Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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»Am unheimlichsten sind mir die Morsanimas«, fuhr Rose fort. »Die halb schwebenden Gestalten in den langen Umhängen, du erinnerst dich? Dass man bei der Kommunikation mit ihnen ihre Stimmen nur im Kopf hört, ist bereits skurril genug, aber kennst du auch die Legende, die sich um sie rankt?« Sie blickte auf, um sich abzusichern, dass ich ihr wirklich zuhörte.

Das tat ich, während mein Blick zwischen ihr und dem Fenster hin- und herhuschte.

»Weißt du, was ihr Name bedeutet? Es ist eine Zusammensetzung aus Tod und Seele. Es heißt, in ihnen würden die menschlichen Seelen verweilen, während sie auf das Weiterrücken in das Reich der Toten warten. Gruselig, oder?«

»Hmmhmm.« Ich sah erneut aus dem Fenster. Tess war mit den Nuvolas inzwischen Richtung Südwiese verschwunden, und James stand kurz still da, während er ihnen hinterhersah. Wenige Augenblicke später nahm er seine müde gebeugten Schultern zurück, richtete sich auf und ging zügigen Schrittes auf den Hof zu. Instinktiv duckte ich mich, als sein Blick über die Fenster des Verwaltungsgebäudes strich, obwohl er mich durch die Spiegelung der frühen Wintersonne ohnehin nicht hätte sehen können.

Mit Unbehagen dachte ich an unser erstes Zusammentreffen seit unserer Rückkehr. Am Abend zuvor war ich mit Rose draußen gewesen. Sie hatte mir das neue Gelände auf der Südwiese gezeigt, und dabei waren wir auf James getroffen. Ich war seltsam befangen gewesen und hatte seine freundschaftliche Umarmung nur halbherzig erwidert. Ohne es zu wollen, erinnerte ich mich an seine grimmige Miene, als er während unserer Reise gesagt hatte, er würde nicht aufgeben und erreichen, dass ich ihn liebte und mit ihm zusammenkam. Gleichzeitig fiel mir ein, dass er ebenso wenig wie alle anderen, außer Rose natürlich, über Atlas und mich Bescheid wusste.

Das restliche Gespräch über war das Unwohlsein nicht von mir gewichen, und ich war froh gewesen, als Rose mich endlich zurück zum Verwaltungsgebäude begleitet hatte. Ich hatte mich durchaus gefreut, ihn wiederzusehen. Die Reise hatte uns, ohne dass ich es gewollt hatte, für immer verbunden. Ich hatte damals nicht gelogen, als ich ihm gesagt hatte, er sei wie ein Bruder für mich, und ich würde ihn ebenso lieben. Doch das Jahr, das wir dann ohne ihn verbracht hatten, stand jetzt irgendwie zwischen uns und ließ mich befangen mit ihm umgehen.

»Die Flugwichtel sind einfach nur nervig, ebenso wie die Erdgnome, ihre flügellosen Verwandten. Wozu sollen die beim Kampf überhaupt gut sein? Wahrscheinlich freuen sie sich auf die Gelegenheit, dass wir alle abgelenkt sind und sie sich ungestört an unserem Hab und Gut zu schaffen machen können.« Mit spitzen Fingern schloss Rose das Nagellackfläschchen und pustete abschließend ein letztes Mal auf ihre Nägel. »Komm, lass uns eine Runde an die frische Luft gehen, um ordentlich unsere Köpfe durchpusten zu lassen. Mir fällt in diesem Krankenzimmer langsam die Decke auf den Kopf.«

Da konnte ich ihr nicht widersprechen, mir ging es ja genauso. So befanden wir uns keine fünf Minuten später, warm eingepackt, ich hatte deutlich mehr Schichten an als Rose, auf dem Weg durch das Verwaltungsgebäude nach draußen. Sobald wir aus der Tür traten, schlug uns beißende Kälte entgegen, und ein eisiger Wind rüttelte an uns, als wollte er uns deutlich zeigen, dass der milde Herbst endgültig vorbei war.

Ich hielt ihm mein Gesicht entgegen, fühlte das kräftige Prickeln auf der Haut, den er verursachte, und genoss das Gefühl, als einige Strähnen meine Wangen kitzelten und ich den süßen Geschmack von Freiheit auf meiner Zunge spürte. Der Himmel war wolkenverhangen von einem grau-weißen Gemisch, das sich schon seit Tagen dort zusammenballte. Ich fragte mich, wann es den ersten Schnee geben würde, und amüsierte mich über meine Erinnerungen an die ersten Tage in dieser Schleife. Damals hatte ich gedacht, dass das warme, sonnige Wetter, der stete Blumenduft, der in der Sommerbrise lag, das Zwitschern der Vögel und das laute Zirpen der Grillen für immer währen würden.

Damals hatte ich die bis dahin schlimmsten Stunden gerade erst hinter mir. Ich hatte versehentlich meine Schwester getötet, mein Zuhause und meine Familie verloren. Vollkommen verwirrt und überfordert von den neuen Eindrücken und dem ständigen Strom an Informationen, die ich durch das Wissensgift erhalten hatte, das mir Tatjana verabreicht hatte, hatte ich mich bemüht, mich hier bei den Augenschönen einzuleben. Dieser Ort war mir wie eine Art Abklatsch des Paradieses vorgekommen, in das man nach seinem Tod wohl kommen sollte. Jedenfalls, wenn man all jenen glaubte, die einem das nach einem ehrlich und schuldlos geführten Leben versprachen. Nach Evies Tod, für den ich verantwortlich gewesen war, war ich mir aber nicht mehr so sicher, ob das auch für mich zutraf.

Jedenfalls hatte ich die Schönheit dieses Ortes gespürt, gerochen, gehört und geschmeckt, hatte sie für eine ewig andauernde Schönheit gehalten. Wie bei fast allem offenbarte sich erst jetzt, über ein Jahr später, für mich die zweite, dunkle Seite der Schleife, die aus einem gewöhnlichen Winter mit eisiger Kälte und all den Unannehmlichkeiten bestand, die man hier mit einer unbekannten Krankheit eben so hatte. Es stellte sich heraus, dass der Anschein eines Paradieses genauso oberflächlich und aufgesetzt gewesen war wie meine gespielte Fröhlichkeit oder die unechte Gleichgültigkeit seit Atlas’ Trennungsworten.

Ich schüttelte die unschönen Gedanken ab und lief mit Rose weiter über den vertraut knirschenden Kies des Hofes. Auf der gegenüberliegenden Seite huschte eine Gruppe von Gestalten entlang, die auch in dem durch die Wolken gedämpften, schwachen Sonnenlicht noch leicht glitzerten.

»Sieh mal, Rose, eine Gruppe Glimmergillians.«

Rose folgte meinem Blick und sah die letzten Reste Geglitzer, bevor die Gruppe hinter dem Wohnhaus 3 verschwand, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrer eigenen Unterkunft.

»Die gehen mir langsam auf die Nerven.« Rose rümpfte die Nase.

Ich sah sie grinsend an. »Oooh … wird da jemand etwa fremdenfeindlich?«

»Red keinen Unsinn. Generell habe ich nichts gegen all diese Schleifenwesen. Es ist super, dass sie uns beim Kampf gegen die Nächtlichen Geschöpfe helfen, obwohl ich immer noch glaube, dass beim Großteil von ihnen Eigennutz und der eigene Gewinn eine größere Rolle spielen als ihre Hilfsbereitschaft uns gegenüber.«

»Das kannst du ihnen kaum vorwerfen. Wer möchte denn, bitte, nicht friedlich leben?«

»Ich werfe es ihnen ja auch gar nicht vor, ich wollte doch etwas ganz anderes sagen. Die meisten von ihnen sind schließlich ziemlich okay. Allen voran die Nuvolas. Aber zum Beispiel diese Glimmergillians … Findest du sie nicht auch leicht bizarr?« Meine Freundin verzog das Gesicht.

»Warum sollte ich?«

»Sieh sie dir doch einmal an. Sie sind ja wirklich hübsch, keine Frage. Ihre elfenhaften Glieder, die fortwährende Eleganz bei jeder Bewegung und das Glitzern ihrer Haut im Licht … allerdings wissen sie das selbst nur zu gut. Wusstest du, dass sie nie ohne mindestens einen Spiegel unterwegs sind, in dem sie sich betrachten können? Wenn sie keinen dabeihätten, wäre das in etwa so, als wenn wir keine Kleidung am Leib hätten, wenn wir draußen herumlaufen. Sie erinnern mich an diesen einen Jungen aus den Griechischen Sagen … Narziss. Der hat sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Echt verrückt.« Sie seufzte. »Und außerdem besteht diese Spezies nur aus Männern.«

»Also nicht fremdenfeindlich, sondern männerfeindlich?«, zog ich sie auf, doch sie ignorierte mich.

»Stell dir vor, sie entstehen aus dem verloren gegangenen Sonnenlicht in tiefen Wäldern. Deswegen brauchen sie auch keine Frauen, um sich fortzupflanzen. Und das Sonnenlicht ist mit ihrer Haut verwoben, sodass sie immerzu glitzern und von innen heraus glimmen.«

»Ehrlich, Rose, höre ich da so etwas wie Eifersucht heraus? Du gehörst zu der am schönsten, makellosesten und perfektesten aussehenden Art überhaupt und regst dich darüber auf, dass deine Haut nicht glitzert und du nicht leuchtest? Du bist viel oberflächlicher, als ich immer dachte.«

Rose stieß mich spielerisch in die Seite. »Es tut mir leid, dass du es nicht früher gemerkt hast. Dann würde es nicht so überraschend kommen, wenn ich dir sage, dass ich mit dir nur befreundet bin, weil du von Anfang an so unglaublich gut aussahst.«

Ich schaute sie gespielt erschrocken an, bevor wir beide in heilloses Gekicher ausbrachen, das mir für kurze Zeit Atemnot bescherte. Trotzdem tat es auch unglaublich gut, wieder so befreit mit meiner besten Freundin lachen zu können. Es schien die Last, die schwer schmerzend auf meinem Herzen lag, ein klein wenig leichter zu machen.

Wunderbar erfrischt, mit neuer Energie und besserer Laune kehrten wir nach einer ausgiebigen Runde um den Hof und an den Rändern des Südwestwaldes entlang zurück zum Verwaltungsgebäude. Meine Beine waren müde von der kurzen Strecke, doch ich wollte noch nicht, dass unser kleiner Ausflug schon vorbei war.

»Können wir noch kurz beim Duschraum vorbeischauen? Ich glaube, ich habe heute früh mein Handtuch dort liegen lassen«, sagte ich deswegen.

Es stimmte sogar, doch der eigentliche Grund war, dass die Duschräume einen weiteren Schlenker auf dem Weg zurück zum Krankensaal bedeuteten, da sie sich in einem anderen Flügel des Gebäudes befanden.

Natürlich war Rose einverstanden. Also stiefelten wir langsam die breiten Treppen, Gänge und Flure entlang, vorbei an den großen Fenstern und bunten Gemälden, die die Wände schmückten.

Ein wenig erinnerte mich das an meinen ersten Tag hier, als Rose für mich noch ein fremdes, durch ihre bunten Nägel und ihre durchgeknallte Art etwas verrückt wirkendes, aber sympathisches Mädchen gewesen war. Dass sich hinter der tollen äußeren Schale auch noch ein kluger Kopf und ein ehrliches Herz befanden und sie einmal meine beste Freundin werden würde, wusste ich damals ja noch nicht.

 

Wir tratschten auf dem Weg in die Duschräume über Belanglosigkeiten, aber als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich an das Gefühl, das ich am Morgen gehabt hatte. Es war seltsam gewesen, wieder hier zu sein. Einen der ersten Räume, den ich hier zu Gesicht bekommen hatte, erneut zu betreten und all die Erinnerungen aufleben zu lassen. Damals hatte ich gedacht, ich wüsste, was das Wort Herzschmerz bedeutete. Wie dumm ich doch gewesen war!

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zurückzudrängen, und folgte Rose hastig in den gekachelten Raum.

Mein Handtuch hing über der Wand der dritten Kabine, in der ich geduscht hatte, was mich eigentlich bereits stutzig hätte machen müssen. Hatte ich es heute Morgen nicht auf dem Tischchen am Eingang liegen lassen?

Rose schnappte es sich und drehte sich mir zu, grinste über einen Witz, für den ich nicht aufmerksam genug gewesen war. Sie tänzelte an mir vorbei zur Tür, öffnete sie und trat zur Seite. Ich wandte mich gerade zum Gehen, als ich etwas aus dem Augenwinkel sah.

Einen dunklen Fleck am Boden.

Einen kleinen Makel in einer sonst fehlerlosen Kulisse.

Rose, die mein Zögern bemerkte, sah mich fragend an. Ich nickte in Richtung des Flecks auf dem Boden. Mit zusammengezogenen Augenbrauen ließ sie die Tür los und ging darauf zu. Ich folgte ihr, und je näher wir kamen, desto mehr bestätigte sich meine schreckliche Vermutung. Und als wir knapp vor dem Fleck standen, nah genug, um zu sehen, dass um den großen länglichen Fleck auch viele kleine Spritzer waren, und Rose entsetzt die Luft einzog, erkannte auch ich endgültig, was ich bereits geahnt hatte.

Hier im hinteren Teil des Duschraums, etwas versteckt, so, dass man es nicht gleich entdeckte, zog sich eine breite, rote, dickflüssige Lache über den Boden.

Blut.

Die ersten fünfzehn Schleifen

Erste Schleife

Verknüpfungsschleife (magizismische Verankerung der fünfzehn Schleifen aneinander), inkl. Kleiner Empfangssaal

Zweite Schleife

eingerichteter Saal, zum Empfang der neuen Augenschönen

(häufigster Landeort nach der Ersten Fahrt)

Dritte Schleife

Halle der Erkenntnis und Saal des Wissens

Vierte Schleife

Wohnschleife: elf Gebäude, unterirdische Trainingshallen,

Wiesen / Wald für das Training

Fünfte Schleife

Klarsichtnebel (Spiegeltelefon), mit dessen Gegenstücken die Zeitler (reisende Augenschöne) Verbindung mit den anderen Augenschönen aufnehmen können

Sechste Schleife

Anpassung der Augenschönen an Zeit und Ort durch Dromeden für aufwendigere Aufträge

Siebte Schleife

Entwicklung der Omunalisuhren (Produktion, Reparatur etc.)

Achte Schleife

Aufenthaltsort / Wohnschleife der verbündeten Dromeden

(für kurze Zeit)

Neunte Schleife

Aufenthaltsort / Wohnschleife der verbündeten Dromeden

(meist lebenslang)

Zehnte Schleife

magizismische Forschungs- und Entwicklungsschleife der

Dromeden (spezialisiert auf neue Augenschöne, z. B. Kleidung, Lieblingsdinge etc.)

Elfte Schleife

magizismische Forschungs- und Entwicklungsschleife der

Dromeden (spezialisiert auf neue magizismische Artefakte)

Zwölfte Schleife

Organisation der Zeitfahrten für die Einkäufe, übergangsweise Aufbewahrungsort der Einkäufe

Dreizehnte Schleife

Orakelsee: verkündet warnende oder leitende Prophezeiungen

Vierzehnte Schleife

Ausgangsort für Zeitfahrten (einfache Techniken)

Fünfzehnte Schleife

Ausgangsort für Zeitfahrten (fortgeschrittene Techniken)

Kapitel 5

»Wo-woher kommt das?« Rose’ Stimme zitterte leicht, und auch ich bemerkte, wie Unbehagen und ein Hauch von Angst in mir hochkrochen.

Es war nicht einfach nur ein schlichter Blutfleck. Die Wunde, aus der all die dicke Flüssigkeit gekommen war, musste riesig gewesen sein. Die Lache schlängelte sich unter einer der Kabinenwände hervor, hinter die ich fast nicht zu schauen wagte. Rose holte tief Luft, griff nach meiner Hand, und wir traten schnell vor. Ich schrie auf, und Rose quetschte mir mit ihren Fingern fast die Blutzufuhr ab.

In der Ecke der Kabine am Boden lag, völlig erschlafft, ein etwa sechzehnjähriges Mädchen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ausdruckslos ins Leere. Ihre Glieder waren seltsam verdreht, und das Blut war eindeutig aus bereits verheilten Wunden an ihren Armen, ihrem Bauch und Kopf gekommen. Nur an ihrem Hals klaffte noch ein langer Schnitt, der gerade verheilte und aus dem weitere kleine Blutströpfchen hervortraten. Es gab keinen Zweifel, die Augenschöne war tot.

Ein lautes Klicken hallte durch den Raum und Rose und ich fuhren gleichzeitig erschrocken zusammen. Das Klicken war von einer zufallenden Tür gekommen, und da ich niemanden sehen konnte, der hereingekommen war, musste jemand hinausgegangen sein.

Mir wurde übel, als mir klar wurde, was das bedeutete.

Das Mädchen war offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben.

Eine Person hatte den Raum heimlich verlassen, ohne sich zu erkennen zu geben.

Konnte es sein, dass wir gerade eben den Mörder nur knapp verpasst hatten?

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass es dieselbe Person gewesen war, die noch vor Kurzem mein Zimmer durchwühlt hatte, wäre Angst als meine Zustandsbeschreibung die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen.

»Wie alle schon bemerkt haben, ist Laudine keines natürlichen Todes gestorben, was gemeinhin ja auch unmöglich ist. Nein, sie wurde allem Anschein nach ermordet. Soweit ich herausfinden konnte, muss sie sich gewehrt haben. Vermutlich war der Angreifer mit einem Messer bewaffnet, daher auch das viele Blut und die Wunden. Nachdem der oder vielleicht auch die Täter sie überwältigt hatten, wurde ihr das Gift eines Nächtlichen Geschöpfes eingeflößt, woran sie auch starb.« Tatjana stand auf und schloss ihre kleine Arzttasche.

Elvon wartete mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Neben ihm stand eine kleine, junge Frau mit schwarzroten Haaren, intensiv blauen Augen und einem wunderschönen, freundlichen Gesicht. Das musste Cara sein, Elvons lang vermisste Frau.

Hinter ihnen hatte sich eine Gruppe Schaulustiger versammelt, deren Gesichter alle Erschrecken und Trauer widerspiegelten. Ein junges Mädchen, wohl eine Freundin Laudines, saß neben ihr am Boden in der Blutlache und weinte.

»Wer kann das bloß gewesen sein?«, murmelte einer der Umstehenden und sprach damit die Frage aus, die sich wohl alle stellten.

»Und ihr konntet nichts vom Täter erkennen? Lucy? Rose?«

»Nein, Tatjana.« Rose schüttelte den Kopf.

»Wie gesagt, wir haben nicht einmal gewusst, dass noch jemand im Raum war, bis die Tür zufiel«, murmelte ich.

Die Unzufriedenheit und Frustration in Tatjanas Gesicht konnte ich allzu gut nachvollziehen, und ich machte ihr deshalb auch keinen Vorwurf. Die ganze Vorbereitung auf den Kampf forderte von allen höchste Anstrengung und Konzentration, und eine Leiche war eine zusätzliche Belastung, die Zeit kostete, die wir nicht hatten.

»Verstehe. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Jetzt geht und kümmert euch um eure Aufgaben. Wir werden den Fall heute Abend in der Versammlungshalle weiterbesprechen.« Mit diesen Worten scheuchte Tatjana alle aus dem Raum, nur Elvon, Cara und ein Junge, der zu ihnen getreten war und sich gerade mit ihnen unterhielt, blieben zurück. Es dauerte einen Moment, bis ich ihn erkannte, denn er wandte mir den Rücken zu.

Atlas!

Ich drängte Rose panisch zum Gehen.

In der Hast bemerkte meine Freundin nicht, wie sie auf eine Stelle am Boden trat, an der die Kacheln seltsam verschwommen waren, als würde eine sich drehende Milchglasscheibe darüber liegen. Als ihr Fuß darin versank, packte sie meinen Arm. Sie rettete sich rudernd, indem sie ihren Fuß herauszog und ihn ein Stück daneben auf den Fliesenboden aufsetzte. Ihre Hose war an der Stelle, an der sie durch das verwischte Loch am Boden geglitten war, ganz durchnässt.

Doch Rose kümmerte sich nicht um ihr Hosenbein, sondern starrte wütend auf den verschwommenen Fliesenstrudel. »Diese verachtenswerten Zeitlöcher! Ich fühle mich langsam ernsthaft verfolgt. Sie tauchen an immer mehr Stellen auf, und jetzt bin ich auch noch in einen Regentag geplatzt.«

Ich konnte ihre Verärgerung nachvollziehen, denn auch ich hatte die Häufung der auftauchenden Zeitlöcher bemerkt. Es waren nur schwierig zu entdeckende, verschwommene Flecken. Sie traten am Boden, an der Wand und Decke auf, oder sie schwebten einfach in der Luft. Wenn man nicht aufpasste, lief man hinein, und der sich darin befindende Körperteil wurde durch Zeit und Raum an einen beliebigen Ort in die Inneren oder Äußeren Schleifen gebracht.

Auf unserer Reise waren wir auch auf mehrere gestoßen, und beim ersten Mal, als ich in eines hineingelaufen war, hatte ich nicht gewusst, wie mir geschah. Ausgerechnet mein Kopf war es gewesen, der in dem verschwommenen, in der Luft hängenden Zeitloch verschwunden und irgendwo in einer Äußeren Schleife aufgetaucht war. Vor mir war ein kleiner Junge gewesen, der aus einem mir in diesem Moment unerfindlichen Grund laut zu schreien begonnen hatte. Erst als mich Atlas zurück aus dem Zeitloch gezogen hatte, hatte ich begriffen, dass Atlas meinen Körper ohne Kopf und der Junge einen in der Luft schwebenden Kopf ohne Körper gesehen hatte.

Seitdem hütete ich mich davor, durch ein weiteres zu stolpern. Es bestand immer die Gefahr, dass der ganze Körper hineinfiel und man sich plötzlich in einer Massenschlägerei oder etwas ähnlich Üblem in einer Äußeren Schleife wiederfand.

Zudem hatte ich immer mehr den Verdacht, dass alle Mythen und Märchen der Äußeren Schleifen, egal ob sie von kopflosen Geistern oder wunderschönen Feen handelten, einen wahren Kern hatten, an dem die Augenschönen nicht unbeteiligt waren.

Ich schmunzelte leicht über den Gedanken, dass ich vielleicht ein Vorbild für eine solche fantastische Erzählung gewesen sein mochte, während ich mit Rose, die darüber fluchte, ihre Hose wechseln zu müssen, erneut den Rückweg zum Krankensaal antrat.

Der erste Schnee ließ wie vermutet nicht lange auf sich warten. Noch am selben Abend fingen dicke, weiße Flocken an, aus den Wolken heraus und hinab auf den Boden zu fallen.

Ich saß mit dem Rücken an das breite Fenster gelehnt, eine warme Decke um meinen Körper gewickelt, in vollkommener Dunkelheit. Licht anzuschalten, war mir unnütz erschienen. Reine Zeitverschwendung, denn schließlich war ich ein Nocturnal, das auch in der Dunkelheit sehen konnte. In meiner Hand hielt ich einen Brief, den ich unschlüssig anstarrte.

Hallo Atlas,

erst einmal aufrichtigen Dank für Deinen Brief, der meine Fragen restlos geklärt hat. Ich möchte mit diesem Schreiben nicht lang Deine Zeit in Anspruch nehmen, doch ich habe etwas nachgedacht und wollte Dir meine Überlegungen mitteilen.

Du warst auch anwesend, als Tatjana die Leiche von Laudine untersucht hat, und hast ihre Analyse gehört. Ich habe einen weiteren Verdacht dazu, wann und warum es zu dem Mord kam. Außer Zweifel ist wohl, dass der Täter der Spion war. Doch er hätte nicht aus einer Laune heraus jemanden umgebracht und so offensichtlich daliegen lassen.

Meine Vermutung ist einfach, und vielleicht hattest Du sie bereits ebenfalls:

Laudine muss den Spion bei irgendetwas belauscht oder beobachtet haben, was keinen Zweifel daran für sie ließ, dass es sich bei der Person um einen Verräter handelte. Es muss ziemlich eindeutig gewesen sein. Schließlich haben wir bisher niemandem von einem Spion erzählt. Vielleicht wollte sie ihn zur Rede stellen, oder aber er hat sie entdeckt. Aus Angst, sie könnte ihn verraten, hat er sie danach umgebracht, und zwar kurz bevor Rose und ich in den Duschraum kamen. Deswegen hatte er auch keine Zeit, die Leiche oder die Blutspuren zu entfernen, und verschwand, bevor er erneut entdeckt werden konnte. Das Gift der Nächtlichen Geschöpfe, das Laudine verabreicht wurde, zeigt, dass wir mit der Verbindung eines Verräters zu den Nächtlichen Geschöpfen richtiglagen.

 

Falls es Dich interessiert – ich habe mich erkundigt, was Laudine im Duschraum wollte. Sie wollte nachsehen, ob sie dort ihr Buch vergessen hat, nachdem sie am Morgen den Raum mit ihrer Variantmagie geputzt hatte. Ich schreibe Dir das, damit Du nicht den an den Haaren herbeigezogenen Gerüchten glaubst, dass Laudine eine Verräterin war, die sich in einem Anflug von Reue selbst das Leben nahm.

Lucy

PS: Für das »Herz der Zeit« habe ich ein geeignetes Versteck gefunden, danke der Nachfrage.

Ich überlegte noch eine Zeit lang, ob ich den letzten Satz weglassen sollte, ließ den Text dann doch, wie er war.

Auch ich hatte versucht, mich auf die sachlichen Aspekte zu konzentrieren und meine Gefühle aus den Zeilen zu streichen, auch wenn aus meiner Hand so viele süße Worte fließen wollten. Jene Gedanken, die mich früher warm und prickelnd – heute gemischt mit einer geballten Ladung Schmerz – beim Denken an ihn durchströmten. Der düstere Schatten des Trennungsschmerzes überdeckte alles.

Ich wusste, dass ich niemals über ihn hinwegkommen würde. Womöglich könnte ich in einer sehr weit entfernten Zukunft an unsere gemeinsame Zeit denken, als die beste, die ich je hatte. Oh ja, wahrscheinlich konnte nur die Zeit die Wunden heilen, zusammen mit Leuten wie Rose, die es ein kleines bisschen weniger schlimm wirken ließen.

Ich steckte das Blatt in einen Umschlag, schloss diesen und sah auf die Uhr, während mir die erste Träne über die Wangen zu laufen begann.

In zehn Minuten wollten Charlotte und Denise kommen, denen würde ich den Brief mitgeben. Also noch genug Zeit, mich nach den Bächen von Tränen wieder zu erholen.

»Unglaublich, die ganze Geschichte mit Laudine. Ich habe sie sogar persönlich gekannt, nicht nur vom Sehen. Wir haben seit Jahren in der gleichen Speerkampftruppe trainiert, also bevor der neue Trainingsplan aufgestellt wurde. Sie war ganz nett, zu jedem freundlich, und beim Kämpfen war sie auch nicht schlecht. Wie kann man nur so grausam sein und so jemanden umbringen?« Denise schauderte und schob sich ein rosa Bonbon in den Mund.

Sie hielt mir die Tüte hin, doch ich schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie wir erschrocken sind, als wir das ganze Blut und dann Laudine mit den verdrehten Gliedern und den aufgerissenen Augen gefunden haben. Den Anblick werde ich nie wieder los.«

»Oh, das glaube ich. Bin ich froh, dass nicht ich es war, die sie entdeckt hat!«

»Hmhmm. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.«

Wir tratschten seit über einer Stunde, und es ging immer noch um dasselbe Thema. Kein Wunder, und laut dem, was Denise erzählte, wurde auch außerhalb meines Krankenzimmers über nichts anderes mehr gesprochen.

»Wusstest du, dass morgen ihre Beerdigung ist? Es wird extra ein neuer Friedhof eröffnet, hinten auf der Südwiese neben dem Erinnerungsbrunnen. Sie ist tatsächlich das erste tote Augenschön, das hier begraben wird. Nun ja, Alis muss hier ebenfalls begraben sein, aber es gibt unzählige Mythen über den Ort. Manche erzählen auch von einem Grab in einer Äußeren Schleife, also kann man sich nicht sicher sein.«

»Und all die anderen?«

»Die Toten der … Sternenschlacht sind alle verbrannt, da Feuermagie eine unserer stärksten Waffen damals war. Und von den Verletzten sind alle durchgekommen, manche früher oder andere eben später. Die, die unterwegs gestorben oder verschwunden sind … ihre Partner hatten entweder keine Möglichkeit, ihre Leiche mitzunehmen, oder sie waren ganz ohne Reisegefährten unterwegs.«

Ich starrte vor mich hin und dachte seltsamerweise an das Skelett, das wir am Anfang unserer Reise, mitsamt dem unheimlichen Gruß aus dem Jenseits, gefunden hatten. War das ebenfalls ein Augenschön gewesen, das nach seinem Tod vergessen worden war und bis zum heutigen Tage in der Wüste verrottete?

»Beim Handtuchholen eine Leiche finden«, sinnierte Charlotte, »kein alltägliches Erlebnis.«

Denise nickte und ich seufzte.

»Was uns wohl noch alles erwartet …?«

Leider durfte ich an Laudines Begräbnis, das am darauffolgenden Vormittag bei nur leichtem Schneefall stattfand, nicht teilnehmen.

Obwohl ich mich über Tatjanas Verbot zutiefst ärgerte, wusste ich doch, dass sie recht hatte. Mein Gesundheitszustand hatte sich leider ganz und gar nicht verbessert. Im Gegenteil, ich musste mich häufiger übergeben. So oft, dass ich die Tür zum Bad schon gar nicht mehr schloss. Auch wegen meiner häufigen Toilettengänge. Zudem plagten mich ab und an heftige Bauchschmerzen, die ich nicht zuordnen konnte.

Glücklicherweise erzählten mir Rose und Caitlin, die im Laufe des Tages beide vorbeischauten, haarklein, wie die Besprechung am Vorabend und auch die Beerdigung gewesen waren. Laudine hatte ein schönes Grab bekommen, auf dem das gesamte Jahr über Butterblumen wachsen würden und neben dem nun unzählige bunte Blumensträuße lagen. Der Grabstein war aus schlichtem Granit mit einer einfachen Inschrift:

LAUDINE MILLIPHREN

GLAUDISSE

verstarb im Alter von 342 Jahren als Sechzehnjährige.

All unsere Wege haben ein Ende.

Es war nahezu jeder zu dem Begräbnis gekommen, sogar einige der Schleifenwesen hatten sich blicken lassen.

Caitlin erzählte mir, dass sie Laudine auch gut gekannt hatte und ihr standen Tränen in den Augen, als sie von der Trauerfeier berichtete. Ich versuchte, sie so gut, wie ich es konnte, zu trösten, doch sie war stark und hatte sich schnell und ohne große Hilfe wieder unter Kontrolle. Ich wünschte, auch solche Kraft zu haben.

Ansonsten stand oder saß ich den größten Teil des Tages vor meinem oder einem der Fenster im Flur und schaute hinaus auf das rege Treiben, das sich mit jedem Tag verstärkte. Es wurde auch durch den sich höher und höher stapelnden Schnee nicht aufgehalten. Kurz vor Mittag tauchten mehrere Augenschöne auf, die ihn mit ihrer Magie wegschmolzen, bevor es erneut schneite und die Haufen abermals zu wachsen begannen.

Um ein Uhr brachte mir ein Junge mit hellblauen Augen, den ich nicht kannte, mein Mittagessen. Er murmelte kurz »Hey« und stellte die Tüte mit dem Essen auf dem Boden ab.

Ich löste meinen Blick von der Wand, die ich gerade ausdruckslos angestarrt hatte, und antwortete tonlos: »Hallo!«, und dann: »Wie heißt du?« Die Frage war langweilig und unnötig, doch vielleicht würde sie mir etwas Ablenkung verschaffen.

»Ich bin Skyler. Man nennt mich allerdings Sky, wie den Himmel.«

Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. »Ich bin Lucy … aber das weißt du wahrscheinlich schon.«

»Ja, das weiß ich tatsächlich.« Sky grinste verschmitzt und fuhr sich durch die Haare. »Man kennt den Namen Lucy inzwischen hier in den Schleifen.«

Ich nickte zögerlich. »Das habe ich mir gedacht. Und, was sagt man so über diese Lucy?«

Jetzt lachte Sky. »Schlimmes in jedem Fall nicht.«

Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte. Er mochte für sich vielleicht die Wahrheit gesagt haben, doch bei manch anderen war ich mir nicht so sicher.

Ich bedeutete dem Jungen, dass er sich ruhig setzen konnte. Er nahm sich einen der Stühle, die auch meine anderen Besucher immer benutzten, und ließ sich tatsächlich darauf nieder.

Mein Blick fiel auf die Tüte mit dem Essen, die er mir mitgebracht hatte. »Warum hast eigentlich du das Essen gebracht?«, fragte ich.

»Oh, wahrscheinlich, weil kein anderer gerade Zeit hatte. Ich habe momentan eine halbe Stunde Pause und wurde von jemandem abgefangen, damit ich dir das Essen bringe.«

»Esst ihr denn nicht mehr gemeinsam zu Mittag?«

Sky schüttelte den Kopf. »Im Moment hat jedes Augenschön zu seltsamen Uhrzeiten Training, und man bringt das Essen irgendwie zwischen den Einheiten unter, zwischen denen man am meisten Zeit hat. Bei fast niemandem ist diese Zeit gleich, und so sitzt man meistens nur zu viert oder fünft im Speisesaal verteilt.«

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