Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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»Rose? Ich muss mal.«

»Das nehme ich dir nicht ab, Lucy. Du warst heute schon mindestens zweimal auf dem Klo. Denk dir schlauere Methoden aus, um das Training zu schwänzen.«

Ich seufzte. »Ehrlich Rose, ich muss wirklich auf die Toilette.«

Rose verdrehte die Augen, blieb aber schließlich stehen. »Na gut. Ich warte hier auf dich, und wenn du in nächster Zeit nicht auftauchst, dann erzähle ich allen, dass sich neben deiner Haarfarbe auch deine Gehirntätigkeit verändert hat. Wobei, das glaubt mir bestimmt niemand. Vor der Reise warst du auch nicht gerade die Hellste.«

Ich streckte ihr die Zunge raus und lief zurück über den Hof.

In dieser Schleife hatte sich neben dem Wetter noch einiges mehr verändert. Jedes Augenschön hatte inzwischen einen strikten Tagesplan. Verschiedene Trainingseinheiten, überall auf dem Gelände, mit unterschiedlichen Ausbildern. Die unterirdischen Hallen waren für die anderen Schleifenwesen zum Trainieren reserviert, weshalb wir Augenschönen draußen trainieren mussten.

Abends fanden Versammlungen in der Veranstaltungshalle statt, bei denen nach Rose’ Erzählungen Taktiken sowie Änderungen am Trainingsplan besprochen wurden und Gruppenumformungen stattfanden. Zudem hatte man die Magieübungen an das hintere Ende der Ostwiese verlegt, weil auf der Südwiese die Behausungen für die noch erwarteten Schleifenwesen errichtet wurden. Ich hatte noch nicht vorbeigeschaut, lediglich den von den Bauarbeiten herrührenden Lärm vernommen.

Meinen Mitreisenden – selbst dieser ihn umschreibende Gedanke tat schrecklich weh – hatte ich seit gestern nicht mehr gesehen. Ich war Rose außerordentlich dankbar dafür, dass sie es geschafft hatte, mich davor zu bewahren, zusammen mit ihm bei den Neles Bericht erstatten zu müssen.

James war ich ebenfalls noch nicht begegnet, was mich eigentlich nicht weiter hätte stören sollen in Anbetracht seines Benehmens, bevor wir von ihm getrennt worden waren. Allerdings hatte ich ihn auf der Reise besser kennengelernt und vermisste ihn irgendwie als zwar nervigen, aber doch auch guten Freund. Das Einzige, was mir über ihn zu Ohren gekommen war, hatte mir Rose erzählt. Und es handelte nur davon, wie er die laufenden Vorbereitungen organisierte und sich darum kümmerte, dass alles richtig verlief. Auch der Wochenplan, den meine Freundin mir gegeben hatte, stammte von ihm.

Ich lief durch die Eingangstür und dann schnell die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Rose traute ich alles zu und wollte ihr keinen Anlass geben, mir einen kleinen Streich zu spielen. Als ich die Tür aufschloss und eintrat, stutzte ich kurz. Irgendetwas war seltsam. Nachdenklich sah ich mich um, während ich aus den Stiefeletten schlüpfte. Hatte ich die Tür zum Schlafzimmer nicht hinter mir geschlossen, als ich nach dem Anziehen zurück ins Wohnzimmer gegangen war? Und die Badezimmertür war doch sicherheitshalber offen gewesen, falls mich eine weitere Übelkeitsattacke überkommen sollte. Stirnrunzelnd bemerkte ich auch eine offene Schublade an meiner Kommode. War jemand hier drin gewesen?

Kopfschüttelnd ging ich ins Bad. Wahrscheinlich hatte Rose doch recht gehabt, und in meinem Gehirn war etwas zu Schaden gekommen. Das bildete ich mir alles sicherlich nur ein.

Als wir etwas später an der Westwiese ankamen, stellte Rose fest, dass ich nicht zusammen mit ihr zum Schwertkampf eingeteilt war, sondern auf der Ostwiese schießen üben sollte. Auch in meinem weiteren Wochenplan war ich zu keiner Übungseinheit mit dem Hantieren von Waffen oder Speeren eingeteilt. Auf Rose’ vielsagende Bemerkung, dass beim Erstellen meines Plans wohl jemand ziemlich genau über meine Vorlieben oder Kampftechniken Bescheid gewusst und sie auch berücksichtigt hatte, ging ich nicht ein, sondern verschwand ziemlich erleichtert über das frostüberzogene Gras nach Osten.

Es schien noch weitere Augenschöne zu geben, die auf das Bogenschießen spezialisiert waren, denn die Gruppe war ziemlich groß. Der Leiter hieß David, war neunzehn oder zwanzig und mir deutlich sympathischer als Xavier. Er hatte als Erster versucht, mir Kampftechniken beizubringen, und war dabei eindeutig zu selbstverliebt gewesen.

Ich stand allein am Rand der Gruppe und wich den neugierigen Blicken der anderen aus, während David uns begrüßte. Er teilte uns mit, dass wir die Pfeilgruppe A waren und es noch zwei weitere Gruppen B und C gab. Allerdings betonte er, dass der Buchstabe der Gruppe nichts mit dem Können seiner Mitglieder zu tun hatte.

So langsam entstand ein Bild in mir, wie die Vorbereitungen auf den Kampf abgelaufen waren und noch immer abliefen. Da niemand genau gewusst hatte, wann wir kommen würden beziehungsweise wann der Kampf beginnen sollte, hatten alle alles trainiert. Rose hatte sich über die vielen Übungen im Speerkampf und im Klettern im Südwald heftig ausgelassen und sich darüber gefreut, sich mit ihrem neuen Wochenplan endlich auf den Schwertkampf konzentrieren zu können. Verrückt, dass sie gerade diese Kampfart so toll fand.

Durch das, was ich von ihr erfahren hatte, kam ich zu dem Schluss, dass man die Augenschönen auf verschiedenste Arten vorbereitet hatte und jetzt, da die Zeit so knapp geworden war, Elitegruppen für die jeweiligen Spezialgebiete bildete.

»Ihr werdet in Teams zu zweit zusammenarbeiten, die ich nachher einteile«, erläuterte David. »Zum Aufwärmen schießt jeder zehn Pfeile auf die Scheibe, danach versucht ihr euch im Wald an speziellen Zielpunkten wie der Gabelung eines Astes oder einem Loch in einem Baum. Wer die Möglichkeit und Lust hat, kann auch versuchsweise ein kleines Tier erlegen. Passt auf, dass ihr euch nicht gegenseitig trefft, das würde Zeit kosten, die wir nicht haben. Eine halbe Stunde könnt ihr im Nordwald üben, danach versammeln wir uns noch einmal hier.« David beendete seine Anweisungen und verteilte an jeden einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen.

Ich meinte zu bemerken, dass er ein paar Sekunden länger als nötig dafür brauchte, mir den Bogen und die Pfeile zu geben, und dass er mich dabei wie die anderen neugierig musterte. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet, während ich immer wieder heftig blinzelte, um hier bei den anderen zu bleiben und nicht in das Loch zu fallen und meinen Körper erneut der Leere zu überlassen. Was machte ich eigentlich hier, wenn es doch egal war, wo ich war, was und wie ich etwas machte? Wenn doch nichts einen wirklichen Grund zu haben schien?

»Damit ihr mit allen Mitgliedern der Gruppe vertraut werdet, werden wir manche Übungen auch zusammen machen. Ansonsten wäre es gut, wenn ihr euch mit dem jeweils zugeteilten Partner gut verstehen würdet, da ihr im Kampf höchstwahrscheinlich mit ihm zusammen kämpfen und auf seine Hilfe angewiesen sein werdet. Ridge, du arbeitest zusammen mit Malcolm. Jesahja, du mit Aria, Paul mit Henry«, begann er jeden einzuteilen.

Erstmals mit einer gewissen Aufmerksamkeit präsent, verfolgte ich, wie David einem nach dem anderen einen Partner zuwies. Doch anscheinend spielte ich mir selbst etwas vor, denn ich hatte nicht mitbekommen, wie David meinen Namen an das Mädchen, das schließlich vor mir auftauchte, weitergegeben hatte. Sie musste in etwa so alt sein wie ich, vielleicht etwas jünger. Ihre leicht gewellten hellblonden Haare waren an ihrem Hinterkopf zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der wippend auf Schulterhöhe endete. Sie trug eine enge schwarze Jeans und ähnliche dunkelbraun glänzende Stiefeletten wie ich. Dazu hatte sie ein dunkellilafarbenes Shirt an, über dem sie eine schwarze Lederjacke trug. Sie sah wunderschön und etwas verwegen aus.

Ihre gelben Augen blitzten unter den langen Wimpern, als sie mich mindestens genauso eingehend musterte wie ich sie. Blitzschnell schoss ihre Hand vor und griff meine. »Hallo, ich heiße Caitlin. Man spricht es K-e-itlin und nicht K-a-itlin aus. Die Schreibweise verwirrt manchmal.«

Froh über ihre offensichtliche Freundlichkeit, lächelte ich leicht. »Ich bin Lucy. Ganz normal ausgesprochen.«

»Weiß ich eigentlich schon, freut mich trotzdem. Übrigens – die schwarzen Haare sehen gut aus, obwohl ich keinen wirklichen Vergleich zu den blonden herstellen kann, da ich dich damit nur von Weitem gesehen habe.«

Ich nickte und versuchte, mir mein wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Es verlief ungefähr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine Veränderungen waren das einzige Gesprächsthema. Und meine Meinung darüber tendierte deutlich ins Negative. Caitlins nächste Worte überraschten mich allerdings und ließen winzige Hoffnungen keimen, dass sie nicht zu den ganz Typischen gehörte.

»Allerdings vermute ich, dass du keine Lust auf öde Unterhaltungen über die Reise oder dich hast. Also schlage ich vor, dass wir uns einfach normal verhalten. Ich bin einfach Caitlin, und du bist einfach Lucy. Zwei gewöhnliche Augenschöne.«

Ich versuchte gar nicht erst, ihren Redefluss zu stoppen, der mich stark an Rose’ Redseligkeit erinnerte, sondern nickte nur hin und wieder.

Schließlich hob Caitlin ihren Bogen hoch und sah mich fragend an. »Wollen Einfach-Caitlin und Einfach-Lucy mit dem Training beginnen? Ach ja, ich bin Linkshänderin, weshalb ich beim Schießen anders dastehe. Nicht, dass du denkst, ich würde die Seiten verwechseln.«

Wieder nickte ich nur und folgte ihr, als sie sich neben zwei Jungen stellte. Wie die meisten der Gruppe hatten sie sich bereits vor einer der Zielscheiben positioniert. Ich beobachtete Caitlin, während sie einen Pfeil nach dem anderen abschoss. Sie hatte die Zunge leicht zwischen die Lippen geklemmt und die Augen konzentriert zusammengekniffen. All ihre Pfeile trafen die Zielscheibe, sogar ziemlich weit innen. Sie war gut. Nachdem sie ihre Pfeile aus der Scheibe gezogen und ihren Köcher wieder damit gefüllt hatte, stellte sie sich neben mich und sah abwartend auf meinen Bogen.

 

Leicht zittrig zog ich einen Pfeil hervor und legte ihn an. Es war über ein Jahr vergangen, seitdem ich das letzte Mal geschossen hatte, und es fühlte sich ungewohnt und leicht befremdlich an. Ich schloss das eine Auge, fixierte die schwarze Mitte und ließ den Pfeil surrend starten. Er flog vielleicht die Hälfte der Strecke durch die Luft, bevor er kraftlos ins Gras fiel.

»Bin aus der Übung«, rechtfertigte ich mich murmelnd und holte hastig den nächsten Pfeil hervor, ohne Caitlin anzusehen, damit sie nicht die Röte bemerkte, die meine Wangen schamvoll hinaufkroch.

Doch mit Caitlin hatte ich wirklich Glück und eine ausgezeichnete Kampfpartnerin bekommen. Sie war selbst sehr talentiert und konnte mir nützliche Verbesserungsvorschläge geben, war jedoch ganz und gar nicht eingebildet. Außerdem ließen ihre Witze meine schwach ausfallenden Leistungen nicht mehr so schlimm erscheinen.

Im Verlauf des Trainings stellte ich fest, dass meine Treffsicherheit zwar noch immer vorhanden war, mir allerdings die Kraft zu fehlen schien, die nötig war, damit der Pfeil auch weitere Distanzen überwinden konnte. Frustriert über den Mangel an Muskelstärke bemühte ich mich mehr darum, Caitlin zu helfen, als nach einer Möglichkeit zu suchen, wie ich mir selbst helfen konnte.

Die Lösung meines Problems kam ganz von allein, indem ich meinen Wochenplan noch einmal genauer studierte und feststellte, dass fast die Hälfte aller Stunden in die Rubrik Ausdauer und Krafttraining fiel. Und nachdem ich verwirrt bei Caitlin nachgefragt hatte, erzählte sie mir, dass die Abstellkammer von einem Waffenlager zu einer Sporthalle umgeräumt worden war, um den hinzugekommenen Schleifenwesen ebenfalls Hallen zur Verfügung stellen zu können. Die Kampfutensilien befanden sich nun in einem weiteren unterirdischen Raum, der bis zur jetzigen Verwendung ungenutzt verstaubt war, nachdem die ehemalige Krankenstation, die sich anfangs darin befunden hatte, in einen Teil des Verwaltungsgebäudes verlegt worden war.

Ich versuchte, Caitlins Erklärungen aufmerksam zu folgen, was mir jedoch schwerfiel. Obwohl mich die frische Luft und die viele Bewegung eigentlich hätten wachrütteln sollen, schienen sie bei mir den gegenteiligen Effekt zu haben. Ich wurde immer träger und fühlte mich erschöpft, konnte meinen Bogen fast nicht mehr anheben. Caitlin warf mir immer wieder seltsame Blicke zu, als würde ihr meine Erschöpfung auffallen, als sei sie aber nicht sicher, ob sie etwas sagen sollte. Als ich über eine Wurzel stolperte und anschließend, an einen Baum gelehnt, den aufkommenden Schwindel zu unterdrücken versuchte, öffnete sie sogar den Mund, schloss ihn allerdings kurz darauf, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Mit jeder Minute wuchs meine Erschöpfung, als wir weitergingen. Ein seltsames Taubheitsgefühl ergriff von meinen Beinen Besitz, und ich schaffte es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Außerdem wurde mir immer wieder schwindelig, und vor meinen Augen huschten kleine Sternchen vorbei.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und fragte sie, ob es in Ordnung sei, noch mal eine kleine Pause einzulegen. Ich nuschelte irgendetwas von Schmerzen am Fuß, bevor ich mich auf einem Baumstumpf niederließ. Caitlin lehnte sich mir gegenüber an eine hohe Zeder. Sie holte ein Taschenmesser aus ihrer Jacke und begann, an dem Bogen in ihrer Hand herumzuschnitzen.

Ich zog die Beine an und wippte leicht vor und zurück, während ich sie dabei beobachtete. Mein Atem ließ neblige Schlieren in der frischen Morgenluft entstehen, und meine Haut brannte leicht in der Kälte des anbrechenden Winters. Ab und an hörten wir die Stimmen der anderen Gruppen, die durch den Wald streiften. Ich versuchte, meine Gedanken beisammenzuhalten. Da hörte ich, wie Caitlin tief Luft holte, vermutlich, um mit ziemlicher Sicherheit endlich meinen ramponierten Zustand anzusprechen. Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion über meine Gesundheit, weshalb ich in einem Anflug von Panik aufsprang und ihr ins Wort fallen wollte. Ab da ging jedoch alles schief.

Durch das überstürzte Aufspringen torkelte ich nach vorn und krachte fast in Caitlin hinein. Mein Magen drehte sich um und rebellierte. Ich konnte mich gerade noch abwenden, um zu verhindern, mich auf sie zu übergeben. Keuchend krallte ich meine zitternden Finger in die Baumrinde. Ich überging den Schmerz, den ich verspürte, als sich kleine Holzsplitter unter meine Nägel gruben, und würgte die mickrigen Reste des sich noch in mir befindlichen Essens hervor. Vor meinen Augen tanzten die Sterne jetzt wild, als ich mich schwankend an den Baum lehnte und aus meiner Jackentasche ein Taschentuch zog, um mir den Mund abzuwischen.

»Lucy … wie … was?« Caitlins Stimme überschlug sich vor Überraschung, Ungläubigkeit und Sorge.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen, um sie nicht noch mehr aufzuregen.

»Du bist krank!«, brachte sie schließlich hervor.

Ich schüttelte den Kopf, doch es war so gut wie sinnlos, es zu leugnen. Caitlin hatte mit angesehen, wie das Unmögliche möglich geworden war. Mein Körper hatte sich über die Gesetze der Natur der Augenschönen hinweggesetzt, und zwar nicht im positiven Sinne. Es war unvorstellbar, aber mein unsterblicher Körper hatte sich allem Anschein nach eine Krankheit eingefangen, die er nicht sofort und im Verborgenen hatte beseitigen können.

»Oh doch, Lucy, du bist ganz sicher krank, erzähl mir keine Lügen. Du hast nicht einmal genügend Kraft, einen einfachen Bogen anzuheben, geschweige denn, normal zu laufen.«

Ich wollte ihr ins Wort fallen, doch sie hatte sich gerade erst in Rage geredet.

»Zudem hast du dich eben übergeben. Übergeben, Lucy, ist dir das klar? Ich weiß nicht, was oder wie du dir … vermutlich auf eurer Reise … etwas eingefangen hast, aber eines ist klar: Du bist krank und brauchst wie jeder Kranke Ruhe, anstatt dich hier im Wald abzumühen.« Sie richtete sich auf und blickte zurück auf den Weg, der zur Wiese führte.

Ich blieb stumm. Was sollte ich denn auch sagen?

»Ich werde sofort Tatjana verständigen, damit sie dich vom Training befreit.« Ihre Brauen waren besorgt zusammengezogen, und sie hob gespielt streng den Zeigefinger. »Wehe, du rührst dich vom Fleck.«

Ich wollte bitter auflachen. Als ob ich das gekonnt hätte!

Doch es kam nur ein grässliches Krächzen über meine Lippen. Über Caitlins Gesicht huschte ein mitleidiger Ausdruck, bevor sie ihre Omunalisuhr hervorzog und in einem gelben Leuchten verschwand. Ein intensiver Duft nach Zitrone wehte mir entgegen. Gab es etwa einen Gott der Zitronen?

Die Seele ist das einzig Unantastbare –

nur Liebe kann sie zerstören.

(Omun, Augenschöner)

Kapitel 3

Ich klammerte mich an den Baum und schloss die Augen. Fast sofort wollten mich meine Gedanken in die altbekannte Richtung ziehen. Sie beabsichtigten, meine Verzweiflung aufkommen zu lassen und mich in dem wilden Strudel aus Leere und unerfüllten Hoffnungen alleinzulassen. Doch ich kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, sträubte mich gegen die Kapitulation und suchte nach einem Punkt, der mir Halt bot.

Ein Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Das eines lachenden Mädchens, fast schon einer jungen Frau. Sie hatte mir früher in genau diesen Momenten beigestanden, auch wenn es mir bei Weitem nie so schlecht gegangen war wie jetzt. Tränen traten mir in die Augen, und ich versuchte nur halbherzig, sie wegzublinzeln. Trauer tat weh, doch sie war so viel besser als die Alternative, nämlich der unweigerliche Schmerz, den das Loch trotz allem nicht ersticken konnte, in das ich unversehens zu fallen drohte.

Stattdessen kramte ich in meinem Kopf nach Erinnerungen. Erinnerungen an meine Zeit als Tochter des Dukes und der Duchesse de Mintrus im England des 17. Jahrhunderts. Rückblickend betrachtet, erschien mir mein damaliges Leben nahezu unbeschwert, das ich auf unserem Landsitz verbracht hatte, gemeinsam mit meiner großen Schwester Evie.

Doch es fiel mir schwer, nach Bildern zu stöbern. Sie waren verschwommen, unscharf. Entsetzt stellte ich fest, dass ich mich an immer weniger erinnern konnte. Ich hatte sogar schon fast vergessen, wie ihre Stimme klang, und musste mich anstrengen, um sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, den mädchenhaften und aufgeregten Klang. Und dann erinnerte ich mich an ihre Augen, die so viel Klugheit ausgestrahlt hatten. Ich wusste auch noch, wie sie einmal auf dem Markt ein neues Parfum entdeckt hatte, von dem ich meinte, es würde nach Brombeeren duften. Evie hatte von da an nur noch dieses Parfum benutzt, und wir hatten uns immer über den Verkäufer kringelig gelacht. Der junge Händler war jedes Mal vor Aufregung rot angelaufen, wenn er Evie auf dem Marktplatz erspäht hatte.

Wehmütig dachte ich weiter über den Markt nach. Ich sah, wenn auch etwas undeutlich, wie sich die Stände aneinanderdrängten. Ich hatte das wahllose Gedränge immer geliebt, die lauten Rufe der Händler, die ihre Ware anpriesen. Oder die Gaukler oder Wandermusiker, die, wo auch immer sie Platz fanden, ihre Kunst vorführten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf den Märkten war das Gold meiner Augen selten aufgefallen, keiner hatte genug Zeit für einen zweiten, genaueren Blick, und somit musste ich keine Angst vor betretenen Musterungen haben. Auch deshalb hatte ich jeden einzelnen Besuch des Gedränges geliebt, so selten sie auch gewesen waren. Angestrengt verzog ich das Gesicht, um weitere Erinnerungen zutage zu fördern, doch es wollte nichts mehr kommen.

Resigniert erinnerte ich mich an Rose’ Worte, kurz nachdem ich in die Schleifen gekommen war. Sie hatte mir von dem Erinnerungsbrunnen erzählt. Er hielt die Erinnerungen eines jeden Augenschöns frisch, um sie vor dem unbarmherzigen Vergessen der Zeit zu schützen, das ich gerade am eigenen Leib spürte. Ich musste mich unbedingt bei Rose danach erkundigen, um weitere Gedächtnislücken zu verhindern.

Durch ein leises Knacken aufgeschreckt, schlug ich die Augen auf und blickte in Caitlins blitzendes Gelb.

»Da bin ich wieder«, rief diese und trat zurück, während sie mir einen Arm hinhielt. »Ich habe mit Tatjana geredet. Es hat überhaupt nicht lange gedauert, sie zu überzeugen. Anscheinend hast du schon gestern einen kränklichen Eindruck gemacht, und Rosalie hat sich wohl bereits bei ihr gemeldet. Du hast dich also schon öfters übergeben?«

Ich ignorierte die Frage und klammerte mich stattdessen an ihren Arm wie eine Ertrinkende. Vorsichtig wagte ich abermals ein paar Schritte und ließ Caitlin schließlich los.

Sie folgte meinen kurzen Schritten aus dem Wald und plapperte unermüdlich weiter. »Tatjana meinte, es wäre das Beste, wenn wir dich in das Krankenzimmer im Verwaltungsgebäude bringen und dich von ihr und einer der Dromeden untersuchen lassen. Allerdings geht sie bereits jetzt davon aus, dass du dich nicht allzu schnell erholen wirst. Deswegen soll ich dir dabei helfen, einige Kleider, Bücher und so weiter einzupacken, weil du in das Krankenzimmer einziehst, bis es dir wieder besser geht. Du wirst also auch nicht mehr am Training teilnehmen und nicht beim Kampf eingesetzt werden.«

Ich hatte mir alles kommentarlos angehört, doch bei Caitlins letzter Aussage blieb ich wie angewurzelt stehen. »Ich … soll nicht mitkämpfen dürfen?«

»Ach, Lucy, jetzt sei mal ehrlich zu dir selbst. Bei Gottes bestem Willen, wie willst du denn in deinem Zustand richtig in Form kommen? Du wärst bereits tot, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hätte. Und jetzt lauf weiter, ich möchte hier keine Wurzeln schlagen.«

Sie hatte recht, also tat ich, was sie wollte, lief weiter und ließ Caitlins Redefluss über mich dahinplätschern.

»Ich wette, du bist die erste Augenschöne, die nicht aufgrund eines Zusammenstoßes mit einem Nächtlichen Geschöpf auf die Krankenstation kommt. Tatjana wusste übrigens ebenso wenig wie ich, wie es sein kann, dass du krank bist. Allerdings hat sie eine Vermutung diesbezüglich. Atlas soll bei seinem Bericht einen Ausbruch deiner göttlichen Kräfte erwähnt haben. Du sollst eine Titanin mit unfassbaren Fähigkeiten sein, und Tatjana zufolge wäre dein Unwohlsein eine verspätet auftretende Nachwirkung. Obwohl ich ihre Überlegungen nicht ganz nachvollziehen kann, scheint das die einzige ansatzweise logische Erklärung zu sein.«

Ich sagte nichts dazu. Obwohl ich mit hundertprozentiger Sicherheit hätte behaupten können, dass es sich auf keinen Fall um Nachwirkungen handelte, tat ich es dennoch nicht. Vielleicht, weil ich es zwar so sah, jedoch nicht das medizinische Fachwissen besaß, um es auch nachzuweisen. Vielleicht aber auch nur, weil ich keine Lust hatte, etwas zu sagen oder Tatjana zu widersprechen. Oder ich hatte ganz einfach zu viel Angst vor dem, was der wirkliche Grund dafür war, und versteckte mich lieber hinter einer Maske aus falschen Annahmen.

 

Am Verwaltungsgebäude verschwand Caitlin kurz, um gleich darauf wieder mit einem Koffer aufzutauchen. »Geh schon mal vor. Ich muss noch kurz was erledigen«, rief sie mir zu und lief in Richtung Verwaltungsgebäude davon.

Ich zog den leeren Koffer, der über den unebenen Kiesboden ratterte, hinter mir her über den Hof auf das Wohnhaus 2 zu. Dass ich aus meinem Zimmer in das Krankenzimmer umziehen musste, machte mir nicht sonderlich viel aus. Ich ärgerte mich deutlich mehr darüber, dass ich so nutzlos war und beim Kampf nicht helfen konnte. Frustriert drückte ich mit meiner Schulter die gläserne Eingangstür auf und schlüpfte mitsamt Koffer durch den schmalen Spalt. Langsam stieg ich die Treppe hinauf, darauf bedacht, nicht so viel Krach zu machen trotz des unhandlichen Gepäckstücks. Ich hörte Stimmen vom schmalen Emporengang. Jemand unterhielt sich dort in gedämpfter Lautstärke. Ein Mädchen lachte glockenhell auf. Ich beachtete es erst gar nicht richtig, bis ich eine der Stimmen erkannte und mitten in der Bewegung erstarrte.

Atlas.

Der Name brannte eine heiße Schneise in mein Herz.

Ich spürte förmlich, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und sah, wie die Knöchel an meiner Hand weiß hervortraten, als ich mich auf das Geländer stützte. Wenn ich ganz leise und unauffällig weiterging, würden sie mich womöglich kaum oder gar nicht bemerken. Vorsichtig stieg ich weiter hinauf, den Blick auf den Boden geheftet, die Stimmen, so gut es ging, ausblendend.

Zwei Stufen und zehn Schritte lagen noch zwischen mir und meiner Zimmertür, als ich meinen Entschluss in den Wind schlug und aufsah. Ein großer Fehler.

Atlas und das Mädchen, das seine blonden Haare durch eine Flechtfrisur aufgetürmt hatte, standen an Atlas’ Zimmertür gelehnt da. Das Mädchen hatte die Hand freundschaftlich auf Atlas’ Arm gelegt und blickte ihn aus seinen großen orangefarbenen Augen bewundernd an. Ich hatte die Blonde bisher noch nie gesehen, doch bei ihrem offensichtlich vertrauten Umgang schoss eine riesige Welle der Eifersucht durch mich hindurch.

Gerade warf sie ihren Kopf erneut lachend in den Nacken, als aus heiterem Himmel ein goldener Blitz aus meinen Augen schoss, ein lautes Krachen zu hören war, gefolgt von einer braunen Staubwolke.

Erschrocken verharrte ich auf der Stelle und versuchte zu begreifen, was da eben passiert war. Hatte ich die Kontrolle über meine Gefühle verloren? War meine Eifersucht so stark gewesen, dass sie aus mir herausgebrochen war?

Ich zuckte zusammen, als neben mir jemand auftauchte. Doch es war nur Caitlin, die die Treppe hinaufgehastet gekommen war und nun mit großen Augen den Riss, der sich durch die weiße Wand neben Atlas’ blauer Wohnungstür zog, musterte. Die Staubwolke hatte sich verzogen, und das Mädchen und Atlas sahen erst den Riss und dann mich an. Wenn ich die Blonde genau betrachtete, dann konnte man die Art und Weise, wie sie die Augen wütend zusammengekniffen hatte und die Lippen zornig aufeinanderpresste, nicht mehr als normales Mich-Ansehen bezeichnen. Aus jedem Zentimeter ihres Gesichtes schrie mir die Verachtung entgegen.

Ich fühlte, wie meine Wangen ganz heiß wurden. »E-Entschuldigung. Das wollte ich nicht.« Meine Stimme klang brüchig, und auf meine Worte hin verengten sich die Augen des Mädchens nur noch mehr zu schmalen, abfällig blitzenden Schlitzen.

»Ach ja? Du wolltest das nicht? Dann pass mal besser auf deine Magie auf, Neuling!« Sie trat einige Schritte näher. »Ich weiß genau, was du damit bezwecken wolltest. Und auch, wenn dein Plan aufgegangen ist, wird der Triumph nicht lange anhalten.«

Ich blinzelte, verwirrt von den Worten. »Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor«, versuchte ich zaghaft, sie zu beruhigen.

Das Mädchen öffnete den Mund, doch Caitlin kam ihm zuvor. »Hey, Lexi, ich denke auch, dass du das falsch verstanden hast. Lulu hatte bestimmt nicht vor, das Wohnhaus dem Erdboden gleich zu machen. Warum kommst du nicht kurz mit? Ich könnte gerade deine Hilfe gebrauchen.«

Während das Mädchen, Lexi, noch zögerte, beugte ich mich zu Caitlin. »Wie hast du mich gerade genannt?«, fragte ich sie leise.

Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Lulu. Ist doch schön.«

Ich rollte mit den Augen, rückte dann allerdings schnell zur Seite, als Lexi Caitlins Bitte nachkam und die Stufen zu uns herunterstieg. Als sie an mir vorbeikam, durchbohrte sie mich mit einem kalten Blick.

»Atlas gehört mir. Und auch, wenn du mit ihm auf Reisen warst, heißt das nicht, dass du Vorrang hast. Lass deine dreckigen Finger von ihm!«, zischte sie mir so leise zu, dass nur ich es verstehen konnte.

Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört, und wandte mich ab. Während ich auf das Zuschlagen der Eingangstür wartete, stieg ich langsam die restlichen Stufen hinauf, den Koffer hinter mir her wuchtend.

Atlas stand immer noch an derselben Stelle und sah mir dabei zu.

»Hör mal … Izzy, es tut mir leid, dass …«

»Nein, nein«, unterbrach ich ihn schnell. Dass mir auffiel, dass er beim Nennen meines Namens gestockt hatte, ließ ich mir nicht anmerken, ebenso wenig, dass ich mich fragte, warum er sich entschuldigte. An seinem Ton hatte ich gehört, dass er genau wusste, dass Eifersucht der Auslöser für meinen Gefühlsausbruch gewesen war.

Verlegen betrachtete ich meine Stiefelspitzen, während ich fortfuhr. »Du solltest zusammen sein können, mit wem du willst, ohne dass es mir etwas ausmacht. Schließlich hast du … « Ich brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen, und räusperte mich stattdessen. »Jedenfalls … ich sollte mich entschuldigen. Dafür, dass ich mich nicht besser im Griff habe. Aber … i-ich kann meine Gefühle für dich nicht einfach abstellen.« Ich knetete meine Finger und schaute überallhin, nur nicht zu ihm. Letztendlich landete mein Blick doch noch auf ihm.

Er strich mit verschlossenem Gesicht über den Riss, an dessen Seiten der Wandputz abbröckelte, doch ich kannte ihn inzwischen gut genug, dass ich wusste, dass hinter seiner Teilnahmslosigkeit die Gefühle nur so brodelten. Allerdings konnte ich nicht sagen, was genau in ihm vorging.

Aus Angst, dass alles, was er jetzt noch sagen würde, bloß wehtat, hauchte ich ein »Also, bis dann« und huschte an ihm vorbei in mein Zimmer. Die kurze Zeit mit ihm, es waren gerade einmal zwei, drei Minuten gewesen, hatte das Messer so tief in mein Herz gerammt, dass ich mich wunderte, dass ich vor Schmerzen nicht laut schrie. Doch mir fehlte die Kraft dazu, die wie Blut aus der Wunde zu fließen schien.

Unschlüssig, was ich einpacken sollte, verharrte ich vor meinem Kleiderschrank. Letztendlich warf ich von allem etwas in den Koffer. Falls ich etwas vergaß, war es ja nicht weit, um es zu holen. Schließlich stand ich nachdenklich neben der Schublade, in der ich meine Socken aufbewahrte, und hielt ein weißes Paar in der Hand. Zögerlich betrachtete ich es eine Weile, bis ich entschlossen die unscheinbare Kette daraus hervorholte. Das Herz der Zeit.

Atlas hatte recht gehabt. Hier in der vierten Schleife spürte und sah ich nichts von der magischen Atmosphäre, die das Herz der Zeit umgab. Ich hatte nicht gewusst, wo ich ein geeignetes Versteck finden sollte, und meine Sockenschublade war mir als eine gute Lösung erschienen. Jetzt war ich jedoch erneut mit dem Problem konfrontiert, wo ich die Kette während meiner Abwesenheit unterbringen sollte. Ob ich sie überhaupt unbeaufsichtigt zurücklassen konnte oder stattdessen mitnehmen sollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte ich sie mir kurzerhand um den Hals und versteckte sie unter meinem Shirt und dem Rollkragenpulli, den ich darüber trug. Es würde sich wohl niemand über das Tragen eines Glücksamuletts wundern.