Jules Verne: Die Reise zum Mittelpunkt der Erde

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Mein Oheim war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht.

Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Fingern nahm er das alte Pergament wieder zur Hand. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig, und diktierte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammen nahm, die folgenden Gruppen:

mmessunkaSenrA.icefdoK.segnittamurtn

ecertserrette,rotaivxadua,ednecsedsadne

lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek

meretarcsilucoYsleffenSnI

Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden, in Gemütsbewegung; in diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden hochtrabend eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen.

Aber wer hätte das gedacht! ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte emporspritzte, die Feder meinen Händen entfiel.

»Das ist's nicht! schrie mein Oheim, das hat keinen Sinn!« Darauf stürzte er rasch wie eine Kugel durch das Kabinett, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königsstraße und entfloh aus Leibeskräften.

Viertes Kapitel – Entzifferung des Geheimnises

»ER IST FORT, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Haustür so heftig zuschlug, dass von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.

– Ja, erwiderte ich, ganz und gar fort!

– Nun! und sein Mittagessen? sagte die alte Dienerin.

– Er wird nicht zu Mittag speisen!

– Und sein Abendessen?

– Er wird auch nicht zu Abend speisen!

– Wie? sagte Martha und rang die Hände.

– Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und Niemand im ganzen Hause. Mein Oheim lässt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!

– Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben.«

Ich getraute nicht, einzugestehen, dass bei einem so unbedingten Mann, wie mein Oheim, dies uns unvermeidlich bevorstehe.

Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.

Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr Alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heim kommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträtselungsarbeit, die man dem alten Ödipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gäbe?

Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineralog aus Besançon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu klassifizieren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Kristalle eingeschlossen waren.

Aber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Dokument machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.

Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Oheim eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlang laufen, gestikulierend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.

Wird er triumphierend oder entmutigt heim kommen? Sollte er das Geheimnis heraus bekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:

»Was bedeutet dies?«

Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, dass sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort »ice« bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort »sir«. Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte »rota«, »mutabile«, »ira«, »nec«, »atra«.

Teufel, dacht' ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Oheim Auskunft über die Sprache des Dokuments geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort »luco«, das einen »heiligen Hain« bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort »tabiled« zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter »mer«, »arc«, »mère«, die rein französisch sind.

Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter »Eis«, »Herr«, »Zorn«, »grausam«, »heiliger Hain«, »wechselnd«, »Mutter«, »Bogen«, »Meer« stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Dokument von »Eismeer« die Rede wäre. Aber den übrigen Teil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.

Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.

Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Atem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so dass seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. »craterem«, »terrestre«.

So drang auf einmal ein Lichtstrahl in meinen Geist; diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte das Gesetz der Chiffre gefunden. Um das Dokument zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein.

Gerade so, wie es war, gerade so, wie mir's diktiert wurde, konnte es geläufig buchstabiert werden. Alle sinnreichen Gedanken des Professors verwirklichten sich. Er hatte Recht in Hinsicht der Zusammenreihung der Buchstaben, sowie in Hinsicht der Sprache. Um dieses lateinische Schreiben von Anfang bis zu Ende lesen zu können, bedurfte er nur noch »etwas«, und dieses »etwas« wurde mir vom Zufall gegeben.

Natürlich war ich sehr im Gemüt ergriffen. Meine Augen wurden trübe, so dass sie mir den Dienst versagten. Ich hatte das Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um das Geheimnis in Besitz zu bekommen.

Endlich ward ich mit Mühe meiner Bewegung Herr. Um meine Nerven ruhig werden zu lassen, legte ich mir auf, zweimal durch das Zimmer zu gehen, darauf wiegte ich mich wieder in dem großen Lehnstuhl.

»So will ich lesen«, rief ich aus, nachdem ich aus tiefer Brust aufgeatmet.

Ich neigte mich über den Tisch, verfolgte mit dem Finger der Reihe nach jeden Buchstaben, und las ohne anzuhalten, ohne einen Augenblick zu stocken, mit lauter Stimme den ganzen Satz.

Aber welche Bestürzung, welcher Schrecken befiel mich! Ich stand Anfangs wie vom Schlag gerührt. Wie! Was ich eben gelernt hatte, war schon am Ziel! Ein Mensch war kühn genug, dahin zu dringen! ...

»Ah! rief ich hüpfend aus, nein! nein! Mein Oheim soll's nicht erfahren! Er würde unfehlbar eine solche Reise vornehmen! Er würde auch diesen Genuss haben wollen! Nichts würde ihn abhalten können! Ein so entschlossener Geolog! Er würde jedenfalls hinreisen, trotz Allem! und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! nie!«

Ich war in unbeschreiblicher Aufregung.

»Nein! nein! Das wird nicht geschehen, sagte ich mit Energie, und da es in meiner Macht steht, zu verhindern, dass meinem Tyrannen eine solche Idee in den Sinn komme, so will ich's tun. Wenn er das Dokument um- und herumwendet, könnte er zufällig den Schlüssel desselben entdecken! So will ich's vernichten!«

Im Kamin war noch ein wenig Feuer. Ich ergriff nicht allein das Blatt Papier, sondern auch das Pergament des Saknussemm; mit fieberhaft zitternder Hand war ich im Begriff, es mit einander auf die Kohlen zu werfen, und so das gefährliche Geheimnis zu vernichten. Da öffnete sich die Tür des Zimmers und mein Oheim trat ein.

Fünftes Kapitel – Der Schlüssel des Dokuments

ICH HATTE noch Zeit, das unglückselige Dokument wieder auf den Tisch zu legen.

Der Professor Lidenbrock schien gänzlich erschöpft. Der ihn beherrschende Gedanke ließ ihm keinen Augenblick Ruhe; er hatte während seines Spazierganges offenbar die Sache durchforscht, zergliedert, alle Hilfsquellen seines Geistes erschlossen, und er kam zurück, einen neuen Gedanken in Anwendung zu bringen.

 

In der Tat setzte er sich in seinen Lehnstuhl, ergriff die Feder und fing an, Formeln niederzuschreiben, die einem algebraischen Rechenexempel glichen.

Meine Blicke begleiteten seine zitternde Hand; ich ließ mir nicht eine einzige seiner Bewegungen entgehen. Sollte wohl unversehens ein unverhofftes Resultat sich ergeben? Ich zitterte, doch ohne Grund, denn da die einzig richtige Verbindungsweise bereits aufgefunden war, so musste notwendig jedes andere Nachforschen vergeblich sein.

Drei Stunden lang arbeitete mein Oheim, ohne zu reden, ohne den Kopf zu heben, tilgte aus, fuhr fort, radierte, fing tausendmal von Neuem an.

Ich wusste wohl, dass, wenn er's dahin brächte, diese Buchstaben in alle möglichen Verbindungen mit einander zu bringen, die Phrase dabei heraus käme. Aber ich wusste auch, dass aus nur zwanzig Buchstaben sich zwei Quintillionen, vierhundertzweiunddreißig Quadrillionen, neunhundertundzwei Trillionen, acht Milliarden, hundertsechsundsiebenzig Millionen, sechshundertvierzehntausend Verbindungen bilden lassen. Nun waren in der Phrase hundertzweiunddreißig Buchstaben vorhanden, und diese hundertzweiunddreißig ergaben eine Anzahl verschiedener Phrasen, die aus hundertdreiunddreißig Ziffern mindestens bestanden, eine Zahl, die fast zu zählen unmöglich ist, und über alle Schätzungen hinausgeht.

Ich war beruhigt in Hinsicht dieses heroischen Mittels, das Problem zu lösen.

Inzwischen verfloss die Zeit; es ward Nacht; der Lärm der Straße verstummte; mein Oheim, stets über seiner Aufgabe, sah nichts, selbst die gute Martha nicht, als sie die Tür etwas öffnete; er hörte nichts, selbst die Stimme dieser guten Dienerin nicht, als sie sagte:

»Wird der Herr diesen Abend speisen?«

Auch Martha musste ohne Antwort sich zurückziehen.

Ich meines Teils, nachdem ich einige Zeit widerstanden, verfiel in einen unüberwindlichen Schlaf, und ich schlief an einem Ende des Canapee's ein, während mein Oheim Lidenbrock immer fort rechnete und stets ausstrich.

Als ich am folgenden Morgen wieder erwachte, war der unermüdliche Forscher immer noch bei der Arbeit. Seine roten Augen, seine bleifarbige Haut, seine verwirrten Haare unter seiner fieberhaften Hand, seine geröteten Wangen gaben hinlänglich seinen Kampf mit dem Unmöglichen zu erkennen, und in welcher Erschöpfung des Geistes, welcher Anstrengung des Gehirns ihm die Stunden verfließen mussten.

Wahrlich, er dauerte mich. Trotz der Vorwürfe, die ich glaubte ihm machen zu dürfen, war ich einigermaßen gerührt. Der arme Mann war dermaßen von seiner Idee befangen, dass er sich zu erzürnen vergaß. Alle seine Lebenskräfte konzentrierten sich auf einen einzigen Punkt, und da sie nicht ihren gewöhnlichen Ableitungsweg hatten, so konnte man fürchten, es werde ihre Spannung ihm jeden Augenblick den Kopf zersprengen.

Ich konnte den eisernen Schraubstock, worin sein Schädel gespannt war, mit einer Handbewegung, mit einem einzigen Wort ihm lockern! Und ich tat's nicht.

Doch war ich gutmütig. Weshalb blieb ich denn stumm unter solchen Umständen? Im eigenen Interesse meines Oheims.

»Nein, nein, sagte ich wiederholt, nein, ich werde nicht reden! Er würde hinreisen wollen, ich kenne ihn; nichts würde ihn zurückhalten können. Es ist ein vulkanischer Gedanke, und um zu tun, was andere Geologen nicht getan haben, würde er sein Leben riskieren. Ich will schweigen; ich will das Geheimnis, in dessen Besitz mich der Zufall gesetzt hat, für mich behalten! Es ihm mitzuteilen wäre sein Tod. Er mag's erraten, wenn er kann. Ich will mir nicht einen einzigen Tag den Vorwurf aufbürden, ihn in sein Verderben geführt zu haben!«

Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, kreuzte ich die Arme, und wartete ab. Aber ich hatte doch die Rechnung ohne den Wirt gemacht.


Axel kreuzte die Arme und wartete ab

Als die gute Martha aus dem Hause auf den Markt gehen wollte, fand sie die Tür verschlossen, und es war kein Schlüssel im Schloss. Wer hatte ihn weggenommen? Offenbar mein Oheim, als er am Abend von seinem Ausgang heimgekehrt war.

War's absichtlich oder aus Versehen? Wollte er uns der Pein des Hungers aussetzen? Das wäre doch ein wenig stark. Wie! Martha und ich, wir sollten unter der Verlegenheit leiden, die uns auf der Welt nichts anging? Ganz gewiss, und ich erinnerte mich eines andern Falles der Art, welcher uns in Schrecken setzen konnte. In der Tat, vor einigen Jahren, zur Zeit als mein Oheim an seiner großen mineralogischen Klassifikation arbeitete, enthielt er sich einmal achtundvierzig Stunden des Essens, und das ganze Haus musste sich dieser wissenschaftlichen Diät fügen. Ich bekam damals Magenkrämpfe, die einem Jungen von etwas gefräßigem Charakter sehr wenig erquicklich waren.

Nun dünkte es mir, das Frühstück werde ebenso in Ausfall kommen, wie Tags zuvor das Abendessen. Doch entschloss ich mich, heroisch zu sein, und den Forderungen des Magens nicht nachzugeben. Martha nahm das sehr ernst und ward trostlos, die gute Frau. Mir machte die Unmöglichkeit, das Haus verlassen zu können, viel zu schaffen, aus gutem Grunde.

Mein Oheim arbeitete immer fort; seine Phantasie verlor sich in der idealen Welt der Kombinationen; er lebte fern von der Erde, und wahrhaftig außerhalb der irdischen Bedürfnisse.


Geographische Studien

Gegen Mittag stachelte mich der Hunger ernstlich. Martha hatte in aller Unschuld Tags zuvor alle Vorräte der Speisekammer aufgezehrt; es war gar nichts mehr im Hause vorhanden. Doch hielt ich standhaft aus; es war mir eine Art Ehrensache geworden.

Es schlug zwei Uhr. Es wurde lächerlich, unerträglich sogar. Ich machte über die Maßen große Augen. Ich fing an, zu der Ansicht zu kommen, dass ich die Wichtigkeit des Dokuments übertrieb; dass mein Oheim nicht daran glauben, eine blosse Mystifikation darin finden würde; dass im schlimmsten Falle, wenn er das Abenteuer versuchen wollte, man ihn wider Willen zurückhalten könne; dass er endlich doch selbst den Schlüssel der Chiffre finden könnte, und dann hätte ich umsonst gefastet.

Diese Gründe, die ich am Tag zuvor mit Unwillen verworfen hätte, schienen mir jetzt vortrefflich; es kam mir so ganz lächerlich vor, dass ich so lange gewartet hatte, und ich entschloss mich, Alles zu sagen.

Ich suchte daher, als der Professor aufstand und, um auszugehen, seinen Hut aufsetzte, eine Gelegenheit der Sache beizukommen, aber nicht zu grell.

Wie! Das Haus verlassen, und uns abermals einschließen! Nimmermehr.

»Oheim!« sagte ich.

Er schien mich nicht zu hören.

»Oheim Lidenbrock? rief ich nochmals laut.

– Was? sagte er, wie ein Mensch, der plötzlich aufwacht.

– Nun! dieser Schlüssel?

– Welcher Schlüssel? von der Haustür?

– Nein, rief ich, der Schlüssel des Dokuments!«

Der Professor sah mich über die Brille hinweg an; er bemerkte wohl etwas Ungewöhnliches in meinen Gesichtszügen, denn er fasste mich lebhaft beim Arm und fragte mich, unfähig zu reden, mit dem Blick. Doch war die Frage klar ausgesprochen.

Ich bewegte den Kopf von oben nach unten.

Er schüttelte den seinigen etwas mitleidig, als habe er's mit einem Narren zu tun.

Ich machte ein noch stärkeres Zeichen der Bejahung.

Seine Augen glänzten lebhaft; seine Hand wurde drohend.

Diese stumme Unterhaltung unter diesen Umständen hätte den gleichgültigsten Zuschauer interessiert. Und wahrlich, ich wagte nicht einmal ein Wort zu sagen, aus Besorgnis, mein Oheim möge in den ersten freudigen Umarmungen mich ersticken. Aber es war doch dringend geworden, zu antworten.

»Ja, dieser Schlüssel! ... Zufällig! ...

– Was sagst Du? rief er in unbeschreiblicher Gemütsbewegung.

– Hier, sagte ich, und hielt ihm das Blatt Papier hin, worauf ich geschrieben hatte, lesen Sie.

– Aber das bedeutet nichts! erwiderte er, indem er das Blatt zerknitterte.

– Nichts«, und fing an, den Anfang zu lesen, aber vom Ende an ...

Ich hatte meine Phrase noch nicht fertig gelesen, als der Professor einen Schrei, mehr noch, ein wahres Gebrüll hören ließ! Es war seinem Geist ein Licht aufgegangen. Er war ganz umgewandelt.

»Ach! sinnreicher Saknussemm! rief er aus, Du hattest also anfangs Deine Phrase umgekehrt geschrieben?«

Und er fiel über das Papier her, mit trübem Auge, bewegter Stimme, und las das Dokument vollständig vom letzten Buchstaben aufwärts bis zum ersten.

Es lautete also:

In Sneffels Yoculis craterem kem delibat umbra Scartaris Julii intra calendas descende, audax viator, et terrestre centrum attinges. Kod feci.

Arne Saknussemm.

Was in gut Deutsch sich so übersetzen lässt:

Steig hinab in den Krater des Sneffels Yocul, welchen der Schatten des Skartaris vor dem ersten Juli liebkoset, kühner Wanderer, und Du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen. Das hab ich vollbracht.

Arne Saknussemm.

Als mein Oheim dies gelesen, hüpfte er, als habe er unversehens eine Flasche Leydener getrunken. Vor Freude, Überzeugung und Kühnheit war er prachtvoll. Er ging hin und her, fasste seinen Kopf mit beiden Händen, rückte die Stühle, legte seine Bücher auf einander, spielte – kaum glaublich – Ball mit seinen kostbaren Klappersteinen, schlug mit der Faust hierhin, mit der Hand dorthin. Endlich wurden seine Nerven ruhiger und er sank erschöpft in seinen Lehnstuhl.

»Wieviel Uhr ist's doch? fragte er nach einer kleinen Weile.

– Drei Uhr, erwiderte ich.

– Höre! Mein Essen war bald vorüber. Ich habe Hunger zum Umfallen. Zu Tische. Hernach ...

– Hernach ...

– Wirst Du meinen Koffer packen.

– Gut, rief ich.

– Und den Deinigen!« erwiderte der unbarmherzige Professor beim Eintritt in das Speisezimmer.

Sechstes Kapitel – Das Zentrum der Erde

BEI DIESEN Worten lief mir ein Schauder über den ganzen Körper. Doch nahm ich mich zusammen. Ich entschloss mich sogar, mich wacker zu halten. Wissenschaftliche Gründe allein konnten den Professor Lidenbrock abhalten. Nun gab's deren, und zwar gewichtige, gegen eine solche Reise.

Nach dem Mittelpunkt der Erde zu reisen! welche Torheit! Ich sparte meine Einwendungen für den günstigen Moment auf und machte mich an's Essen.

Wie fluchte mein Oheim, als er den Tisch nicht gedeckt sah. Alles klärte sich auf. Die gute Martha bekam wieder ihre Freiheit, eilte auf den Markt und rührte sich dergestalt, dass nach einer Stunde mein Hunger gestillt war und das Bewusstsein der Lage mir wieder kam.

Während der Mahlzeit war mein Oheim fast lustig; er ließ Scherze hören, die bei einem Gelehrten nie sehr gefährlich sind. Nach dem Dessert winkte er mir, ihm in sein Kabinett zu folgen.

Ich gehorchte. Er setzte sich an's eine Ende des Tisches, ich an's andere.

»Axel, sagte er mit ziemlich sanfter Stimme, Du bist ein sehr gescheiter Junge; Du hast mir da einen wackeren Dienst geleistet, als ich des Ringens müde schon den Gedanken aufgeben wollte. Wohin wäre ich geraten? Niemand kann das wissen! Ich werde Dir's niemals vergessen, und Du wirst an dem Ruhm, den wir erlangen werden, Deinen Anteil haben.

– Nun, dacht ich, ist er guter Laune; da ist's Zeit über den Ruhm zu disputieren.

– Vor Allem, fuhr mein Oheim fort, empfehle ich Dir völliges Geheimnis, verstehst Du mich? Es fehlt in der Gelehrtenwelt nicht an Neidischen, und es würden Viele die Reise unternehmen wollen, die bis zu unserer Rückkehr nichts merken sollen.

– Meinen Sie, sagte ich, die Zahl solcher Verwegenen sei so groß?

– Ganz gewiss! Wer würde sich besinnen, solch einen Ruhm zu gewinnen? Wäre dies Dokument bekannt, so würde ein ganzes Heer von Geologen hineilen, Arne Saknussemm's Spur zu verfolgen.

– Davon bin ich aber gar nicht überzeugt, lieber Oheim, denn die Echtheit des Dokuments ist durch nichts erwiesen.

– Wie? und das Buch, worin wir's gefunden haben!

– Gut! Ich gebe zu, dass Saknussemm diese Zeilen geschrieben hat, aber folgt daraus, dass er wirklich die Reise vorgenommen hat, und kann nicht das alte Pergament eine Fopperei enthalten?«

Es war mir fast leid, dies letztere etwas kecke Wort herausgesagt zu haben. Der Professor runzelte die Stirn, und ich fürchtete Schlimmes für die Fortsetzung dieser Unterhaltung. Zum Glück hatte es nichts zu bedeuten. Mein strenger Genosse erwiderte mit leichtem Lächeln:

 

»Das werden wir sehen.

– Ah! sagte ich etwas verdutzt; aber erlauben Sie mir vorzubringen, was sich alles über das Dokument sagen lässt.

– Rede, lieber Junge, geniere Dich nicht. Ich lasse Dir alle Freiheit Deine Meinung zu sagen. Du bist nun nicht mehr mein Neffe, sondern mein College. Also vorwärts.

– Nun, so will ich Sie erst fragen, was sind diese Yokul, Sneffels und Scartaris, wovon ich nie ein Wort habe reden hören?

– Das ist ganz leicht. Ich habe just vor Kurzem von meinem Freunde August Petermann in Gotha eine Karte bekommen, die mir gerade zu rechter Zeit kam. Nimm den dreißigsten Atlas im zweiten Fach der großen Bibliothek, Reihe Z, Brett 4.«

Ich stand auf und fand in Gemäßheit dieser genauen Angaben rasch den begehrten Atlas. Mein Oheim schlug ihn auf und sagte:

»Hier ist eine der besten Karten von Island, die Handerson'sche; ich glaube, die wird uns alle Schwierigkeiten lösen.«.

Ich beugte mich über die Karte.

»Sieh diese aus Vulkanen bestehende Insel, sagte der Professor, und merke, dass sie alle mit dem Namen Yokul bezeichnet sind. Dies Wort bedeutet im Isländischen 'Gletscher', und unter dem hohen Breitegrad Islands geschehen die meisten vulkanischen Ausbrüche durch die Eisdecke.

– Gut, erwiderte ich, aber was ist dann Sneffels?« Ich hoffte, er wisse diese Frage nicht zu beantworten. Wie irrte ich mich! Mein Oheim fuhr fort:

»Folge mir auf die westliche Küste Islands. Siehst Du seine Hauptstadt Reykjawik? Ja. Gut. Fahre über die unzähligen Fjorde dieser zerrissenen Seeküsten, und halte etwas unter dem fünfundsechzigsten Breitegrad an. Was siehst Du da?

– Eine Art Halbinsel, gleich einem abgenagten Knochen.

– Die Vergleichung ist richtig, lieber Junge; jetzt, siehst Du nichts auf dieser Halbinsel?

– Ja, einen Berg, der aus dem Meer emporgewachsen scheint.

– Gut! Dieser Snäfields Jöcul ist der Sneffels.

– Der Snäfields Jöcul?

– Der ist's, ein fünftausend Fuß hoher Berg, einer der merkwürdigsten auf der Insel, und gewiss der berühmteste der ganzen Welt, wenn sein Krater den Eingang zum Zentrum der Erde bildet.

– Aber das ist unmöglich! rief ich mit Achselzucken, und gegen eine solche Annahme mich sträubend.

– Unmöglich! erwiderte der Professor Lidenbrock mit strengem Ton. Und warum?

– Weil dieser Krater offenbar mit Lava verstopft ist, die Felsen glühend, und dann ...

– Und wenn's ein ausgebrannter Krater ist?

– Ausgebrannt?

– Ja. Die Zahl der noch tätigen Vulkane auf der Erdoberfläche beträgt gegenwärtig nur etwa dreihundert; aber es gibt eine noch weit größere Anzahl erloschener Vulkane. Unter die letzteren gehört der Snäfields, der seit den historischen Zeiten nur einen Ausbruch gehabt hat, im Jahre 1219; seitdem ist er allmählich stille geworden, und er gehört nicht mehr zu den tätigen Vulkanen.«

Auf diese bestimmten Angaben hatte ich durchaus nichts zu erwidern; ich warf mich also auf die übrigen Schwierigkeiten, die das Dokument enthielt.

»Was bedeutet das Wort Scartaris, fragte ich, und was haben die Kalenden des Juli dabei zu schaffen?«

Mein Oheim besann sich einige Augenblicke. Einen Augenblick hatte ich Hoffnung, aber auch nur einen Augenblick, denn bald antwortete er mir folgendermaßen:

»Was Du Dunkelheit nennst, ist für mich Licht. Dies beweist die sinnreiche Sorge, womit Saknussemm seine Entdeckung genau bezeichnen wollte. Der Snäfields hat mehrere Krater, und es war daher erforderlich, denjenigen, welcher zum Mittelpunkt der Erde führt, anzugeben. Wie hat's nun der gelehrte Isländer gemacht? Er hat bemerkt, dass beim Herannahen des ersten Juli, also gegen Ende des Juni, eine der Bergspitzen, der Scartaris, ihren Schatten bis zu der Mündung des fraglichen Kraters werfe, und hat diese Tatsache in dem Dokument niedergelegt. Dies war die genaueste Angabe, so dass man, wenn man einmal auf dem Gipfel des Snäfields sich befindet, unmöglich mehr in Zweifel sein kann, welcher Weg einzuschlagen.«

Allerdings wusste mein Oheim eine Antwort auf Alles. Ich sah wohl, dass ihm bei den Worten des alten Pergaments nicht beizukommen war. Ich setzte ihm daher von dieser Seite aus nicht mehr zu, und da ich vor Allem ihn überzeugen musste, so ging ich zu den wissenschaftlichen Einwendungen über, welche meines Erachtens ganz anders bedeutsam waren.

»Nun, sagt' ich, die Phrase Saknussemm's, ich muss es zugeben, ist klar und lässt über ihren Sinn keinen Zweifel mehr. Ich gebe sogar zu, dass das Dokument den Anschein völliger Echtheit hat. Dieser Gelehrte ist in das Innere des Snäfields hinabgestiegen; hat gesehen, wie der Schatten des Scartaris den Rand des Kraters vor dem ersten Juli bestrich; er hat sogar aus den sagenhaften Erzählungen seiner Zeit entnommen, dass dieser Krater zum Zentrum der Erde führe; aber dass er selbst dahin gedrungen, dass er von einer Reise dahin wieder zurückgekehrt sei, glaub' ich durchaus nicht!

– Und aus welchem Grund? sagte mein Oheim mit ausnehmend spöttischem Ton.

– Weil alle Theorien der Wissenschaft beweisen, dass eine solche Unternehmung unausführbar ist!

– Alle Theorien sprechen das aus? erwiderte der Professor mit gutmütiger Miene. Ja, die schlechten Theorien! Die armseligen Theorien werden uns genieren!«

Ich sah, dass er sich über mich lustig machte, aber ich fuhr demungeachtet fort:

»Ja! es ist eine ausgemachte Sache, dass die Wärme unter der Erdoberfläche mit siebenzig Fuß Tiefe um einen Grad zunimmt; nehmen wir nun dies steigende Verhältnis als sich gleichbleibend an, so muss, da der Erdradius fünfzehnhundert Meilen beträgt, im Zentrum eine Temperatur stattfinden von mehr als zweimalhunderttausend Grad! Die Stoffe im Inneren der Erde befinden sich daher im Zustand des glühenden Gas, denn die Metalle, Gold, Platina, die härtesten Steine widerstehen nicht einer solchen Hitze. Ich darf also fragen, ob es möglich sei, in eine solche Umgebung zu gelangen.

– Also, Axel, die Hitze macht Dir Bedenken?

– Allerdings. Kämen wir bis zu einer Tiefe von nur zehn Meilen, so wären wir an der Grenze der Erdrinde, denn da ist die Temperatur bereits über dreizehnhundert Grad.

– Und Du hast Angst zu zerschmelzen?

– Ich überlasse Ihnen die Entscheidung der Frage, erwiderte ich mit Humor.

– So will ich Dir meine Meinung bestimmt sagen, entgegnete der Professor Lidenbrock, indem er einen hohen Ton annahm: Weder Du, noch irgend ein Mensch weiß einigermaßen zuverlässig, was im Inneren des Erdballs vorgeht, da man kaum erst den zwölftausendsten Teil ihres Radius kennt; daher ist die Wissenschaft außerordentlich vervollkommnungsfähig, und jede Theorie wird von einer neuen umgestürzt. Hat man ja bis auf Fourier geglaubt, die Temperatur der Planetenräume sei stets abnehmend, und jetzt weiß man, dass die höchste Kälte der Ätherregionen nicht über vierzig bis fünfzig Grad unter Null steigt. Warum könnte es mit der Wärme im Inneren nicht ebenso der Fall sein? Weshalb sollte sie nicht in einer gewissen Tiefe eine nicht mehr zu übersteigende Höhe erreichen, anstatt bis zu einer Höhe zu steigen, wo die störrigsten Metalle schmelzen?«

Da mein Oheim die Frage auf das Gebiet der Hypothesen verpflanzte, so hatte ich nichts darauf zu erwidern.

»Nun denn, ich will Dir nur sagen, dass echte Gelehrte, wie Poisson unter Anderen, bewiesen haben, dass, wenn im Inneren des Erdballs eine Hitze von zweimalhunderttausend Grad existierte, das aus den zerschmolzenen Stoffen erzeugte glühende Gas eine solche Spannkraft erlangen würde, dass die Erdrinde nicht mehr Widerstand zu leisten vermöchte und zerspringen müsse, wie die Wände eines Dampfkessels durch die Ausdehnung des Dampfes.

– Das ist Poisson's Ansicht, lieber Oheim, nichts weiter.

– Einverstanden, aber es ist auch die Ansicht anderer ausgezeichneter Geologen, dass das Innere des Erdballs weder aus Gas, noch Wasser, noch schwereren Steinen besteht, als die wir kennen, denn in diesem Falle würde die Erde ein zweifach geringeres oder verdoppeltes Gewicht haben.