Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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Ein Lächeln stahl sich zu meinem Erstaunen auf mein Gesicht. Es schmerzte in meinen Gesichtsmuskeln, und mir fiel auf, dass es das erste Lächeln seit meinem Gespräch mit … seit dem Gespräch war. Ein Schauer fuhr durch meinen Körper, und ich entschloss mich, den einen Namen nicht einmal mehr zu denken.

Es tat einfach zu weh.

Mit ein wenig neuer Kraft schälte ich mich zuallererst aus meiner zerrissenen und beschmutzten Kleidung, bevor ich mir die Shampootuben griff und mir Haare und Körper zweimal von oben bis unten einschäumte. Es brannte leicht an einer letzten Wunde am Bauch, die besonders tief gewesen sein musste und somit noch nicht richtig verheilt war. Von den anderen waren nur noch mehr oder weniger stark verheilte Narben zu erkennen. Doch alle sahen so aus, als würden sie in spätestens zwanzig Minuten verschwunden sein.

Als ich endlich triefend nass aus der Dusche stieg, waren der Spiegel sowie Fenster und die gläsernen Wände der Dusche vollkommen von dem warmen Dunst beschlagen, und ich kam erneut zu dem Schluss, dass Rose einfach die Beste war. Ich wusste nicht, woher sie wusste, dass eine warme, entspannte Dusche Wunder wirken konnte.

Ich nahm mir ein Handtuch aus dem Regal und rubbelte meinen Körper ab. Dabei spürte ich wie zuvor in der Dusche meine Rippen, und auch im Spiegel konnte ich sehen, wie sie sich unter der Haut abzeichneten. Schnell wandte ich mich davon ab und zog mir die trockene Kleidung an, die Rose auf den Hocker gelegt hatte. Mir fiel auf, dass die Hose aus dickem Stoff bestand, und meine Freundin hatte an ein langärmliges Shirt und an einen Stoffpulli gedacht, der innen warm gefüttert war. Hier brach schließlich schon der Winter an, auch wenn mir das völlig falsch vorkam. Ich hatte diese Schleife nur im fröhlichen Blühen des Frühlings erlebt und konnte sie mir nicht schneebedeckt vorstellen.

Schnell bürstete ich mir noch die Haare durch und band sie zu einem Pferdeschwanz, bevor ich tief Luft holte und ins Wohnzimmer trat. Ein wunderbarer Duft schlug mir entgegen, zusammen mit wohliger Wärme und dem angenehmen Licht der Deckenlampe. Rose saß an dem runden Holztisch auf einem der alten Stühle. Sie trug ebenfalls trockene Kleidung. Offensichtlich war sie in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer gewesen und hatte sich umgezogen. Auf dem Tisch vor ihr standen mehrere kleine Schüsseln und Teller, von denen der köstliche Essensgeruch ausgehen musste. Erleichtert lief ich zu ihr und ließ mich auf einen der Stühle sinken, während ich hungrig die Auswahl an Speisen musterte.

Nachdem ich mehrere Portionen verschiedener Gerichte, Kartoffelbrei mit Würstchen, Nudeln mit Soße und einen gemischten Salat, verdrückt hatte, lehnte ich mich zurück.

»Dein erstes warmes Essen seit wann?« Um Rose’ Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln.

»Ganz ehrlich? Ich glaube, seit etwa eineinhalb Jahren. Seit meinem letzten Abendessen hier.«

»Bin ich froh, dass ich nicht mit auf der Reise war!«, meinte Rose und schüttelte, erschrocken über meine Aussage, den Kopf.

Ihre Reaktion war verständlich. Rückblickend betrachtet, verstand ich ja selbst nicht, wie ich es so lange ohne richtiges Essen hatte aushalten können. Doch ein anderes Thema beschäftigte mich weitaus mehr, und ich räusperte mich, um es anzusprechen. »Rose?« Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. »Sehe ich sehr schrecklich aus?«

»Sag so etwas nicht.« Rose runzelte verärgert die Stirn. »Du siehst nicht schrecklich aus, nur … anders.«

Ich wusste nicht, was ich von der Antwort halten sollte.

»Versteh mich nicht falsch, aber es ist …«

»Du kannst ruhig sagen, dass ich … nicht mehr so toll aussehe.«

»Nein, nein! Das wollte ich ganz bestimmt nicht sagen. Und es stimmt ja auch nicht. Du siehst nicht hässlich aus oder so, eben nur … verändert.«

Als ich daraufhin bloß die Stirn runzelte, seufzte sie. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Aber ganz sicher, Lucy, hässlich bist du bestimmt nicht. Du bist immer noch wunderschön, so wie früher. Allerdings eben mit verändertem Aussehen.«

Ich nickte langsam, während meine Gedanken erneut abdrifteten – zu dem Tag, der der schlimmste meines ganzen Lebens gewesen war. Ich dachte nicht an das, was auf der Wiese geschehen war. Den unmenschlichen Schmerz dieser Erinnerung konnte ich nicht aushalten. Ich dachte auch nicht an die Nacht danach, in der die wahre Lucy gestorben war. Nein, ich dachte an die Gedanken, die eine innere Stimme gehässig zu den Beweggründen für sein Handeln abgegeben hatte. Und ich konnte nichts dagegen tun, als Tränen in meine Augen traten und über meine Wangen liefen.

»Lucy?«

Rose wusste bestimmt, dass nur eines mich so aus der Bahn werfen konnte.

Ich schluckte schwer und versuchte, mich zu beruhigen. »Ich … ich dachte gerade nur …« Meine Stimme brach, und ich musste mit aller Macht verhindern aufzuschreien, während sich das Messer in meiner Brust genüsslich ein paar Mal im Kreis drehte.

Rose sah mich an, und ich erkannte die Unsicherheit in ihrem Blick, die mein Verhalten verursachte. Ich erkannte, dass es ihr wehtat, mich so zerstört zu sehen, und verabscheute mich dafür, ihr das anzutun. Dass ich nicht stark genug war, aus dem Trümmerhaufen zu steigen oder ihn wenigstens vor ihr zu verbergen.

»Lucy, was ist?«

Ich holte tief Luft, doch bei dem Gedanken an meine nächsten Worte traten sofort wieder Tränen in meinen Augen. »I-ich habe mich gefragt, ob … ob meine Veränderungen … ob sie … weiß nicht … Vielleicht haben sie ja anderen nicht so gefallen. Vielleicht haben sie … vielleicht haben sie ihm nicht gefallen, und dass er deswegen … dass er deswegen …« Ich wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, und erst durch Rose’ Arme, die sich um mich legten und mir Halt gaben, schaffte ich es, eine gewisse Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. Ich vergrub meinen Kopf an ihrer Schulter und ließ mir von Rose über den Rücken streicheln.

Rose lehnte sich zurück und sah mich ernst an. »Also, Lucy, bevor ich anfange, mich wieder unstrukturiert über deine unangebrachten Selbstzweifel auszulassen, wo du mir doch ohnehin nie wirklich dabei zuhörst, gehen wir das Thema ganz sachlich an.«

Ich nickte leicht verwirrt.

Sie hob die Hand und begann an den Fingern aufzuzählen. »Also, Punkt eins bei unserer – na gut, meiner – Widerlegung deiner These ist, dass Atlas bis zu dem genannten Tag, deinen Worten nach, nicht einmal ansatzweise etwas gesagt oder getan hat, was darauf hätte hindeuten können, dass es zwischen euch aus sein könnte. Hätte er schon länger darüber nachgedacht, sich von dir zu trennen aufgrund deiner angeblichen Hässlichkeit, hättest du es bestimmt bemerkt. Es hätte einen Streit gegeben, er hätte sich von dir distanziert, etwas in der Art. Aber du hast erzählt, dass es so nicht gewesen ist. Ein Argument dafür, dass er dich nicht hässlich fand.«

Ich nickte. Es hatte wirklich keine Anzeichen für ein so abruptes Ende gegeben, also lag es vielleicht gar nicht an meinem Äußeren, sondern es war so, wie er gesagt hatte. Dass wir seiner Meinung nach nicht wirklich zusammenpassten, dass er einfach erst zu diesem Zeitpunkt bemerkt hatte, dass er mich nicht wollte. Dass ich nicht diejenige war, die er wollte. Und darin konnte ich ihm nicht widersprechen. Ich hatte mich doch eigentlich immer wieder selbst darüber gewundert, wie es sein konnte, dass er mich zu mögen schien, ja, dass dieses Unmögliche offenbar doch möglich war. Ich selbst wusste schließlich am besten, wie ich war, was für eine Last ich war.

»Der nächste Punkt«, streckte Rose den Zeigefinger hoch, »und das ist der logischste für mich, du hast eindeutig die Reihenfolge der Geschehnisse nicht beachtet. Sie spielt aber durchaus eine Rolle. Nämlich deshalb, weil deine Haare und Augenfarbe sich verändert haben, als James noch dabei war, das hast du zumindest erzählt. Daraus folgt, dass Atlas überhaupt erst mit dir zusammenkam, nachdem du dich schon so verändert hattest. Warum hätte er das tun sollen, wenn er dich so nicht schön gefunden hätte? Vielleicht aus Spaß? Doch dann wäre er niemals ein ganzes Jahr mit dir zusammen gewesen, oder?«

»Aber wenn ihm erst nach und nach aufgefallen ist, dass er mich doch nicht so … schön findet? Wenn er sich gedacht hat, dass er es versucht, auch wenn ich keine goldenen Augen und blonde Haare mehr habe, und erst später merkte, dass es ohne das nicht … funktioniert?« Ich wusste, dass ich mich immer weiter hineinsteigerte, doch ich schaffte es einfach nicht, aufzuhören, mich in meinem eigenen Unglück zu suhlen.

Rose seufzte. »Lucy, hörst du dich eigentlich selbst reden? Was du sagst, ist der größte Schrott, den ich gehört habe, seit Tyler das letzte Mal den Mund zugemacht hat. Wirklich, ich kenne Atlas schon sehr, sehr lange und so oberflächlich, wie er sein müsste, wenn deine Überlegungen stimmen würden, ist er auf keinen Fall. Was wäre er bitte für einer, wenn er nur aufgrund deines Aussehens mit dir zusammen gewesen wäre? Das ist doch der verrückteste Gedanke, den ich je gehört habe. Nicht einmal James würde so etwas tun. Und wie gesagt, Atlas ist vieles, aber nicht oberflächlich.«

Sie sah mich ernst an, und ich war ihr schrecklich dankbar dafür, dass sie sich so um mich bemühte, auch wenn ich es doch eigentlich nicht verdient hatte.

»Lucy?«

»Hm?« Ich tauchte aus meinen Gedanken auf.

»Darf ich … darf ich ehrlich meine Meinung darüber sagen, was ich von dem Ereignis, dessen Beweggründe wir eben erörtert haben, denke?«

»Klar.« Überrascht musterte ich sie. »Ich möchte immer deine ehrliche Meinung zu allem hören. Da gibt es keine Einschränkungen.«

»Na gut.« Rose überlegte kurz. »Kann … kann ich davor noch kurz ein paar Fragen stellen, damit klar ist, dass ich nichts falsch verstanden habe?«

 

Ich nickte.

»Auch wenn … also … ich meine, vielleicht könnte dir die Erinnerung wehtun.«

Ich nickte tapfer. Jetzt hatte ich mich besser im Griff, und mit Rose’ Vorwarnung konnte ich zusätzlich noch rasch eine schützende Mauer um mich bauen. »Frag mich, was du willst.«

»In Ordnung. Es ist nur zur Absicherung und geht ganz schnell.« Rose dachte einen Augenblick nach. »Er hat dich in London geküsst und danach gesagt, es hätte nichts zu bedeuten?«

»Ja.«

»Und erst, als James verschwunden war, hat er sich dir genähert und dich erneut geküsst?«

»Ja.«

»Dann wart ihr ein ganzes – mehr als ein ganzes – Jahr zusammen?«

»Ja.«

»Und du hast eigentlich die ganze Zeit gedacht, dass er dich wirklich liebt?«

Ich schauderte. »Ja.« War ich nur blind gewesen? Hatte ich so sehr darauf gehofft, dass ich nicht bemerkt hatte, dass es nicht echt gewesen war?

»Und aus heiterem Himmel hat er es dann in der Schleife der Nuvola beendet, direkt nach der besonderen Nacht?«

»Ja.«

Rose biss sich auf die Lippe und versuchte offensichtlich, irgendeine Emotion zu verbergen.

Neugierig betrachte ich sie. Was für eine Meinung sie wohl hatte, die sie nicht einfach hatte aussprechen können und zu der sie mir absichernde Fragen stellen musste?

Ich hielt die Mauer in mir aufrecht, noch hatte ich die Kraft dazu. Gewiss nicht mehr lange.

Rose’ Augen wurden etwas schmäler, als sie ihre Überlegungen beendet hatte und mich ansah. »Womöglich wirst du etwas … überrascht, verärgert ‒ was weiß ich? ‒ sein, aber das muss ich jetzt loswerden. So, wie er sich benommen hat, so benehmen sich eigentlich nur totale Idioten. Solche wie Tyler. Ich meine, wie daneben ist es eigentlich, so mit einem Mädchen zu spielen? Man küsst sie, sagt, dass es unbedeutend war. Man kommt mit ihr zusammen und macht Schluss, sobald man mit ihr geschlafen hat. Eigentlich dachte ich immer, er wäre nicht so einer, aber die von dir geschilderten Ereignisse lassen eigentlich nur diesen Schluss zu. Und wenn es stimmt, dann ist er nichts anderes als ein hirnrissiger, bescheuerter Idiot, der nicht erkennt, dass er nie etwas Besseres als dich abbekommen wird!«

Perplex starrte ich Rose an, die seelenruhig, als hätte sie soeben nicht irgendjemanden heftig beschimpft, ihre Nägel betrachtete.

»Ähm … okay«, meinte ich wenig einfallsreich. »Dann … dann kommen wir zurück zum eigentlichen Thema … wie sehr anders bin ich?«

Rose blieb ernsthaft, und ihre Antwort fiel so aus, wie sie immer ausgefallen wäre. Ihre temperamentvolle Meinungsbildung schien bereits Vergangenheit zu sein.

»Sagen wir es mal so: Von außen bist du nur in manchen Punkten anders. Deine Haare sind ein wenig länger und haben eine andere Farbe. Deine Augen sind rot geworden, allerdings haben sie immer noch dieselbe Form. Deine Haut ist nicht mehr … pfirsichfarben, sondern fast weiß. Außerdem bist du dünn geworden und wirkst echt zerbrechlich. Und … noch etwas ist anders, wobei ich nicht glaube, dass es so vielen auffallen wird. Deine Ausstrahlung ist anders … Zum einen wirkst du stärker in deinem Tun. Du bist sicherer geworden, hast dich mit deinem neuen Leben abgefunden. Bevor ihr weg seid, war nämlich immer eine gewisse Unsicherheit in deinem Handeln. Da schien eine unausgesprochene Frage in dir zu sein. Es war, als würdest du dich die ganze Zeit fragen, ob alles stimmt, ob es so sein soll oder ob du etwas falsch machst. Das wirkt jetzt nicht mehr so. Allerdings ist nun dieser Schatten da … Er lauert auf dir, ist um dich herum und … Wenn ich ehrlich bin, Lucy, gerade eben habe ich zum ersten Mal etwas Leben in dir gesehen, seit du wieder hier bist. Doch es verschwindet wieder. Du bist leer, dein Blick ist ausdruckslos. Es macht mir Angst.« Rose schauderte leicht.

»Und ich mache mir Sorgen um dich, denn ich weiß nicht, ob dieser Schatten wieder verschwinden wird. Ich weiß nicht, ob du dich je davon erholen wirst.«

Ich schluckte schwer. Sie wusste es nicht, aber ich wusste es. Ich würde mich nie davon erholen, dessen war ich mir sicher. Ich hatte nicht nur die Liebe meines Lebens verloren, ich hatte alles verloren. Mich selbst, das Leben, dass ich für mich hier erträumt hatte … Niemals würde ich diesen Kummer ganz loswerden. Dennoch überraschte es mich etwas, dass das alles Rose in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft aufgefallen war. Mir wäre warm ums Herz geworden, wenn ich noch eines gehabt hätte, das wirklich lebte.

Ich zog die Füße auf den Stuhl und schlang die Arme darum. Es gab mir ein schützendes Gefühl, diesen Kokon zu bilden. So, als würde er mich vor dem Schmerz bewahren und das Messer am Bohren und Drehen hindern.

»Lucy, hör auf damit!«

Ich zuckte zusammen und sah verwirrt zu Rose auf. »Womit?«

»Mit dem, was du gerade gemacht hast. Du bist leer geworden, vollkommen leer. Wie eine Tote. Lass das.«

Meine Hand zuckte in Richtung meines Herzens, als wollte sie versuchen, das unsichtbare Messer herauszuziehen. Ich wusste, dass sie nichts greifen konnte, wusste, dass es nichts gab, was den Schmerz gelindert hätte.

»Ich weiß nicht, wie«, stieß ich heiser hervor und musste alle vorhandene Konzentration aufbringen, um Rose’ Antwort zu hören, anstatt mich dem Loch zu überlassen.

»Du darfst nicht zulassen, dass deine Gedanken abschweifen zu … du weißt schon, wem. Du musst hierbleiben, im Jetzt.«

Ich verstand ihre Worte, doch ich wusste sofort, dass es mir nicht möglich sein würde, sie umzusetzen. Rose hatte keine Ahnung davon, wie das war, was ich gerade durchmachte. Oder doch?

»Wir gehen am besten nach draußen.« Sie wirkte entschlossen, als sie aufstand. »Frische Luft tut immer gut, und vielleicht wird sie dich auf andere Gedanken bringen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Rose, ich bin schrecklich … müde. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Bitte, ich möchte mich ausruhen.«

Ich sah das Zögern in Rose’ Blick. Wie sie abwog, ob sie das tun sollte, was sie für mich als das Beste erachtete, oder ob sie mir glauben sollte und mir auf diese Weise Gutes tun konnte.

Ich hatte die Wahrheit gesagt, meine Beine fühlten sich an wie Blei, und schon wieder war mir schwindelig.

Rose schien das zu bemerken, denn sie sagte: »Gut, dann bringe ich das Essen weg, und du ruhst dich aus. Wir schauen eben morgen weiter, wie wir dir helfen können. Und … Lucy? Was ist denn?«

Sie war gerade dabei, die benutzten, leeren Schüsseln und Teller aufeinanderzustapeln, als ich mir erschrocken die Hand vor den Mund presste und aufsprang. Panisch drehte ich mich um und rannte ins Bad, wo ich es gerade rechtzeitig zur Toilette schaffte und mich in die Schüssel erbrach.

»Lucy, mein Gott!« Rose’ Stimme war voller Sorge, und ich hörte Wasserrauschen, bevor sie mir einen kühlen Lappen in den Nacken legte und mir die Haare aus dem Gesicht strich. Ich erbrach einen erneuten Schwall und stützte mich erschöpft auf der Klobrille ab. Ich fühlte mich so elend.

Als ich mir sicher war, dass nichts mehr kam, stand ich schwankend auf und tastete mich zum Waschbecken, um mir das Gesicht abzuwaschen.

Rose folgte mir, und ich konnte nur allzu deutlich ihr inneres Durcheinander spüren. Nachdem ich den Wasserhahn abgestellt hatte, gab ich ihr das Tuch zurück. »Danke.«

»Danke? Danke? Ist das alles? Lucy, du hast dich gerade übergeben. Das ist falsch. Augenschöne übergeben sich nicht. Niemals. Sie werden nicht krank! Wir bekommen nicht mal einen Schnupfen. Irgendetwas kann mit dir nicht stimmen, wenn du dich übergeben musst. Und das Einzige, was du sagst, ist danke?«

Ich biss mir auf die Lippen. Offensichtlich hatte ich das Ganze zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Wenn ich Rose jetzt auch noch sagte, dass es schon das dritte Mal an diesem Tag war, würde sie vermutlich durchdrehen.

»Es ist nur halb so schlimm«, murmelte ich deswegen. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich mich noch immer nicht von meinem Ausbruch der Titanenmagie erholt habe. Wahrscheinlich war nur etwas im Essen schlecht, und mein Körper wollte es schnell loswerden. Kein Grund zur Aufregung.«

Rose’ Augen funkelten aufgebracht, und sie musste nicht erst sagen, dass sie das anders sah. Ich drängte mich an ihr vorbei aus dem Bad und wankte zum Sofa, auf das ich mich völlig ausgelaugt fallen ließ. Rose stand unschlüssig in der Badezimmertür, bis sie sich schließlich mit einem Kopfschütteln daran machte, den Tisch fertig abzuräumen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Lucy, pass auf dich auf. Du musst dich auch vor dir selbst schützen.«

Wenn die Zeit vorwärts läuft,

dann muss es doch auch

rückwärts gehen.

Doch bis man einen Weg findet,

ist die eigene Zeit längst abgelaufen.

(Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten Nele)

Kapitel 2

Irgendwie schaffte ich es mit all meiner Konzentration, nicht wieder in dem Loch zu versinken, sondern anwesend zu bleiben, bis Rose zurückkam. Im Zimmer lag immer noch der warme Duft des Essens, und dadurch, dass die Übelkeit wie immer genauso schnell verschwunden war, wie gekommen war, konnte ich diesen auch genießen.

Rose ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken, stützte sich mit den Ellenbogen ab und musterte mich. Ich starrte den Tisch an und dachte wieder an unser Gespräch. Quälend glühte das Messer auf. Verdammt, ich brauchte unbedingt etwas, was mich ablenkte!

»In deiner Abwesenheit ist eigentlich nicht viel passiert. Oder ziemlich viel, je nachdem, was für eine Bedeutung man den Ereignissen beimisst.« Rose schien wieder einmal Gedanken lesen zu können und tat genau das, was mir half, sie quasselte unwichtiges Zeug. »Nachdem ihr weg wart, war eigentlich alles ganz normal. Allerdings habe ich mich ohne dich natürlich gelangweilt, das zählt aber nicht wirklich. Jedenfalls, kurz darauf hat eine Zweiergruppe, die mit dem Einkaufen in den Äußeren Schleifen dran war …«

»Dem was?« Ich fühlte mich zurück in meine Anfangszeit hier versetzt. Schon damals war jeder zweite Satz unverständlich gewesen, und Rose hatte meine tausendfach gestellten Fragen immer und immer wieder beantworten müssen.

Rose sah überrascht aus. »Das weißt du noch nicht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Komisch«, murmelte Rose, »hatte ich das nicht irgendwann schon einmal erwähnt? Na egal. Also, jedes Augenschön hat einen Partner, mit dem es alle paar Monate an der Reihe ist, in die Äußeren Schleifen zu fahren, um Einkäufe zu erledigen. Du warst noch nicht lange genug da, um zugeteilt zu werden. Nun ja, und bei diesen Fahrten in die Äußeren Schleifen können immer wieder Missgeschicke passieren … wenn man es so nennen kann.« Rose grinste. »Manchmal sind sie richtig witzig. Wenn beispielsweise die Menschen einen beim Magizieren beobachten und überhaupt nichts mehr verstehen. Allerdings kann auch vieles nach hinten losgehen … wie eben damals, kurz nachdem ihr abgereist seid. Die zwei Augenschönen, die in den Äußeren Schleifen etwas erledigen mussten, Bronwyn und Chris, hatten aus Versehen die falsche Zeit eingestellt und waren auf einem mittelalterlichen Markt gelandet. Da sie für ihren Zeitsprung vier Stunden eingestellt und nichts anderes zu tun hatten, dachten sie, dass sie einfach auf dem Markt dort einkaufen gehen. Offensichtlich hatte Chris ihnen mit seiner Variantmagie unauffällig Kleider beschaffen können, und so zogen sie los. Natürlich konnten sie nicht einmal ansatzweise einkaufen, was sie eigentlich besorgen sollten. Es war damals noch nicht erfunden. Ein paar Kleinigkeiten fanden sie aber doch. Und dann …« Rose kicherte.

Ich lehnte mich vor, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte meinen Kopf darauf ab, während ich sie weiter ansah. Mir fiel auf, dass viele kleine goldene Sternchen auf blauem Lack ihre Nägel schmückten. Hübsch.

»Dann haben sie wohl einen Fehler begangen. Chris hat einen der Händler als Ausbeuter bezeichnet, dem das natürlich gar nicht gefiel, und ruckzuck war ein wütender Streit im Gange. Nach und nach kamen immer mehr Händler und Kunden hinzu, und es bildeten sich zwei Fronten. Chris versuchte, gemeinsam mit Bronwyn den Streit zu schlichten. Doch vergeblich, die Ersten begannen bereits handgreiflich zu werden. Chris und Bronwyn drückten sich am Rand herum und sahen panisch dabei zu, wie eine Prügelei entbrannte.«

Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sich eine große Menschenmasse auf einem Marktplatz gegenseitig die Köpfe einschlug. In meinem alten Leben hatte ich mich oft gefragt, wenn ich einmal auf dem Markt gewesen war, wie der Verkauf trotz der wütend gegeneinander anbrüllenden Händler friedlich verlaufen konnte.

 

»Dann kam auch noch die Garde hinzu und drängte die Streitenden auseinander«, fuhr Rose fort. »Plötzlich tauchte eine Frau aus der tobenden Menge auf, zeigte auf Chris und Bronwyn und rief, dass sie gestohlene Kleidung tragen würden. Offensichtlich hatte Chris seinen Variantmagie-Diebstahl nicht schlau genug begangen. Die Garde ließ von der Meute ab und nahm Chris und Bronwyn in Gewahrsam. Sie wurden ins Schlossverlies gesperrt, da die Arrestzellen alle mit Weinfässern gefüllt waren aufgrund einer bevorstehenden Feier. Die beiden hatten langsam die Schnauze voll und brachen aus ihrem Gefängnis mithilfe von Magizismen aus. Leider wurden sie auf ihrer Flucht durch das Schloss erneut geschnappt und schafften es nur, sich zu befreien, indem sie einen ganzen Teil des Flures wegsprengten und in der aufkommenden Aufregung verschwinden konnten. Bis in die Stadt zurück schafften sie es. Allerdings war die Garde ihnen dicht auf den Fersen. Also verstecken sie sich in einer abgelegenen Gasse, die so voll mit Müll war, dass die Garde nicht einmal zu Pferde einen Schritt hineintun wollte. Völlig verschwitzt, dreck- und rußverschmiert und bis zum Himmel stinkend, kamen sie hier wieder an.«

Rose begann zu giggeln, und ihre Augen funkelten, als sie fortfuhr. »Alle haben sie selbstverständlich bedauert, bevor sie die Geschichte erzählten und dann ein schimpfendes Donnerwetter der Neles über die beiden erging. Dass sie besser hätten aufpassen müssen und die Zeit besser hätten einstellen sollen, um solche Fehler zu vermeiden.«

Ich nickte langsam. »Und … was war – tut mir leid, wenn die Frage komisch klingt – an der Geschichte jetzt der witzige Teil?«

Rose biss sich auf die Lippen, um nicht loszuprusten, und stimmte mit ihren Sternenhimmel-Fingernägeln einen ratternden Rhythmus auf dem hölzernen Tisch an.

»Die Pointe kommt erst noch. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Bronwyn ein hübsches und wirkliches nettes Mädchen ist. Doch es wurde gemunkelt, dass sie sich mit Tyler traf, und dass sie bald seine neue Freundin sein würde. Anscheinend stimmte das alles auch, nur dass Bron-wyn Tyler die ganze Zeit ausgetrickst hat. Und somit zurück zu meiner vorigen Erzählung, die eher nur die Einführung in meine eigentliche Geschichte war. Bronwyn hat Tyler nämlich an dem Abend nach ihrem Abenteuer in der Äußeren Schleife im Speisesaal ziemlich dämlich aussehen lassen, und das kam so: Natürlich hatte sich die Geschichte ihrer Reise rasch herumgesprochen, und jedes Augenschön wusste Bescheid. Das war die Gelegenheit, auf die Bronwyn gewartet hatte. Ihre beste Freundin war nämlich auch schon auf Tyler hereingefallen, und er hatte ihr mit seiner gleichgültigen Art ziemlich wehgetan. Auch wenn sie eigentlich selbst etwas daran schuld war, wenn du mich fragst, weil sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hat. Bronwyn jedenfalls wollte sich für sie an Tyler rächen und hatte deshalb ein Gedicht für ihn geschrieben, das sie beim Abendessen, als alle anwesend waren, aufsagte.«

Rose hielt mit dem Sternenhimmelgeklackere inne und sprang plötzlich vom Stuhl auf. »Ich glaube, ich kann es noch auswendig. Es hat sich wohl für immer in mein Gehirn eingebrannt.« Sie nahm eine Rednerpose ein und setzte eine salbungsvolle Miene auf, während sie mit quäkender Stimme begann, die Reime aufzusagen:

»Tyler, lass mich aufsagen ein Gedicht für dich,

auch wenn es sein wird – ich versprech’s – ungeheuerlich.

Es handelt von dir, zieht es schon dadurch runter,

ich hoffe trotzdem, es gefällt – und macht alle munter.

Stinkender Müll, der meine Festnahme hat verhindert,

durch ihn fühlte ich mich heute sehr an dich erinnert.

Ehrlich, Tyler, womöglich ist es dir entschwunden,

aber die Dusche wurde längst erfunden.

Die vorbeireitende Garde strahlte Dummheit aus,

wieder kam ein Gedanke an dich heraus.

Denn häufig frage ich mich, mit dem Ding hinter meiner Stirn:

Hast du, Tyler, überhaupt ein Gehirn?

Zum Schluss sind wir durch das Zeitportal entschwunden,

tiefe Erleichterung habe ich empfunden.

Und erleichtert wär ich auch, wenn du erfülltest meine Bitte,

verschwinde endlich aus der Mädchengruppen Mitte!«

Keine Sekunde länger schaffte Rose es, ein unbewegtes Gesicht zu machen, und brach in schallendes Gelächter aus. »Du … du hättest sein Gesicht sehen müssen«, quiekte sie. »Hätte er den Ausdruck auch bei einem Vorsprechen für Dick und Doof aufgesetzt, hätte er sofort die Rolle von Doof bekommen. Ich habe davor noch nie so eine Miene gesehen – perplex, überrascht und wie geohrfeigt. Und danach … wirklich, du hättest es sehen müssen, ist er total rot geworden. Rot wie eine Tomate! Er ist aufgesprungen, hat Bronwyn kurz beleidigt und ist aus dem Speisesaal verschwunden. Was für ein Schwächling!« Rose setzte sich zurück auf ihren Stuhl, immer noch grinsend, und sah mich zufrieden an.

Auch ich hatte gelacht. Es war ungewohnt und fühlte sich völlig falsch an. Als ob meine Natur beschlossen hätte, das Lachen eigentlich aus meinem Repertoire für immer zu streichen.

»Bronwyn wird von den Tyler-Anhängerinnen jetzt zwar abgrundtief gehasst, das macht ihr aber nichts aus. Ich meine, wer mag die Fangemeinde schon außer Tyler und ihr selbst? Und von uns Tyler-Gegnerinnen wird sie dafür umso mehr gefeiert.« Verträumt starrte sie auf die Tischplatte, bevor sie erschrocken zusammenzuckte und ihre Omunalisuhr hervorzog. Nach einem kurzen Blick darauf sprang sie auf und schob den Stuhl an den Tisch.

Fragend blickte ich sie an.

»Ich muss leider los. Es ist ein einziges Elend, diese Verpflichtungen.« Wehmütig ließ sie ihren Blick durch mein Zimmer streifen und drückte mich dann noch einmal an sich. »Denk daran, du bist stark«, flüsterte sie mir vor dem Gehen noch einmal ins Ohr.

Offensichtlich sah sie das anders als ich.

Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss, und ich blieb allein zurück. Das Licht brannte noch hell, und das Sofa war lange nicht so bequem, wie mein Bett es sein würde, doch ich fühlte mich so kraftlos und konnte mich nicht aufraffen. Also zog ich nur matt die Beine an den Bauch und starrte, auf die Seite gelegt, den Tisch an.

In Rose’ Abwesenheit kam ich mit der Stille nicht gut klar. Schon bald verlor ich den schwach gefochtenen Kampf gegen mich selbst und sah Raum und Zeit vor mir verschwinden.

Ich vergrub die Hände tiefer in den Taschen meines dunklen, gefütterten Anoraks, der mir bis zu den Schenkeln reichte, und trat mit meinen hohen Stiefeln fest auf den Kies auf. Obwohl ich, laut Rose, vierzehn Stunden auf dem Sofa gelegen hatte, war die Erschöpfung noch nicht ganz gewichen, und ich wäre am liebsten zurück in die Wohnung gegangen. Doch das hatte meine Freundin nicht zugelassen. Sie hatte den gestrigen Abend auch damit verbracht, mir Herbst- und Winterkleidung zu besorgen, etwa den Anorak und die hellbraunen Lederstiefeletten, die ich gerade trug.

Ich schaute auf den Boden, während der Wind kühl durch meine schwarz glänzenden Locken wehte, die offen über meine Schultern und die Kapuze fielen. Rose hatte mich daran gehindert, sie als Pferdeschwanz unter meiner Kapuze zu verstecken, und gemeint, je früher sich alle daran gewöhnten, umso besser wäre es für mich. Ich hatte nicht widersprochen und bereute es jetzt auf dem Weg zur Westwiese.

Schon im Frühstückssaal hatten mich alle angestarrt. Rose hatte gesagt, dass sie es auch getan hätten, wenn ich wie früher ausgesehen hätte. Schließlich war ich durch die Reise zu einer Berühmtheit geworden. Doch beruhigt hatte es mich keineswegs. Ich hatte nur einen halben Apfel gegessen, denn obwohl ich einen unbändigen Hunger hätte haben müssen, verspürte ich keinen Appetit und hätte am liebsten gar nichts gegessen.