Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen

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Nazis oder solche Menschen, die als Nazis denunziert wurden, kamen in ungarische Lager und mussten dort schwerste körperliche Arbeiten leisten. Das vordergründige Auswahlkriterium dafür war die Mitgliedschaft im „Volksbund der Deutschen in Ungarn“, kurz „Volksbund“, der als faschistische Organisation eingestuft wurde.

Mein Großvater war nie Mitglied im Volksbund. Dazu war er viel zu vorsichtig. Er hat unsere Großmutter ausgeschimpft, weil sie mit ihren halbwüchsigen Töchtern zu den Liederabenden der „Deutschen Jugend“ (Jugendverband des Volksbundes) gegangen ist, weil „dort doch so schöne Lieder gesungen wurden“. Das genügte aber, um meinen Großvater als Nazi zu denunzieren. Dass er keiner war, davon konnte ich mich während seines langen Lebens – er wurde 90 Jahre alt – überzeugen.

Er wurde also zur Gemeinde gerufen und musste zu dem Nazivorwurf Stellung nehmen. In der Kommission, die das Verhör durchführte, saß auch jener junge Slowake, von dessen Großvater unser Opa das besagte Grundstück gekauft hatte. Der junge Mann, der sich als Antifaschist gebärdete und inzwischen vielleicht schon der KP Ungarns beigetreten war, hielt während des Verhörs einen Bleistift in der Hand, den er am Ende deutlich hörbar auf den Tisch fallen ließ. Da wusste unser Großvater, dass er ins Lager musste.

Schlechte und gute Russen

Zuvor schon wäre er beinahe von betrunkenen russischen Soldaten umgebracht worden. Als die Sowjetarmee in Perbál einmarschierte, begannen sie, zu plündern und die Frauen zu vergewaltigen. Für drei Tage war ihnen das erlaubt. Die etwa 16 und 17 Jahre alten Töchter meiner Großeltern (Maria und Resi) wurden daher in einem Strohschober hinten auf dem Hof versteckt. Bald klopften zwei Soldaten mit Gewehrkolben an die Haustür. Mein Großvater öffnete die Tür einen Spalt, behielt die Hand aber an der Türklinke. Die Frauen im Haus sollten zum Stab kommen, Kartoffeln schälen. Mein Opa sagte: „Hier sind keine Frauen.“ Nun wollte sich der Soldat mit Gewalt Zutritt verschaffen und schlug mit dem Gewehrkolben auf seine Hand ein. Er ließ aber nicht los.

Inzwischen hatte der zweite Soldat unseren großen schwarzen Hirtenhund Zigán (Zigeuner) erschossen. Als mein Großvater sie weiterhin nicht einließ, drohte der Soldat, ihn zu erschießen. Sein Kumpan zog ihn aber fort. Vielleicht erschien ihm ein Mord doch als ein zu hoher Preis. Vielleicht war es auch nur deshalb, weil sie sich in anderen Häusern leichtere Beute versprachen. Wenige Zeit später kam ein russischer Offizier in unser Haus, der schon vorher bei uns gewesen war. Er versprach Abhilfe, und fortan blieb die Familie von Übergriffen verschont.

Als die Russen kamen, hatte dieser Offizier mit zwei Frauen in der vorderen Stube geschlafen, berichtete unsere Tante Maria. Sie und ihre Schwester hätten danach eine Schürze voll Läuse gesammelt. An diesen Offizier habe ich auch eine Erinnerung. Bei seinem erneuten Besuch in unserem Haus war, krochen mein Bruder und ich unter den Tisch in der vorderen Stube. Der Besucher knallte einen kleinen Sack vor dem Tisch auf den Boden. Wir Kinder begannen sofort, nachzuschauen, was da drin war. Es war ein uns bis dahin unbekannter, brauner Zucker. Faustgroße Stücke davon waren durch eine Kordel miteinander verbunden. In Deutschland erfuhr ich später, dass man ihn Kandiszucker nannte. Dieser junge Offizier hat trotz der Läuse die Ehre der Roten Armee in unserer Familie für immer gerettet. Er wurde stets als das Beispiel eines „guten Russen“ angeführt, der von seinen Eltern und Geschwistern in Russland erzählte und uns auch Fotos seiner Familie gezeigt hat.

Oma rettet ihren Hans ein zweites Mal

Bis zur Vertreibung im April 1946 lag für meinen Großvater noch eine höchst gefährliche Zeit vor ihm. Er wurde, wie oben erwähnt, in das Internierungslager Vác gebracht und musste in einem Steinbruch und beim Holzfällen schwerste Arbeiten verrichten. Zu essen gab es für die Internierten so gut wie nichts. Unsere Großmutter machte sich also auf den langen Weg nach Vác und versuchte, ihrem Mann Lebensmittel zu bringen. Sie wurde zunächst nicht eingelassen. Ihr Paket konnte sie abgeben. Erneut versuchte sie es – mit dem gleichen Ergebnis. Sein Eintreten für die „Sache des Volkes“ während der Räterepublik nützte meinem Großvater in Vác nichts. Vermutlich hat er das nicht einmal erwähnt, weil er wusste, dass diese Information sein Los als Internierter nicht erleichtert hätte. Was nützen uns unsere vergangenen Taten denn schon, wenn wir einmal richtig in der Klemme sitzen?

Mein Onkel Hans, ein Opportunist bis an sein Lebensende, der älteste Sohn meines Großvaters, und sein jüngerer Bruder Johann, waren inzwischen der Kommunistischen Partei Ungarns (MKP) beigetreten, in der Annahme, durch diesen Schritt etwas für ihren Vater tun zu können. Und das war auch so. Hans begleitete seine Mutter bei ihren kommenden Fahrten nach Vác und wies sich als ein „Genosse“ aus. Auf diese Weise bekamen die beiden ihren Mann und Vater endlich zu Gesicht. Aber der da vor ihnen stand, war nur noch ein fernes Abbild dessen, den sie kannten. Halb totgeschlagen und abgemagert bis auf die Knochen von schwerer Waldarbeit stand dieser aufrechte Mann vor ihnen, ohne ein Wort der Klage, ohne Hass und Vorurteil. Er kannte das Leben und die Welt. Mit seinem Ausweis konnte Hans das Lagertor für unsre Großmutter öffnen. Ihr Mann hatte jetzt wenigstens etwas zu essen. Von den ersten Paketen hatte ihn keines erreicht. Die Wachmannschaften hungerten auch. Durch ihren unermüdlichen Einsatz rettete unsere Oma ihrem Hans zum zweiten Mal das Leben. Viele andere Insassen kamen durch Überanstrengung, Schläge, Krankheiten und Unfälle um oder verhungerten einfach.

Völlig abgemagert und krank wurde unser Großvater im Winter 1945/46 aus dem Lager entlassen. Ob er sich an seine Prophezeiung erinnerte, dass nach dem verlorenen Krieg die Ungarndeutschen aus ihrer Heimat vertrieben werden würden? Ich weiß es nicht. Kaum war unser Opa wieder zu Hause, wurden die Gerüchte von ihrer bevorstehenden Vertreibung lauter. Die Aussicht, dass er sich in seinem Haus bei guter Ernährung und Pflege erholen könnte, verschlechterte sich täglich. Am 2. April 1946 war es für ihn und seine Familie dann so weit. Wir wurden aus unserer Heimat vertrieben.

Durch die schwere Arbeit im Lager hatte sich unser Großvater einen Leistenbruch zugezogen, der damals nicht operiert werden konnte. In Deutschland waren die Verhältnisse zunächst auch nicht so, dass eine Operation hätte erfolgen können. Als sich die Situation dann etwas verbesserte, riet der Arzt von einer Operation ab, weil der Bruch zu groß war und ein Eingriff zu gefährlich gewesen wäre. So musste der geplagte Mann die letzten 32 Jahre seines Lebens mit einem offenen Leistenbruch leben, durch den bei jeder Anstrengung ein Stück Darm aus der Bauchhöhle herausgedrückt wurde. Als ich es einmal sah, hing diese „Darmwurst“ etwa 15 cm heraus. Der Opa stopfte sie dann wieder in den Bauch hinein. Auch als er ein Bruchband bekam, änderte sich die Situation für ihn nicht grundlegend. Die Bauchdecke blieb offen. Vermutlich war die Öffnung an den Rändern vernarbt, anders hätte eine ständige Infektionsgefahr bestanden. Jede Anstrengung blieb ihm aber untersagt. So kommt es, dass ich meinen Großvater in Deutschland eigentlich nie bei einer schweren körperlichen Arbeit sah, während die anderen kräftig anpacken mussten.


Die Kopp-Großeltern 1966 auf dem Weg nach Battenberg, zwanzig Jahre nach der Vertreibung aus Ungarn.

Im Gegensatz zu unserer Oma ging er nicht nach Battenberg zur Kirche. Wann immer sie konnte, war sie sonntags dort. Das ärgerte ihn. Schließlich kam er auf den dummen Gedanken, sie könne ein Verhältnis mit dem dortigen Kirchendiener haben. Alter schützt bekanntlich nicht vor Torheit.

Der Tod kam mit neunzig

Zu seinem 90. Geburtstag kamen wir alle zusammen: Kinder, Enkelkinder, in der Nähe wohnende Verwandte und Bekannte. Opa schwach und blass im Bett. Sein markanter Bart war gestutzt. Zur Gratulation kamen auch Einheimische. Eine Blaskapelle spielte vor seinem offenen Fenster. „Jetz spüt a nau die Musi aof“, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln („Jetzt spielt auch noch die Musik auf“). Irgendjemand im Zimmer drängte ihn, sich doch am Fenster zu zeigen. Ob das gut sei, fragte ich, es sei doch schon November. Aber da halfen willige Arme und Hände dem alten Mann schon aus dem Bett. Nur wenige Minuten stand er am Fenster. Es wurde ihm zu kalt. Schnell brachte man ihn wieder zurück ins Bett. Ich machte noch ein Foto von ihm und ging hinunter zur Feier. Dort ging es schon hoch her. Die Musikanten draußen erhielten einen Schnaps. Drinnen trank man reichlich vom selbst gemachten Wein seiner Söhne. „Auf die Gesundheit vom Opa, möge er noch lange leben!“

Die Fahrt meines Lebens

Eine Woche später kam ein Anruf. Der Opa war tot, gestorben an eine Lungenentzündung. Es war schon Nachmittag. Ich rannte zu meinem Auto, fuhr in die Innenstadt und kaufte mir einen schwarzen Anzug. Die Ärmel waren zu lang. Sie wollten sie umnähen „Bis wann?“ „Frühestens morgen bis zehn.“ Das war in Ordnung. Die Beerdigung war um zwei Uhr nachmittags. Um zehn Uhr war der Anzug nicht fertig. Ich wartete und wartete. Die Zeit flog nur so dahin. Gegen halb elf hatte ich ihn. Rein ins Auto, auf die Autobahn und Vollgas. Auf der Raststätte in Hildesheim hielt ich kurz an. Der Frühstückskaffee musste raus. Draußen fragte eine Tramperin: „Kannst du mich bis Göttingen mitnehmen?“ „Steig ein, ich hab’s eilig.“ Mit 175 Sachen jagte ich gen Süden (VW Passat). Auf dem Rastplatz in Göttingen stieg sie aus: „So schnell bin ich noch nie gefahren.“ Ich raste weiter. Im Haus meiner Eltern traf ich meine Schwester an. Sie war noch nicht fertig angezogen. Es dauerte. Als wir endlich im Trauerhaus in Laisa ankamen, wurde der geschlossene Sarg gerade die Treppe heruntergetragen. „So ein Mist, ich wollte doch noch ein letztes Foto vom Opa machen.“ „Das macht nichts“, sagte meine Tante Resi, „er hat genauso ausgeschaut wie letzte Woche.“ Dann senkte man ihn ins Grab zu seiner Maria. „Machs gut, alter Gauner! Ich trauere um dich. Aber so einen Abschied bringst nur du fertig.“

 

Die Oma, geb. Maria Payer

Aus ihrem Leben

Die Oma, „die Ahl“, wie ich sie kennengelernt habe, war eine Stille und Liebe. Ich habe keine Szene in Erinnerung, in der sie böse oder laut war. Mir schien sie immer der genaue Gegensatz zu ihrer Tochter, unserer Mutter, zu sein. Es fällt mir schwer, meine erste Erinnerung an sie ausfindig zu machen. Als Person war sie für mich nicht klar umrissen. Sie war für mich eher so etwas wie ein warmes Gefühl. Sie vermittelte eine Atmosphäre des „zu Hause Seins“. Ihr Gesicht war rund und faltig, freundliche Augen blickten daraus hervor. Klein war sie, rund, ständig verborgen unter ihrer schwarzen Tracht. Dazu gehörten auf dem Kopf ein Schopf, ein Umhängtuch, und – je nach Witterung – drei bis fünf Unterröcke und Röcke, die sie übereinander trug. Unterhosen gehörten offenbar nicht zu ihrer Bekleidung, zumindest nicht im Sommer. Als wir einmal die Straße nach Laisa gemeinsam entlanggingen, trat sie an den Rand, hob den Hintern unter dem Rock an, spreizte die Beine – und dann hörten wir es plätschern.

Unsere Mutter erzählte, dass sie nicht gut kochen konnte. Ich habe keine Erinnerungen an Omas Küche. Unsere Mutter dagegen kochte gut. Über ihre Mutter erzählte ihre Tochter, dass die Oma sie zur Arbeit getrieben habe. (Ich habe das oben erwähnt.) Schon als Zwölfjährige habe sie den Haushalt führen und die kleineren Kinder beaufsichtigen müssen, weil die Oma mit dem Opa nach Budapest auf den Markt fuhr und Bestellungen bei den reichen Leuten auf dem Rosenhügel einholte und austrug. Meistens handelte es sich um frische Eier, Milch, Sahne – „Ouverst“ (Schlagobers).

Wenn etwas nicht so gegangen war, wie ihre Mutter es erwartet hatte, habe sie Schläge bekommen. Dabei sei die Oma nicht wählerisch gewesen. Wenn sie nichts anderes zur Hand gehabt hätte, habe sie auch mit dem Kochtopf zugeschlagen. Dabei hat sie sicher auch Schläge abbekommen, die eigentlich ihrem Bruder, dem ältesten Sohn Hans gegolten haben, den die Oma aber nicht mehr verhauen konnte, weil er schon siebzehn war. Er scheute die Arbeit und trank auch gern Wein, in diesem Alter schon. Ihren Mann, den Opa, liebte und verehrte unsere Oma. Wenn er etwas sagte, war das ein Gesetz. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Oma ihm jemals widersprochen hätte. Da er gelegentlich jähzornig wurde, versuchte sie, ihn milder zu stimmen.

Auch auf unsere Mutter suchte sie zu besänftigen, wenn sie aus Überforderung schrie und uns Kinder schlug. „Rousl, sei san doch nou Kinder!“ („Rosl, sie sind doch noch Kinder!“) Auch unsere Tante Maria mischte sich ein, wenn unsere Mutter wieder einmal schimpft und lärmte, weil mein Bruder und ich es allzu toll getrieben hatten: „Halgas!“, sagte sie auf Ungarisch, etwa: „Sei doch ruhig!“

Schwarzhandel

Unsere Großmutter war in das System der Ernährung der Familie mittels Tauschhandel nach dem Krieg stark eingebunden. Vor allem bei der Beschaffung von Rohtabak aus Baden, wo ein Teil der Peráler Bevölkerung angesiedelt worden war, spielte sie eine wichtige Rolle. Bei einer dieser Tauschfahrten, während der alle unter ständiger Angst vor Polizei- und Militärrazzien lebten, ereignete sich ein bemerkenswerter Vorfall. In der überfüllten Bahnhofshalle des Frankfurter Hauptbahnhofs standen meine Mutter und unsere Oma mit ihrem Tabak im Gedränge, als plötzlich Uniformierte hereinstürzten und eine Razzia begann. Wer noch durch einen der Seiteneingänge entfliehen konnte, hatte Glück. Meine Großmutter schaffte es nicht. Sie nahm das Bündel, das sie nach alter Gewohnheit auf dem Kopf trug, herunter, warf es auf den Boden und setzte sich darauf, wobei sie ihre drei, vier weiten Röcke, die sie stets übereinander trug, wie eine schützende Glocke über dem Tabakbündel ausbreitete. Sie saß da und rührte sich nicht. Keiner der kontrollierenden Uniformierten kam offenbar auf die Idee, dem alten Mütterchen in ihrer merkwürdigen schwarzen Tracht unter die Röcke zu gucken. Die Oma blieb unbehelligt, und der Tabak war gerettet. Diese Geschichte wurde uns Kindern oft erzählt, wenn man in der Familie auf die „alten Zeiten“ zu sprechen kam.

Letzter Besuch

Ich erinnere mich genau an den letzten Besuch bei unserer Oma kurz vor ihrem Tod. Lorenz und ich waren schon Studenten und besuchten die Großeltern nicht mehr so oft. Als wir dieses Mal ankamen, lag die Oma im Bett und sah nicht gut aus. Tante Resi hatte uns zuvor erzählt, sie sei schwer krank und werde bald sterben. Vermutlich litt sie an den Folgen einer Gelbsucht. Fünf Jahre vor ihrem Tod war ihr das Blut ausgetauscht worden. Sie sah schon damals aus, als würde sie bald sterben, hat aber noch fünf Jahre gelebt. Vor ihrem Tod war sie noch einmal ins Krankenhaus gekommen. Es bestand aber kaum noch Hoffnung. Da hat sie der Opa auf eigenes Risiko mit nach Hause genommen. Sie sollte zu Hause sterben.

Wir hielten uns eine Weile am Bett der „Ahl“ auf und redeten oberflächlich daher. Vielleicht wollten wir damit unsere Unsicherheit und Besorgnis überspielen. Als wir uns dann verabschieden wollten, hielt sie mich beim Handgelenk fest und sagte mit flehentlichem Blick leise: „I wü neit sterm.“ („Ich will nicht sterben.“)


„Ach Oma, Ihr sterbt schon noch nicht. Ihr werdet wieder gesund!“ („Ach Ahl, Eis sterbts sche nau neit. Eis werds sche widde gsund!“) Dann sagten wir ihr noch einmal auf Wiedersehen und gingen. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihr gesprochen habe. Sie starb einige Tage nach unserem letzten Besuch. An ihre Beerdigung erinnere ich mich kaum. Sie war wie alle „Läichten“ ziemlich groß. Einen Totenschein habe ich weder von ihr noch von unserem Großvater je gesehen Nach Auskunft unserer Tante Resi hat sie noch am Tag vor ihrem Tod eine kleine Hausarbeit gemacht. Später tat es mir leid, dass ich mir damals nicht mehr Zeit für sie genommen habe. Beerdigungen waren für die Perbáler in Deutschland beliebte Gelegenheiten, zusammenzukommen und Erinnerungen auszutauschen. Wer irgend konnte, ging da hin, auch wenn er/sie nicht zur Verwandtschaft gehörte.


Gemeinsames Grab in Laisa

Aber wie war die Oma als Mädchen, als junge Frau? Ich habe leider versäumt, sie oder ihre Töchter und Söhne ausführlicher zu befragen. Jetzt lebt von ihnen niemand mehr. Aus den wenigen Informationen, die ich über sie habe, und aus der Kenntnis der Lebensverhältnisse in Perbál am Beginn des 20. Jahrhunderts kann ich dazu vielleicht Folgendes sagen.

Oma als Kind, Mädchen und junge Frau

Die kleine Maria besuchte die Dorfschule und die „Sonntagsschule“. Ungarisch hat sie dort nicht gelernt, denn die Unterrichtssprache war damals noch Deutsch. In der Familie und im Dorf wurde unsere donauschwäbische Mundart gesprochen. Der Lehrer wird sich bemüht haben, den Bauernkindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Gesungen hat er sicher mit ihnen, und vielleicht hat er ihnen auch Geschichten aus Geschichte Ungarns und der Ungarndeutschen erzählt. Seine Erziehungsziele waren Gottesfurcht, Ordnung, Sauberkeit, Fleiß, Anstand und Sitte, Achtung der Regeln des dörflichen Zusammenlebens und Gehorsam gegenüber dem Lehrer, den Eltern und Großeltern, der Obrigkeit und der Kirche. Die Einhaltung der Zehn Gebote wurde den Kindern eingebläut, besonders in der Sonntagsschule. Der Verstoß gegen sie war eine Sünde oder Todsünde, die mit Fegefeuer oder ewiger Verdammnis bestraft wurde. Jeder derartige Verstoß musste gebeichtet werden. Die Beichte war ein anfangs auch von mir gefürchtetes Instrument, zur Offenlegung geheimer und geheimster Regungen und Taten. „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten“, hieß die generelle Formel im Beichtstuhl, und es blieb „dem Beichtvater“ vorbehalten, da im Einzelnen nachzufragen. Eine peinliche Situation, der man sich nur entziehen konnte, wenn man im Beichtstuhl nicht die ganze Wahrheit sagt. Es dauerte eine Zeit, bis man deswegen kein schlechtes Gewissen mehr hatte

Mädchen sollten zu sittsamen Jungfrauen, ehrbaren Bräuten, guten Ehefrauen und Müttern sowie zu tüchtigen Hausfrauen erzogen werden. Sie sollten ihren Eltern und ihrem künftigen Mann gehorchen, sie nach Kräften unterstützten und ihnen vor allem keine Schande machen. Denn die wurde sicher offenbar und öffentlich. Wenn eine junge Frau vor der Ehe geschlechtlich mit einem Mann verkehrte, und das im Dorf bekannt wurde, galt sie als Hure. „Sie is a Huur“, hieß es verächtlich. Wenn sie vor der Ehe schwanger wurde, konnte sie diesen Makel nur durch die Hochzeit wieder beseitigen. „In Weiß“ durfte sie aber in einem solchen Fall nicht gehen. Jede/r im Dorf sollte sehen, was sich da schon vor der Trauung ereignet hatte. Unsere Großmutter heiratete in Weiß. Wie erwähnt, hat sie insgesamt zwölf Kinder zur Welt gebracht. Sechs starben schon als Babys oder Kleinkinder.

So fing es mit mir an

Die Fraas, mein Sarg war schon bestellt

Ob ich im Haus der Großeltern Kopp in Perbál geboren wurde oder in der Mietwohnung, die meine Mutter mit meinem Bruder Lorenz 1942 bewohnte, weiß ich nicht. Gehört habe ich, dass die beiden bei einem Bäcker im ersten Stock wohnten, und dass meine Mutter mich nicht stillen konnte, weil sie eine Brustentzündung hatte. Mein Bruder wurde elf Monate vor mir geboren. Ich wurde von einer Amme gestillt, der „Gärrä Franzi“. Sie hatte ein Kind von dem jüngeren Bruder meines Vaters, Franz, der in Krieg umgekommen ist. Das Kind war mein Cousin Wentzel Ferenc, der leider schon gestorben ist.

Wie fast alle Kleinkinder in dieser Zeit in Perbál hatte ich ein Fieber, die „Fraas“, das mit Magenkrämpfen, Durchfall und völliger Entkräftung verlief. Man hatte beim Tischler bereits einen kleinen Sarg für mich bestellt. Dann wurde aber doch ein letzter Versuch unternommen, mein Leben zu retten. Die Krankheit wurde besprochen. Nach der Schilderung meines Vaters verlief das wie folgt: Einige alte Weiber waren im Stall zusammengekommen. Sie legten einen Lappen auf den Boden und pinkelten der Reihe nach darauf. Dabei murmelten sie finstere Worte und dumpfe Beschwörungen, vermutlich um den Geist der Krankheit damit zu beeindrucken. Sie bildeten einen Kreis um den Lappen, nahmen sich an den Händen und brummelten gemeinsam eine magische Litanei. Dann nahm eine den Lappen vom Boden auf und rieb meinen kleinen Körper damit ab, wozu wiederum Beschwörungen gemurmelt wurden. Ich habe fürchterlich geschrien und gestunken, sagte mir mein Vater. Als er es nicht mehr aushalten konnte, habe er mich, nackt, wie ich war, hinausgetragen in die kalte Winterluft. Dadurch sei ich gesund geworden. Die Weiber werden den Erfolg wohl auf ihre Bemühungen zurückgeführt haben. Ursache und Wirkung bleiben in diesem Fall wohl ungeklärt, wie so oft in unserem Leben.

Zur „Fraas“ hat mein Bruder, der ebenfalls erkrankt war, von unserer Mutter Folgendes gehört: Weil sie eine Brustentzündung hatte, konnte sie ihn nicht stillen. Sie habe ihm daher trotz der Warnungen unserer Wiest-Oma unverdünnte Kuhmilch zu trinken gegeben. Die Oma hatte ihr vorgeschlagen, die Kuhmilch mit schwarzem Tee zu verdünnen. Auf die unverdünnte Kuhmilch führte unsere Mutter die Entstehung der „Fraas“ zurück. Ich hatte aber eine Amme und bekam keine unverdünnte Kuhmilch, sondern gute Muttermilch. Die „Fraas“ bekam ich trotzdem. Sie hat demnach wohl eine andere Ursache gehabt. Von einer Frau in Österreich habe ich erfahren, dass die Kinderkrankheit dort unter dem Namen Fraisen bekannt gewesen ist und mit starken Krämpfen und Fieber einherging. Nach dem österreichischen Wörterbuch soll sie „besonders bei kleinen Kindern durch Erschrecken“ hervorgerufen werden. Ich bezweifele, dass damit die Ursache der Krankheit ausreichend geklärt ist.17

Ich habe also die Mühen des Anfangs überlebt. Die Milch erhielt ich weiterhin von der Gärrä Franzi und zur Beruhigung einen Nuckel. Das war ein kleiner Leinenlappen, in den ein vorgekauter Brotbrei eingebunden war. Dieser Nuckel war wohl so groß, dass ein Kleinkind ihn nicht verschlucken konnte. Auf den Dörfern war es üblich, dass der Nuckel in Wein eingetaucht wurde, wenn Kinder sich gar nicht beruhigen oder nicht schlafen wollten. Besonders während der Feldarbeit im Sommer, war das eine verbreitete Methode, damit man nicht ständig nach den Babys sehen musste. Ob es bei mir auch so war, weiß ich nicht. Später habe ich erfahren, dass es in Westungarn eine Gegend gibt, in der besonders viele verblödete Kinder waren. Eine Kommission wurde eingesetzt und stellte fest, dass die Trauben, die dort angebaut wurden, „Othello“, „Isabella“ und andere amerikanische Wildreben, bei der Gärung Methylalkohol produzieren, der die Nerven und das Gehirn angreift. Der Anbau dieser Trauben wurde daraufhin verboten. In Österreich werden heute noch solche Trauben wieder geerntet, aus denen in wenigen ausgewählten Dörfern der „Uhutler“ hergestellt wird. Dem Uhutler dürfen nur zehn Prozent Wein aus diesen Trauben beigemengt werden. In Ungarn findet man in den Kellern kleinerer Winzer wieder häufig Wein nur aus amerikanischen Wildreben mit seinem unverkennbaren Geschmack.

 

Wickelkind

Wie alle Babys im Dorf verbrachte ich die ersten Monate meines Lebens sehr beengt. Ich war stramm eingewickelt in eine zusammengebundene dünne Decke. Alte Fotos zeigen Säuglinge in solche Decken eingebunden, die durch Bänder über dem Bauch und über den Armen verschnürt sind. Bis auf das kleine Köpfchen ist von dem Säugling nichts zu sehen. Arme und Beine sind bei dieser Art des strammen Wickelns so gut wie unbeweglich. Es ist dem Säugling nicht möglich, die Hände zum Mund zu führen, sich umzudrehen oder auf dem Bauch zu liegen. Selbst wenn die Säuglinge gestillt wurden, blieben sie in der Regel in dieser Umklammerung, aus der sie nur zum Trockenlegen befreit wurden.

Unsere Kleidung als Kleinkinder bestand im Sommer aus einem kurzen Kleidchen. Sonst hatten wir nichts an. Das Kleidchen trugen Jungen und Mädchen. Da wir keine Unterhosen anhatten, gab es mit den kleinen und großen Geschäften keine Probleme, und die Mütter sparten bei der Wäsche. Schuhe trugen wir im Sommer nicht. Ich habe Fotos von kleinen Jungen in Röckchen gesehen, von uns selbst gibt es wohl keine. Im Winter trugen wir als Untergewand eine sogenannte Leib-und-Seel-Hose, das war eine Kombination aus Hemd und Hose, heute würde man vielleicht „Body“ sagen, die unten einen Schlitz hatte. So war es nicht nötig, uns jedes Mal auszuziehen, wenn wir auf den Topf mussten, der in unserem Dialekt „Scherm“, Scherben, hieß. Vermutlich im Alter von zwei oder drei Jahren erhielten die Jungen ihre ersten Hosen, im Sommer kurze und im Winter lange. Die Mädchen behielten ihre Kleidchen.


Dieses Foto aus dem Kindergarten in Perbál illustriert das Alltagsgewand der Kinder im Jahre 1930. Als ich im Frühjahr 1945 ins Kindergartenalter kam, gab es vielleicht schon keinen mehr. Jedenfalls habe ich keine Erinnerung daran. Zu festlichen Angelegenheiten wie Hochzeiten, Beerdigungen, „Kiridog“ (Kirmes) und kirchlichen Festen wie Erstkommunion, Firmung, Prozessionen etc. wurden die Kinder je nach Vermögen der Eltern festlich herausgeputzt. Niemand wollte hinter anderen zurückstehen. Besonders die Mädchen in weißen Kleidchen und Strümpfen mit schwarzen Lackschuhen und Kränzchen im Haar waren eine Zierde solcher Veranstaltungen.

17 „Heute vermutet man als häufigste Ursache für die früher als Fraisen bezeichnete Erkrankung knapp hintereinander liegende Schwangerschaften, die einen Kalk- und Vitamin-D-Mangel bei den Schwangeren auslösten, der dann bei den Kindern meist im Alter von drei Wochen zu Krampfanfällen und im schlimmsten Fall – zum frühen Tod des Säuglings führte. Damals vermutete man auch, dass die Krankheit durch Angst und Schrecken der Mutter in der Schwangerschaft oder in der Stillzeit verursacht worden ist.“ Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Fraisen‘. Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik.