehen kann?«
»Und warum nicht? Können wir nicht auf elektrische Erscheinungen rechnen, die uns Licht gewähren, und selbst auf die Atmosphäre, welche bei Annäherung an das Zentrum durch ihren Druck leuchtend werden kann?«
»Ja«, sagte ich, »ja! Das ist möglich nach allem.«
»Das ist gewiss«, erwiderte mein Onkel triumphierend; »aber nur stille, verstehst du? Kein Wort von alle diesem; kein Mensch soll die Idee bekommen, vor uns das Zentrum der Erde zu entdecken.«
So schloss diese merkwürdige Unterredung. Ich war fieberhaft angeregt. Ich verließ ganz verblüfft das Kabinett meines Onkels, und die Luft Hamburgs reichte nicht aus, um mich darin zu erholen. Ich eilte daher an das Elbufer nach der Dampffähre hin, welche zur Verbindung der Stadt mit der Hamburger Eisenbahn dient.
War ich von dem, was man mich eben gelehrt hatte, überzeugt? War ich nicht vielmehr dem Professor Lidenbrock erlegen? Sollte ich im Ernst nehmen, dass er entschlossen sei, zum Zentrum des Erdkörpers zu dringen? Hörte ich soeben die tollen Spekulationen eines Narren, oder die wissenschaftliche Darlegung eines großen Genies? Bei allem, wo hörte die Wahrheit auf, begann der Irrtum?
Ich schwankte zwischen tausend sich widersprechenden Hypothesen, ohne mich an einer festhalten zu können.
Doch erinnerte ich mich, dass ich überzeugt war, obwohl mein Enthusiasmus anfing mäßiger zu werden; aber ich hatte unverzüglich abreisen wollen, ohne mir Zeit zum Überlegen zu lassen. Ja, es hätte mir nicht an Mut gefehlt, augenblicklich meinen Ranzen zu schnallen.
Doch muss ich gestehen, eine Stunde hernach war diese Überreizung schon gesunken, die Spannung meiner Nerven ließ nach, und kam wieder aus den Abgründen der Erde zur Oberfläche empor.
»Das ist ja lächerlich!« sagte ich mir; »es hat keinen rechten Verstand! Solch einen Vorschlag kann man einem verständigen Jungen nicht im Ernst machen. Das alles ist eitel nichts. Ich habe übel geschlafen, einen schlimmen Traum gehabt.«
Inzwischen war ich längs dem Ufer der Elbe um die Stadt herumgekommen und auf die Straße nach Altona. Es hatte mich eine richtige Ahnung diesen Weg geführt, denn ich bemerkte bald mein liebes Gretchen, das raschen Schrittes tapfer nach Hamburg heimging.
So erreichte ich das Ufer der Elbe.
»Gretchen!« rief ich ihr von weitem zu.
Das Mädchen stand stille, etwas betroffen, schien es, auf offener Straße so angerufen zu werden. Mit zehn Schritten war ich bei ihr.
»Axel!« sagte sie überrascht. »Du bist mir entgegen gegangen, das ist ja recht hübsch.«
Als nun aber Gretchen mich ansah, entging ihr mein unruhiges, verstörtes Aussehen nicht.
»Was ist dir?« sagte sie, mir die Hand reichend.
»Was mir ist, Gretchen!« rief ich.
Und in zwei Sekunden, in drei Sätzen hatte ich meine hübsche Vierländerin über die Lage der Dinge in Kenntnis gesetzt. Einige Augenblicke schwieg sie. Ob ihr Herz gleich dem meinigen klopfte, weiß ich nicht, aber ihre Hand in der meinigen zitterte nicht. Hundert Schritte gingen wir stumm nebeneinander her.
»Axel!« sagte sie endlich.
»Liebes Gretchen!«
»Das wird eine schöne Reise sein.«
Ich sprang auf bei diesen Worten.
»Ja, Axel, eine Reise, des Neffen eines Gelehrten würdig. Ein Mann muss sich durch ein großes Unternehmen auszeichnen!«
»Wie? Gretchen, du rätst mir nicht von solch einem Unternehmen ab?«
»Nein, lieber Axel, und ich würde euch gerne begleiten, wenn nicht ein armes Mädchen ein Hindernis für euch wäre.«
»Ist das wirklich dein Ernst?«
»Wirklich.«
Ach. Wie sind doch Frauen, junge Mädchen, weibliche Herzen stets unbegreiflich! Seid ihr nicht die schüchternsten Wesen, so seid ihr die tapfersten! Vernunft hat bei euch keine Geltung. Wie? dieses Kind ermunterte mich, die Reise mitzumachen! Sie hatte keine Furcht vor einer abenteuerlichen Fahrt! Sie drängte mich dazu, den sie doch liebte.
Ich war verlegen und, offen zu sagen, schämte ich mich.
»Gretchen«, fuhr ich fort, »wir wollen sehen, ob du morgen noch ebenso sprichst.«
»Morgen, lieber Axel, werd’ ich reden, wie heute.«
Wir gingen Hand in Hand, aber in tiefem Schweigen unseres Weges weiter. Die Gemmütsbewegungen des Tages hatten mich kleinlaut gemacht.
»Immerhin«, dachte ich, »ist der erste Juli noch weit entfernt, und bis dahin kann noch manches vorgehen, was meinen Onkel von der tollen Lust, eine Reise unter die Erde zu machen, heilen mag.«
Es war schon Nacht geworden, als wir bei dem Hause der Königstraße anlangten. Ich hatte vermutet, wir träfen die Wohnung ruhig, meinen Onkel, wie gewöhnlich, schon zu Bette und Martha mit Abstauben des Speisezimmers beschäftigt.
Aber ich hatte die Ungeduld des Professors nicht in Anschlag gebracht. Ich fand ihn unter einer Truppe Lastträger, welche allerhand Waren in die Allee brachten, mit lautem Geschrei hin und her rennend; die alte Dienerin wusste nicht, wo ihr der Kopf stand.
»Aber, so komm doch, Axel; eile doch, Unglückseliger!« rief mein Onkel schon von weitem, wie er mich erblickte. »Und dein Koffer ist noch nicht gepackt, und meine Papiere noch nicht geordnet, und der Schlüssel meines Reisesacks nicht zu finden, und meine Gamaschen bleiben aus!«
Ich fand meinen Onkel schreiend und zeternd.
Ich war wie vom Donner gerührt, die Stimme versagte mir. Kaum vermochten meine Lippen die Worte hervorzubringen:
»Also reisen wir ab?«
»Ja, Unglückseliger, und du gehst spazieren, anstatt bei der Hand zu sein!«
»Wir reisen ab?« fragte ich nochmals mit schwacher Stimme.
»Ja, übermorgen in aller Frühe.«
Ich konnte nichts weiter anhören und flüchtete in mein Zimmerchen.
Es war nicht mehr daran zu zweifeln. Mein Onkel hatte den Nachmittag dazu verwendet, einen Teil der Reisebedürfnisse anzuschaffen: die Allee lag voll Strickleitern, Fackeln, Reiseflaschen, eisernen Haken, Spitzhauen, beschlagenen Stöcken, Spaten – wofür man zehn Mann wenigstens zum Herbeischleppen brauchte.
Ich brachte eine entsetzliche Nacht zu. Am folgenden Morgen hörte ich schon früh mich anrufen. Ich war entschlossen, meine Tür nicht zu öffnen. Aber wie hätte ich einer so süßen Stimme widerstehen können, die mir zurief: »Lieber Axel!«
Ich ging aus meiner Kammer und dachte, mein verstörtes, blasses Aussehen, meine roten Augen würden auf Gretchen wirken, dass sie ihre Gedanken änderte.
»Nun! Mein lieber Axel«, sagte sie zu mir, »ich sehe, du befindest dich besser, und die Nacht hat dich beruhigt.«
»Beruhigt!« rief ich.
Ich eilte vor meinen Spiegel. Ei nun! Ich sah nicht so übel aus, als ich gedacht hatte. Kaum glaublich.
»Axel«, sprach Gretchen zu mir, »ich habe lange mit meinem Vormund geplaudert. Es ist ein kühner Gelehrter, ein mutiger Mann, und du wirst dich erinnern, dass sein Blut in deinen Adern fließt. Er hat mir von seinen Plänen erzählt, von seinen Hoffnungen, weshalb und wie er seinen Zweck zu erreichen hofft. Ich zweifle nicht, dass er ihn erreichen wird. Ach! Lieber Axel, wie schön ist’s, sich so seiner Wissenschaft zu widmen! Welcher Ruhm wird Herrn Lidenbrock zuteil werden, und auf seinen Genossen zurückstrahlen! Bei der Rückkehr wirst du ein Mann sein, seinesgleichen, frei zu reden, zu handeln, frei endlich zu …«
Errötend stockte das Mädchen. Seine Worte machten mir wieder Mut. Dennoch wollte ich noch nicht an unsere Abreise glauben. Ich zog Gretchen mit mir zu dem Zimmer des Professors.
»Lieber Onkel«, sagte ich, »es ist also ausgemacht, dass wir abreisen?«
»Wie? Du zweifelst daran?«
»Nein«, sagte ich, um ihm nicht zu widersprechen. »Nur möcht’ ich Sie fragen, ob es so Eile damit hat.«
»Jawohl! Die Zeit drängt! Die Zeit, die unwiederbringlich schnell entflieht!«
»Wir haben ja doch erst den 26. Mai, und bis zu Ende Juni …«
»Hm! Meinst du denn, Unwissender, dass man so leicht nach Island komme? Wärest du nicht wie ein Narr von mir gelaufen, so hätte ich dich mit auf das Kopenhagener Büro, zu Liffender & Cie., genommen. Da hättest du erfahren, dass von Kopenhagen nach Reykjawik nur einmal monatlich, am 22., ein Boot abgeht.«
»Nun?«
»Nun? Wenn wir bis zum 22. Juni warteten, würden wir zu spät kommen, um zu sehen, wie ›des Scartaris Schatten den Krater des Sneffels liebkost‹. Wir müssen daher so schnell wie möglich nach Kopenhagen kommen, um daselbst für die Überfahrt ein Beförderungsmittel zu finden. Geh’ und pack’ deinen Koffer!«
Darauf war kein Wort zu erwidern. Ich begab mich wieder in mein Zimmer. Gretchen folgte mir nach und bemühte sich selbst, meine Reisebedürfnisse in einen kleinen Ranzen zu packen. Es ging ihr das nicht näher zu Herzen, als wenn sich’s um einen Ausflug nach Lübeck oder Helgoland handelte. Ihre kleinen Hände bewegten sich ohne Übereilung hin und her. Sie plauderte ruhig und führte mir die verständigsten Gründe zugunsten unserer Unternehmung an. Sie wirkten zauberhaft auf mich, und ich konnte ihr nicht zürnen. Manchmal, wenn ich aufbrausen wollte, achtete sie nicht darauf und setzte mit methodischer Ruhe ihre Arbeit fort.
Endlich war der letzte Riemen des Ranzen geschnallt, und ich kam herab ins Erdgeschoss.
Diesen Tag über kamen die Ablieferungen von physikalischen Instrumenten, Waffen, elektrischen Apparaten noch häufiger. Die gute Martha verlor den Kopf.
»Ist der Herr ein Narr geworden?« sagte sie zu mir.
Ich machte ein Zeichen der Bejahung.
»Und er nimmt Sie mit?«
Gleiches Ja.
»Wohin soll’s gehen?« fragte sie.
Ich deutete mit dem Finger nach dem Innern der Erde.
»In den Keller?« schrie die alte Dienerin.
»Nein«, sagte ich endlich, »noch tiefer hinab!«
Der Abend kam. Ich wusste gar nicht mehr, wie die Zeit verflossen war.
»Morgen früh«, sagte mein Onkel, »präzise sechs Uhr reisen wir ab.«
Um zehn Uhr sank ich wie eine träge Masse auf mein Bett. Während der Nacht kam mir wieder die Angst.
Ich träumte in einem fort von Abgründen! Ich verfiel dem Wahnsinn. Ich fühlte mich von des Professors starker Hand ergriffen, fortgezogen, in einen Schlund gestürzt. Ich fiel in unergründliche Schluchten hinab mit der wachsenden Schnelligkeit fallender Körper. Mein Leben war nur noch ein endloses Fallen.
Um fünf Uhr wachte ich auf, zerschlagen durch Erschöpfung und Aufregung. Ich begab mich ins Speisezimmer hinab. Mein Onkel saß bei Tische und schlang sein Frühstück hinunter. Ich blickte ihn mit einer Art Grauen an. Aber Gretchen war zugegen. Ich sprach nichts, konnte nicht essen.
Um halb sechs Uhr hörte man das Rasseln eines Wagens – in der Straße. Es kam ein großer Wagen, uns auf die Altonaer Eisenbahn zu bringen. Er war bald mit den Collis1 meines Onkels bepackt.
»Und dein Koffer?« sagte er zu mir.
»Er ist fertig«, erwiderte ich, und es ward mir schwach.
»So bring’ ihn rasch herab, oder du bist schuld, dass wir den Zug verfehlen!«
Gegen mein Geschick anzukämpfen, schien mir damals unmöglich. Ich begab mich wieder in meine Kammer, ließ meinen Ranzen die Treppe hinabrutschen und folgte hinterdrein.
In diesem Augenblick gab mein Onkel die »Zügel« seines Hauses in Gretchens Hände. Meine hübsche Vierländerin bewahrte ihre gewohnte Ruhe. Sie umarmte ihren Vormund, konnte aber, als sie meine Wange mit ihren süßen Lippen berührte, eine Träne nicht zurückhalten.
Martha und das Mädchen verabschiedeten sich ein letztes Mal von uns.
»Gretchen!« rief ich aus.
»Geh’ lieber Axel, geh’«, sagte sie zu mir, »du verlässest deine Braut, aber bei der Rückkehr findest du deine Frau.«
Ich schloss Gretchen in meine Arme, dann setzte ich mich in den Wagen. Martha und das junge Mädchen sagten uns von der Schwelle des Hauses aus Lebewohl. Darauf rannten die Pferde, durch das Pfeifen ihres Kutschers angeregt, im Galopp über die Altonaer Straße.
1 Kollo (Plural Kolli, oft auch Colli, von italienisch collo bzw. französisch colis, engl. trading unit) bezeichnet die kleinste Einheit einer Warensendung. Hier: Stückgut. <<<
Von Altona aus, welches zum Weichbild Hamburgs gehört, führt eine Eisenbahn nach Kiel, wo wir ans Ufer des Belt gelangten. In zwanzig Minuten kamen wir auf holsteinisches Gebiet.
Um halb sieben hielt der Wagen vorm Bahnhof; die zahlreichen Collis meines Onkels, seine umfangreichen Reiseartikel wurden abgeladen, transportiert, gewogen, etikettiert, in den Gepäckwagen gebracht, und um sieben Uhr saßen wir in derselben Waggonabteilung einander gegenüber. Der Dampf zischte, die Lokomotive setzte sich in Bewegung. Wir befanden uns unterwegs.
Ich hatte mich noch nicht dreingefunden. Doch wirkten die frische Morgenluft, die bei der Schnelligkeit der Fahrt rasch erneuerten Eindrücke daraufhin, mich durch Zerstreuung aus meiner großen Befangenheit zu reißen.
Die Gedanken des Professors eilten offenbar dem Zug voraus, der für seine Ungeduld zu langsam fuhr. Wir befanden uns allein in dem Waggon, sprachen aber kein Wort miteinander. Mein Onkel durchmusterte seine Taschen und seinen Reisesack mit sorgfältiger Achtsamkeit. Ich sah wohl, dass es ihm für die Ausführung seiner Pläne an nichts mangelte.
Unter anderem hatte er ein sorgfältig zusammengelegtes Blatt Papier, mit dem Wappen der dänischen Kanzlei und der Unterschrift des dänischen Konsuls zu Hamburg, der ein Freund des Professors war. Mit Hilfe desselben konnten wir leicht in Kopenhagen Empfehlungen an den Gouverneur von Island bekommen.
Ich bemerkte auch das merkwürdige Dokument in der geheimsten Tasche des Portefeuilles aufs sorgfältigste aufgehoben. Ich verfluchte es aus Herzensgrund und sah mir das Land an. Es war eine ungeheure Reihe wenig merkwürdiger Ebenen, die einförmig, schlammig und ziemlich fruchtbar waren: Eine Landschaft, die zur Anlage von Eisenbahnen sehr geeignet war und gerade Linien zuließ, welche den Eisenbahngesellschaften so erwünscht sind.
Aber diese Einförmigkeit konnte mir nicht einmal langweilig werden, denn bereits drei Stunden nach unserer Abfahrt hielt der Zug in Kiel zwei Schritte vom Meer.
Da unser Gepäck nach Kopenhagen eingeschrieben war, brauchten wir uns nicht darum zu bekümmern. Doch wurde es von dem Professor während des Transports zum Dampfboot mit sorglichen Augen überwacht. Hier wurde es im untern Schiffsraum geborgen.
Mein Onkel hatte bei seiner übermäßigen Eile die Stunden des Anschlusses von Dampfboot und Eisenbahn so wohl berechnet, dass wir einen vollen Tag zu verlieren hatten. Das Dampfboot Ellenora ging nicht vor Abend ab. Daraus entsprang ein neunstündiger Fieberzustand, währenddessen der zornwütige Reisende die Verwaltung der Boote und der Eisenbahnen zum Teufel wünschte, samt den Regierungen, welche dergleichen Missstände gestatteten. Ich musste darin einstimmen, als er den Kapitän der Ellenora darüber zur Rede stellte. Er wollte ihn nötigen, unverzüglich heizen zu lassen. Der aber hieß ihn seines Weges gehen.
In Kiel muss wohl, wie anderwärts, ein Tag hinzubringen sein. Wir gingen an den grünen Ufern der Bai, in deren Hintergrund das Städtchen sich erhebt, spazieren, durchliefen die belaubten Gebüsche, welche ihm das Aussehen eines Nestes unterm Gezweig geben, die Villen zu bewundern, welche sämtlich mit Badehäuschen versehen sind; so kam unter Herumlaufen und Fluchen zehn Uhr abends heran.
Die Rauchwolken der Ellenora wirbelten in die Lüfte; das Verdeck zitterte unter den Stößen des Dampfkessels; wir befanden uns an Bord im Besitz von zwei Lagerstätten übereinander in der einzigen Kammer des Bootes.
Um zehn Uhr fünfzehn Minuten wurden die Anker gelichtet und der Dampfer fuhr rasch über die dunklen Fluten des Großen Belt.
Es war dunkle Nacht, ein hübscher Seewind, und das Meer stark wogend; einige Feuer an der Küste schimmerten durch die Finsternis; später, ich weiß nicht wo, glänzte ein Leuchtturm hell über den Fluten.
Um sieben Uhr früh landeten wir zu Korsör, einem Städtchen an der Westküste Seelands. Hier stiegen wir unverzüglich in den Waggon einer neuen Eisenbahn und fuhren durch eine Landschaft, die nicht minder flach war, als die Ebenen Holsteins.
Nach drei Stunden langten wir in der Hauptstadt Dänemarks an. Mein Onkel hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Ich glaube, in seiner Ungeduld trat er den Waggon mit Füßen.
Endlich gewahrte er eine Mündung ins Meer.
»Der Sund!« rief er.
Zu unserer Linken befand sich ein ungeheurer Bau, der einem Spital glich.
»Das ist ein Irrenhaus«, sagte einer unserer Reisegefährten.
»Gut«, dachte ich, »da sollten wir bis ans Ende unserer Tage bleiben! Und so groß dies Spital ist, so wäre es doch zu klein für alle Narrheit des Professors Lidenbrock!«
Endlich, um zehn Uhr, stiegen wir zu Kopenhagen aus; das Gepäck wurde auf einen Wagen geladen und mit uns zum Hotel Phönix in Bred-Gale gefahren. Das dauerte eine halbe Stunde, denn der Bahnhof liegt außerhalb der Stadt. Darauf nahm mein Onkel, nachdem er ein wenig seine Toilette geordnet, mich mit sich. Der Portier des Hotels sprach deutsch und englisch, aber der Professor, der vieler Sprachen kundig war, fragte ihn auf gut dänisch, und in gutem Dänisch gab ihm der Mann an, wo das Museum der Nordischen Altertümmer lag.
In dieser merkwürdigen Anstalt sind eine Menge wunderbarer Dinge aufgestapelt, woraus man die Geschichte des Landes mit seinen alten Steinwaffen, seinen Humpen und Schmucksachen wieder aufbauen könnte. Der Direktor desselben, der gelehrte Professor Thomson, war ein Freund des hamburgischen Konsuls.
Mein Onkel hatte einen Brief an denselben, der ihn warm empfahl. Im Allgemeinen empfängt ein Gelehrter den anderen ziemlich schlecht. Aber hier war’s ganz anders. Herr Thomson als dienstfertiger Mann ließ dem Professor Lidenbrock, und selbst seinem Neffen einen herzlichen Emmpfang zuteil werden. Dass mein Onkel dem trefflichen Direktor gegenüber sein Geheimnis bewahrte, brauch’ ich kaum zu sagen. Unsere Absicht war ganz einfach, als Liebhaber ohne Interesse Island zu besuchen.
Herr Thomson stellte sich uns ganz zur Verfügung, und wir liefen über die Quais, um ein abfahrendes Schiff aufzusuchen.
Ich hoffte, es werde ganz an Beförderungsmitteln fehlen, aber ich täuschte mich. Eine kleine dänische Corvette, die Valkyrie, sollte am 2. Juni nach Reykjawik unter Segel gehen. Der Kapitän, Herr Bjarne, befand sich an Bord. Sein demnächstiger Passagier drückte ihm in seiner Freude tüchtig die Hände. Der wackere Mann war über diese Herzlichkeit etwas betroffen. Er fand es ganz einfach, dass er, wie es ihm oblag, nach Island fahre. Meinem Onkel kam das als etwas Erhabenes vor. Der würdige Kapitän benutzte diesen Enthusiasmus, um uns für die Überfahrt doppelt bezahlen zu lassen. Aber wir machten uns daraus nicht viel.
Herr Bjarne strich eine ansehnliche Summe Speziestaler ein und sagte: »Erscheinen Sie Dienstag um sieben Uhr früh an Bord.«
Wir dankten Herrn Thomson für seine Bemühung und begaben uns ins Hotel Phönix zurück.
»Das geht ja schön! Recht schön!« sprach mein Onkel. »Welch glücklicher Zufall, dass wir dies Schiff zum Abfahren bereit fanden! Jetzt wollen wir frühstücken und dann die Stadt besehen.«
Wir begaben uns zum Kongens-Nye-Torw, einem unregelmäßigen Platz, wo sich ein Posten befand mit zwei aufgeprotzten unschuldigen Kanonen, die keinem Menschen Angst machen. Dicht daneben, Nr. 5, befand sich eine französische »Restauration«, die von einem Koch namens Vincent gehalten wurde. Wir frühstückten daselbst hinlänglich für den mäßigen Preis von vier Mark die Person.
Hernach freute ich mich wie ein Kind, die Stadt zu besehen; mein Onkel ließ sich führen; übrigens sah er nichts, weder den unbedeutenden Königspalast, noch die hübsche Brücke aus dem siebzehnten Jahrhundert, die vor dem Museum über den Kanal führt, noch das ungeheure Grabmal Thorwaldsens, das an den Wänden mit abscheulichen Gemälden geziert ist und die Werke dieses Bildhauers enthält, noch in einem ziemlich schönen Park das allerliebste Schloss Rosenberg, noch den bewundernswerten Reanissance-Bau der Börse, noch deren Turm, der aus den verschlungenen Schwänzen von vier bronzenen Drachen gebildet ist, noch die großen Mühlen der Festungswerke, deren ungeheure Flügel gleich den Segeln eines Schiffes im Seewind schwellen.
Was könnten wir da, meine hübsche Vierländerin mit mir, für köstliche Spaziergänge machen längs des Hafens, wo die Zweidecker und Fregatten unter ihrer roten Bedachung ruhten, an dem grünen Gestade der Meerenge, durch das schattige Buschwerk, in dessen Schoße die Zitadelle sich birgt, deren Kanonen zwischen Holunder und Weidengezweig ihre schwarze Mündung hervorstrecken!
Aber ach! Mein armes Gretchen war fern, und konnte ich hoffen, sie jemals wiederzusehen?
Mein Onkel jedoch hatte kein Auge für diese reizenden Gegenden; umso mehr aber gefiel ihm ein Glockenturm der Insel Amak, welche den südwestlichen Teil Kopenhagens bildet.
Wir richteten unsere Schritte dorthin, bestiegen ein kleines Dampffahrzeug, welches zum Verkehr auf den Kanälen diente, und in einigen Augenblicken legte es am Quai Dock-Yard an.
Nachdem wir durch einige enge Straßen gekommen, wo Galeerensträflinge in halb gelben, halb grauen Hosen unter dem Stock der Profosen arbeiteten, kamen wir vor Frelsers-Kirk. Diese Kirche bietet nichts Merkwürdiges. Dagegen wurde die Aufmerksamkeit des Professors durch einen ziemlich hohen Turm angezogen, um dessen Spitze sich von der Plattform an außen im Freien eine Treppe spiralförmig windet.
Der Turm von Frelsers-Kirk
»Steigen wir hinauf«, sagte mein Onkel.
»Aber der Schwindel?« entgegnete ich.
»Umso mehr, man muss sich gewöhnen.«
»Doch …«
»Komm’, sag’ ich dir, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Ich musste mich fügen. Ein Aufseher, der gegenüber wohnte, stellte uns einen Schlüssel zu, und wir begannen hinaufzusteigen. Mein Onkel ging mit munterm Schritt voran. Ich folgte nicht ohne Angst nach, denn es ward mir sehr leicht schwindelig. Es ging mir die Haltung des Adlers und die Unempfindlichkeit seiner Nerven ab.
Solange wir uns in der innern Schnecke befanden, ging alles gut. Aber nach etwa hundertundfünfzig Stufen wehte mir die Luft ins Gesicht; wir waren bis zur Plattform gekommen, von wo aus die Treppe in freier Luft begann, mit einem schwachen Geländer und Stufen, die stets enger wurden und bis zum Unendlichen zu führen schienen.
»Es ist mir nicht möglich! Niemals!« schrie ich.
»Solltest du wohl so feige sein? Steig’!« erwiderte unbarmherzig der Professor.
Ich musste durchaus ihm folgen und klammerte mich an.
In der freien Luft schwand mir die Besinnung; ich fühlte bei den heftigen Windstößen den Turm schwanken, meine Beine versagten mir den Dienst; ich rutschte bald auf den Knien, dann auf dem Leib; ich schloss die Augen, es wurde mir übel.
Endlich, indem mein Onkel mich am Kragen fasste, kam ich bei der Kugel an.
»Jetzt schau’«, sagte er, »und schaue recht! Du musst lernen, in einen Abgrund blicken!«