Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

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f) Rechtfertigung des Glaubens

durch Kontakt mit der Transzendenz

Unter diesem Aspekt erwarten viele von der Mystik so etwas wie eine Rechtfertigung des Glaubens als solchen. Sie hoffen, mit Hilfe von existentieller Erfahrung die Realität der Glaubensinhalte fundieren zu können. Da tritt dann die Mystik an die Stelle der Fundamentaltheologie, an die Stelle jener theologischen Disziplin, der die rationale Begründung des Glaubens der Kirche obliegt. Ihr gegenüber ist man ohnehin schon seit geraumer Zeit skeptisch geworden, sofern man eine objektive Fundierung des Glaubens und der Glaubenswahrheiten vielfach nicht mehr für möglich hält.

Skeptisch geworden gegenüber einer rationalen Begründung des Glaubens und der Glaubenswahrheiten, erwarten viele heute die Rechtfertigung des Glaubens von der Mystik, sofern sie bestrebt ist, existentiell den Kontakt mit der Transzendenz oder mit dem hintergründigen Unsichtbaren zu vermitteln. Andere erwarten von der Mystik einen erlebnismäßigen Umgang mit den Glaubenswirklichkeiten. Das eine wie das andere ist jedoch nicht möglich, weil es für uns keinen direkten oder unmittelbaren Zugang zur Transzendenz gibt, weil wir die Transzendenz nur durch schlussfolgerndes Denken erreichen oder durch den vor der Vernunft gerechtfertigten Glauben48. Das gilt nicht weniger, wenn man sich die Transzendenz als die Kehrseite oder die Rückseite oder auch als die Innenseite dieser unserer immanenten Wirklichkeit vorstellt, wie das allgemein in der Esoterik geschieht. Mit anderen Worten: Viele möchten heute die Krise des Christentums und der Kirche, vor der man die Augen nicht mehr verschließen kann, durch die Mystik überwinden.

g) Überwindung der Krise des Christentums und der Kirche

Das auffallende Interesse an der Mystik in der Gegenwart muss im Kontext des Aufkommens neuer religiöser Bewegungen, im Kontext der Renaissance des Mythos und der Konjunktur esoterischer Literatur gesehen werden. Hier begegnet uns so etwas wie eine neue Hinwendung zwar nicht zu den etablierten Religionen und Religionsgemeinschaften, aber immerhin zum Religiösen, wobei man das Religiöse dann freilich im weitesten Sinne des Wortes verstehen muss. Das aber ist überraschend, wenn man sich vor Augen hält, dass viele in jüngster Vergangenheit noch vom Absterben der Religion gesprochen haben, dass viele in jüngster Vergangenheit noch dem modernen Menschen das Sensorium für die Metaphysik, für das Transzendente oder für das Übersinnliche abgesprochen haben.

Die Meinungsforschungsinstitute stellen immer wieder fest, dass die Zahl derer im Wachsen begriffen ist, die behaupten – durch ihr Verhalten oder auch verbal –, es gebe kein Jenseits und der Mensch überlebe seinen Tod nicht. Das findet nicht zuletzt auch seinen Ausdruck in der Tatsache, dass die Zahl der Kirchenaustritte deutlich steigt. Gegenläufig dazu ist jedoch gegenwärtig ein Trend zum Religiösen zu verzeichnen, das ist nicht zu leugnen. So sind noch in der jüngsten Vergangenheit immer wieder neue Religionen entstanden und entstehen sie auch noch in der Gegenwart und nicht wenige Jugendliche lassen sich durch sie faszinieren. All diese Religionen stehen freilich irgendwie im Einflussbereich des New Age, ob das nun die Transzendentale Meditation ist oder die Hare Krishna-Sekte oder die Bhagwan-Sekte oder die Scientology-Sekte, die sich auch als Vereinigungskirche bezeichnet, religiöse Bekenntnisse, die sich weithin »als Religionen aus der Retorte« darstellen. Es gibt heute einen gewissen Trend zum Religiösen, aber diese neue Religiosität ist synkretistisch, unbestimmt und vagabundierend und bringt eigentlich keine neuen Religionen hervor.

8. Drogenmystik

Es hängt nicht zuletzt mit der Technisierung der Mystik in der modernen Welt und mit ihrer rein subjektiven Wertung zusammen, wenn man in dem Bemühen um mystische Erlebnisse heute auch Drogen in Einsatz bringt. Vielfach werden gegenwärtig mystische Erlebnisse systematisch produziert. Das geschieht zum einen durch den Einsatz bestimmter Meditationstechniken und zum anderen durch den Einsatz von »bewusstseinserweiternden« Drogen. Es gibt in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Publikationen zum Phänomen der Drogenmystik. Nur einige dieser Publikationen seien hier genannt: Walter Houston Clark, Chemische Ekstase. Drogen und Religion49; Manfred Josuttis, Hrsg., Religion und Droge50; Robert Masters, Jean Houston, The Varieties of Psychodelic Experience51; und Hubert Cancik, Hrsg., Rausch – Ekstase – Mystik, Grenzformen religiöser Erfahrung52.

Weithin steht die »Drogenmystik« im Einflussbereich der New Age–Szene, nicht anders als die neuen Religionen. Nachhaltig ist sie geprägt durch Aldous Huxley († 1963 in Los Angeles), den Verfasser des Romans »Schöne neue Welt«, und durch eine Reihe weiterer Literaten der Moderne53. Huxley hat auch selber Drogen genommen und mit ihnen experimentiert, um mit ihnen mystische Erfahrungen zu machen. Faktisch hat er gar einige seiner Werke unter dem Einfluss von Drogen geschrieben. Andere seiner Generation haben es ihm gleichgetan.

9. Mystik in den Religionen

Der Jesuitentheologe Karl Rahner († 1984) erklärt, die Mystik sei eine geheimnisvolle Sache, über die man nicht reden könne, wenn man sie nicht habe, und über die man nicht reden werde, wenn man sie habe54. Das dürfte ein wenig übertrieben sein, aber ganz falsch ist das nicht. Faktisch ist es so, dass auch die echten Mystiker über ihre Erfahrungen sprechen und dass auch jene über mystische Erfahrungen sprechen können, die sie nicht aus eigenem Erleben kennen. Das Anliegen, das Rahner hier wohl zum Ausdruck bringen will, ist indessen legitim, sofern er damit sagen will, dass es eigentlich sehr schwer ist, die Mystik zu thematisieren.

Die Mystik ist eine religiöse Erscheinung, die eng mit dem Phänomen der Religion verbunden ist, eine religiöse Erscheinung, die den meisten Religionen zu Eigen ist, vor allem den Hochreligionen. Sie begegnet uns im Islam ebenso wie im Hinduismus und im Buddhismus. Auch im Judentum hat sich eine spezifische Form der Mystik herausgebildet sowie im alten Griechenland, in Altpersien und im alten Ägypten und sogar in den primitiven Stammes- und Volksreligionen und in den Naturreligionen. Darüber hinaus gibt es die Mystik auch in den modernen Religionssurrogaten und in verschiedenen philosophischen Systemen. Es gibt sie also nicht nur als christliche Mystik. Möglicherweise hat eine entwickeltere Mystik ihre Heimat in den Religionen des fernen Ostens, vor allem in Indien. De facto spielt sie eine besonders eindrucksvolle Rolle im Hinduismus55.

10. Die Beziehung zwischen Mystik und Religion

Wenngleich sich die Mystik in allen großen Religionen und überhaupt in den meisten Religionen in irgendeiner Form findet, zumindest in gewissen Stadien ihres geschichtlichen Lebens, wird man Mystik und Religion nicht als austauschbare Begriffe ansehen dürfen. Anders ausgedrückt: Die Mystik muss als eine spezifische Ausprägung von Religion angesehen werden.

Man hat, nicht sehr ungeschickt, das Verhältnis von Mystik und Religion durch das Verhältnis zu erläutern versucht, in dem Musik und Sprache zueinander stehen. Auch hier handelt es sich um Äußerungen des menschlichen Geistes, die miteinander verwandt sind, die irgendwie zusammenhängen und doch wieder für verschiedene Bereiche stehen, die sich aber in idealer Weise miteinander verbinden können, wie das beispielsweise im Lied der Fall ist. Wenn wir bei diesem Vergleich bleiben, so kann man vielleicht sagen, dass die Mystik in Analogie zur Musik, die Religion hingegen in Analogie zur Sprache zu sehen ist56. Die Sprache ist nämlich mehr dem rational-diskursiven Bereich zuzuordnen, während die Musik mehr dem rational-intuitiven, dem geistigen Erlebnis, der geistigen Erfahrung, zuzuordnen ist. Demnach kann man folgende Gleichung aufstellen: Die Poesie verhält sich zur Musik wie sich die Religion zur Mystik verhält.

Bei diesem Vergleich ist auch Folgendes zu beachten: Während die Religion sich einerseits inhaltlich artikulieren kann (mehr oder weniger) und mehr dem rationalen Bereich angehört, gehört das Mystische eher dem Bereich des quasi Irrationalen an, des quasi Irrationalen, nicht des Irrationalen als der Negation des Rationalen. Die Mystik ist rational im Sinne des Anderen des Rationalen, im Sinn von Intuition und geistiger Erfahrung, ähnlich wie die Musik. Die Mystik ist so wenig irrational, wie es auch die Musik ist. Die Mystik steht also neben der Religion. Dieses Nebeneinander war jedoch, geschichtlich betrachtet, nicht immer harmonisch, häufiger gab es hier Spannungen57. Diese sind dadurch bedingt, dass die Mystik nicht immer bereit ist, es hinzunehmen, wenn sie von der Religion domestiziert wird.

11. Eine erste Definition der echten Mystik

Zunächst bezeichnet die Mystik eine Frömmigkeitsform, eine Weise der Betätigung der Religion, bei der man eine außergewöhnliche Vereinigung mit dem Unendlichen sucht, wobei das Unendliche unpersonal oder personal und monotheistisch oder polytheistisch verstanden werden kann. In der Mystik sucht die in das Endliche gebannte Seele sich aus den Schranken der Endlichkeit zu befreien, um sich mit dem Unendlichen zu vereinigen. Als Mystik kennzeichnen wir also das Erlebnis einer außergewöhnlichen Vereinigung der Seele mit dem Unendlichen. In der Mystik versucht man, anders als in der Religion, mit dem Ganzen und Letzten der Wirklichkeit »erfahrungsspezifisch« oder erlebnismäßig in Beziehung zu treten. In ihr werden die religiösen Überzeugungen zur »erfahrbaren« Wirklichkeit. Dabei ist die Mystik in den Religionen nicht ein Geheimwissen, ein Wissen, das nur für bestimmte Gruppen gedacht ist. Anders ist das in der Esoterik. Allein, Esoterik ist nicht gleich Mystik, und Mystik ist nicht gleich Okkultismus, wie man immer wieder behauptet hat. Gerade in der Gegenwart ist dieses Missverständnis weit verbreitet. Von ihrem Wesen her gehört die Mystik nicht in das Gebiet der Esoterik, jedenfalls nicht im Verständnis der christlichen Überlieferung und auch nicht im Verständnis der Religionen. Dennoch ist zuzugeben, dass die christliche Mystik zuweilen in die Esoterik abgeglitten ist. Das ist jeweils dann geschehen, wenn die Theologie der Mystik schwach entwickelt war oder wenn die Theologie in der Mystik missachtet oder gar verachtet wurde. Der Theologie der Mystik kommt es zu, der praktischen Mystik die ihr zukommende Rationalität zu garantieren. Sie bewahrt die praktische Mystik davor, dass sie sich im Irrationalen verliert und somit ausufert. Immer dann, wenn die Mystik sich gegenüber der Theologie emanzipiert, ufert sie aus, erliegt sie der ihr inhärenten Versuchung, der Übermacht des Gefühls und der Phantasie zu verfallen, dann gleitet sie ab in den Mystizismus, in den Aberglauben und in die vielfältigen Formen esoterischer Spekulation.

 

Mit anderen Worten: In der Mystik werden die religiösen Überzeugungen, die theoretischer Natur sind, zur erfahrbaren Wirklichkeit, soweit das möglich ist. Das entscheidende Element ist dabei die außergewöhnliche Vereinigung der Seele mit dem Unendlichen. Zuweilen wird dieser Weg elitär verstanden in Abschirmung nach außen hin, als Weg für bestimmte Gruppen, also esoterisch oder hermetisch, aber das ist nicht die Regel, jedenfalls nicht in den Religionen. Allerdings gilt die Abschirmung nach außen selbst in esoterischen Zirkeln nicht allgemein.

Immer geht es in der Mystik um das persönliche Verhältnis des Einzelnen zu Gott oder zum Göttlichen. Niemals geht das mystische Erleben auf eine Gemeinschaft oder auf ein Kollektiv. Im mystischen Erleben ist stets der Einzelne angesprochen. Dennoch ist die Gemeinschaft oftmals daran beteiligt, speziell an der Vorbereitung des mystischen Erlebens.

12. Mystik und Theologie, Mystik als Wissenschaft und ihre Stellung im Rahmen der theologischen Disziplinen

Als Wissenschaft ist die Mystik demnach die Wissenschaft vom Wesen, von der Möglichkeit und von den Bedingungen der mystischen Vereinigung des Menschen mit der Gottheit oder mit dem Göttlichen und von ihrer Gestalt und ihren Folgen. Sofern der Blick hier auf die christliche Mystik bzw. die Mystik der katholischen Kirche geht, gehört diese Wissenschaft zur dogmatischen Theologie, sofern der Blick auf die Mystik allgemein geht, gehört sie der Religionswissenschaft an.

Die Beschreibung der mystischen Phänomene gehört dann zur Psychologie bzw. zur Religionspsychologie, während die übernatürliche Wertung dieser Phänomene bzw. ihre Wertung im Lichte der geoffenbarten Gotteslehre wiederum der Dogmatik angehört oder auch – je nach der Sichtweise – der Fundamentaltheologie58. Vor allem sind wir dann in der Fundamentaltheologie, wenn wir die Mystik im Christentum in Beziehung setzen zur außerchristlichen Mystik, um etwa festzustellen, dass die christliche Mystik die außerchristliche unendlich übersteigt und sich ihr gegenüber als einzigartig darstellt. Der Fundamentaltheologie geht es ja um die vernunftgemäße Rechtfertigung des Anspruchs des Christentums und der Kirche, Gottes Offenbarung empfangen zu haben und diese authentisch zu vermitteln. Vor allem sind es dann die außerordentlichen Begleiterscheinungen der Mystik, die in das Gebiet der Fundamentaltheologie gehören.

Die Mystik bedarf eines rationalen Rahmens. Denn die mangelnde Rationalität führt den Mystiker nicht nur zur Willkür, sondern auch zur schwärmerischen Auflösung der eigenen Seele ins All, zur Verschmelzung der eigenen Individualität mit dem dann pantheistisch erlebten Göttlichen, wie das geradezu exemplarisch ist in der Theosophie und irgendwie auch in der Anthroposophie.

Die Theologie der Mystik hat die wichtige Aufgabe, die Mystik davor zu bewahren, dass sie ausufert. Sie hat ihre Rationalität zu garantieren und ihre Echtheit zu untersuchen. Stets bedarf die Mystik eines rationalen Rahmens, und ihre Rationalität bedarf immer wieder der denkerischen Analyse, der Prüfung durch das diskursive Denken, damit sie nicht zerfließt und damit vor allem nicht der bleibende Abstand zwischen dem Mystiker und der göttlichen Wesenheit aufgelöst wird und die Mystik sich im Pantheismus verliert.

Seinem Wesen nach ist der mystische Zustand eine geistige Schwingung, ein Aufschwung der Seele, der die Seele ganz und gar erfasst, eine geistige Schwingung, die den Geist bis zum Äußersten bewegt. Mit ihr verbindet sich das Bestreben, über jede begriffliche Vorstellung hinauszugehen, »um das Göttliche durch ... liebendes Erkennen zu erfassen«59. Soweit es sich um echte Mystik handelt, durchdringt so das Göttliche die Seele bis ins Innerste und verwandelt es die ganze Persönlichkeit in ihrer Denk-, Handlungs- und Empfindungsweise60. Der Weg zur mystischen Einigung ist nicht gerade leicht und verlangt einiges an Anstrengung61. Traditionellerweise beginnt er stets bei der »via purgativa«62. Gemäß dem neuplatonischen Schema, das Pseudo-Dionysius Areopagita, ein unbekannter Mönch des 5. Jahrhunderts, der mittelalterlichen Mystik übermittelt hat, unterscheiden wir drei Stufen des mystischen Weges: die »via purgativa«, die »via illuminativa« und die »via unitiva«.

13. Glaube als Hintergrund der Mystik

Es ist nicht die rationale Überlegung, die auf die königliche Straße der Mystik führt, sondern der Glaube. Zum mystischen Erleben gelangt man nur dann, wenn man bereits im Glauben die Gegebenheiten des alltäglichen Lebens übersteigt. Dabei muss sich die Seele immer mehr aller sinnlichen oder sinnenhaften Wahrnehmungen entledigen, um sich ganz und gar der Welt des Glaubens öffnen zu können. Das zu ermöglichen und zu bewerkstelligen, das ist im Einzelnen die Aufgabe der drei Wege.

Der Hintergrund aller wahren oder echten Mystik ist normalerweise der Glaube bzw. sind in der Regel die Mysterien, die der Glaube verbürgt. Immer hat es der Glaube mit Mysterien zu tun. Mysterien sind Geheimnisse, übernatürliche Realitäten, und die Wahrheiten über sie, wobei die übernatürlichen Realitäten logisch das Erste und die Wahrheiten über sie das Zweite sind. Die Mysterien gehen der Offenbarung voraus, und im Offenbarungsvorgang erfährt das Heilsgeschehen seine Kundgabe durch Gott. Das Mysterium artikuliert eine übernatürliche Realität in menschlichen Worten, die ihrerseits naturgemäß hinter der Realität zurückbleiben. Die Begriffe »Mysterium« und »Mystik« gehören nicht nur etymologisch zusammen, auch inhaltlich gehören sie zusammen.

Dass es der Glaube mit übernatürlichen Realitäten zu tun hat, das wird heute weniger bedacht in der Theologie. Das relativiert den christlichen Lebensvollzug. In der Theologie und auch in der Pastoral geht es heute weithin nicht mehr um die Sache, sondern nur noch um das Subjekt. Da fragt man nicht mehr nach dem »in se«, sondern nach dem »pro me«. In der existentialen Hermeneutik, die heute weithin die Theologie beherrscht, richtet man den Blick lediglich auf die neue Existenzsituation. Da begegnet uns eine kopernikanische Wende, die als solche zu wenig zur Kenntnis genommen wird von den Verantwortlichen in der Kirche. Ausgegangen ist sie von renommierten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Ihre tieferen Wurzeln reichen indessen zurück in das ausgehende Mittelalter.

Von den Glaubensgeheimnissen, den Mysterien, sagt das I. Vatikanische Konzil: »... die göttlichen Geheimnisse übersteigen ihrer Natur nach so sehr den geschaffenen Verstand, dass sie trotz der Übergabe durch die Offenbarung und trotz der Annahme im Glauben doch durch den Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von Dunkel umhüllt bleiben, so lange wir in diesem sterblichen Leben fern vom Herrn pilgern. ›Denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen‹ (2 Kor 5, 6 f)«63.

Ein Geheimnis darf man nicht leichtfertig ausplaudern, vielmehr muss man seiner innewerden. Deswegen eignet sich der Terminus »Mysterium« besonders gut zur Bezeichnung dessen, worum es im Tiefsten geht im christlichen Glauben – in gewisser Weise gilt das auch allgemein für die Religionen. In der frühen Kirche sprach man von der Arkandisziplin. Den Glauben darf man nicht leichtfertig ausplaudern, wie es heute oft geschieht, weshalb er ja auch oftmals so wenig Glauben findet. Der Glaube darf nicht verschleudert werden, und er darf vor allem auch nicht auf das Maß dessen reduziert werden, was uns plausibel erscheint.

Das Wort »Mysterium« leitet sich her von dem griechischen Verbum »mýo« oder »mýein«. »mýo« bedeutet »ich verschließe«, »mýein« »verschließen«. Dabei denkt man vor allem an das Verschließen der Augen und des Mundes. Man verschließt die Augen und den Mund, um sich innerlich mit dem Geheimnis zu beschäftigen, um seiner innezuwerden und es nicht nach außen hin preiszugeben.

Die Religion und das Mysterium gehören aufs Engste zusammen. Der elsässische geistliche Schriftsteller Karl Pfleger († 1975) erklärt einmal: »Nur das Mysterium tröstet«. Der Glaube verliert seine Kraft, wenn man ihn des Mysteriencharakters beraubt. Wir bringen uns selbst um den Trost des Glaubens, wenn wir das Mysterium verschleudern oder wenn wir es reduzieren auf das Maß dessen, was dem heutigen Menschen plausibel erscheint, wie es einem seelenlosen Trend unserer Zeit entspricht.

14. Mystische Theologie – Mystagogie – Mystologie

Sofern man sich in der Wissenschaft von der Mystik nicht auf die wissenschaftliche Auslegung der mystischen Einigung beschränken kann, sofern man in ihr auch den Weg zur mystischen Einigung in seine Untersuchungen einbeziehen muss, gehört zu ihr – zur Wissenschaft von der Mystik – auch die theologische Disziplin der Aszetik. Am Anfang des mystischen Weges steht immer die Reinigung von der Sünde, stets beginnt der Weg der Mystik mit der »via purgativa«. Die Aszetik aber ist auf die Moraltheologie oder auf die theologische Ethik hingeordnet. In der Aszetik geht es um das Streben nach Vollkommenheit, zu dem im Grunde jeder Christ verpflichtet ist.

Man kann die Mystik auch als Wissenschaft vom christlichen Leben verstehen. Dann hat sie mit der Moraltheologie und der Aszetik das gemeinsam, dass auch diese theologischen Disziplinen sich mit dem christlichen Leben befassen. Während die Moraltheologie die Hinordnung der menschlichen Handlungen auf das letzte übernatürliche Ziel unter dem Gesichtspunkt der Pflichterfüllung und der Tugendübung behandelt und die Aszetik sich mit dem Streben nach der christlichen Vollkommenheit auf dem Weg ernster Willensschulung befasst, geht es dann in der Mystik um das Vollkommenheitsstreben unter dem besonderen Gesichtspunkt des Strebens nach der Gottvereinigung.

Die Nähe dieser drei Disziplinen zueinander ist offenkundig, aber die Aspekte sind jeweils anders.

Diese Nähe kann man auch an folgendem Sachverhalt erläutern: Das Gebet ist ein wichtiges Thema in der Ethik, in der Aszetik und in der Mystik. In allen Fällen hat es die Bedeutung eines Mittels zur Erreichung des letzten Zieles. Aufgabe der Moraltheologie ist es, das Gebet als sittliche Pflicht zu erweisen, Aufgabe der Aszetik ist es, Hinweise auf die Pflege des Gebetes für den nach Vollkommenheit Strebenden zu geben, und Aufgabe der Mystik ist es schließlich, die Vereinigung mit Gott durch den Wandel in Gottes Gegenwart und die Vereinigung mit Gott auf den Wegen der Beschauung zu erläutern. Hier, in der Mystik, geht es dann also um das Gebet unter dem Aspekt der Vereinigung mit Gott.

Wenn wir von der Mystik sprechen, müssen wir unterscheiden zwischen der Mystik als Darstellung und Lehre einer­seits und der Mystik als dem unmittelbaren Erleben und Wirken Gottes in der Seele andererseits.

Die mystische Theologie ist als solche ein Teil der Dogmatik und arbeitet auch nach den Prinzipien dieser theologischen Disziplin. Sie reicht allerdings gewissermaßen in die Fundamentaltheologie hinein. Das ist auch sonst des Öfteren der Fall bei der Dogmatik. Der Fundamentaltheologie obliegt es hier vor allem, die außerordentlichen Begleitphänomene der Mystik zu untersuchen und die Verbindung zu den säkularen Wissenschaften der Parapsychologie und der Psychologie herzustellen.

Ursprünglich bezeichnete man sowohl das unmittelbare Erleben und das Wirken Gottes in der Seele des Mystikers als auch die Darstellung dieses Erlebens des Menschen und des Wirkens Gottes und die Lehre von der Mystik als mystische Theologie. Vom 16. Jahrhundert an spricht man von mystischer Theologie nur noch bei der wissenschaftlichen Auslegung der mystischen Erfahrung, also bei der Darstellung der Mystik und bei der Lehre von der Mystik. Zudem behandelte man in dieser Disziplin ursprünglich den ganzen Weg, der zur Beschauung führt, also auch die sittlichen und aszetischen Bemühungen, die am Anfang dieses Weges stehen. Später, seit dem 17. Jahrhundert, wendet sich die mystische Theologie mehr den höheren Stufen der erkennend-liebenden Gottvereinigung zu, also der Beschauung im engsten Sinne des Wortes, speziell der eingegossenen Beschauung, und weist alles andere der aszetischen Theologie zu. So trennte man die Aszese und die Mystik voneinander, die bis dahin nur zwei Seiten ein und desselben Gegenstandes behandelt hatten. Die Trennung hat sich nicht bewährt. Deshalb bemüht man sich heute wieder um die Vereinigung dieser beiden Elemente, sucht man heute wieder die innere Einheit von Aszese und Theologie der Mystik zur Geltung zu bringen. Mit Recht kann man sich dabei auf die patristische Theologie berufen64.

 

In einem engen Zusammenhang mit der Mystik stehen auch die Mystagogie und die Mystologie, die Hinführung zur mystischen Erfahrung und das rationale Verständnis dieser Erfahrung65. Die Mystologie hat man auch als spekulative Mystik bezeichnet.

15. Tiefere Erkenntnis in der Mystik

als in der rationalen Theologie

Johannes Gerson († 1429), ein bedeutender Theologe des 15. Jahrhunderts, hat sich intensiv mit der Theologie der Mystik beschäftigt. Geboren im Jahre 1363, war er Kanzler der im Mittelalter sehr berühmten Pariser Universität, der Sorbonne, und trat als solcher auch kirchenpolitisch hervor, vor allem auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418). Die Geschichte hat ihm den Beinamen »Doctor christianissimus« gegeben. Er unterscheidet zwischen praktischer und spekulativer Mystik. Unter praktischer Mystik versteht er die Stufen und Weisen der mystischen Erfahrung als solcher, unter spekulativer Mystik die theologische Reflexion über diese Erfahrung66.

Wenn man bedenkt, dass es in der Mystik um psychologische Sachverhalte geht, die eine theologische Deutung erfahren, dann wird man verstehen, dass in der Theologie der Mystik die verschiedensten Disziplinen der systematischen Theologie relevant sind, vor allem die theologische Anthropologie, die theologische Lehre vom Menschen, die Ekklesiologie, die theologische Lehre von der Kirche, und die Soteriologie, die theologische Lehre von der Erlösung.

Vielfach klagt man heute darüber, dass die theologische Seite in der Mystik zu kurz komme. Dabei stellt man fest, dieses Faktum habe bereits eine längere Geschichte durchlaufen, eine Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreiche, und wirft der Kirchenlehrerin und Mystikerin Theresa von Avila († 1582) vor, sie wende sich ausschließlich dem seelischen Verhalten im mystischen Leben zu und vernachlässige die theologische Deutung der psychologischen Vorgänge67.

Man muss wohl unterscheiden zwischen dem mystischen Erlebnis und der Beschreibung dieses Erlebnisses. Auch der echte Mystiker ist durchaus nicht eo ipso geeignet, seine echten Erfahrungen zutreffend zu beschreiben. Von daher erklären sich die Differenzen in solcher Beschreibung, von daher erklärt sich auch das Faktum, dass in solchen Beschreibungen des Öfteren echte Erlebnisse mit unechten zusammengebracht oder auch verwechselt werden von den Mystikern. Das gilt sogar auch für jene bedeutenden Mystiker der Kirche, die kanonisiert worden sind.

Immer geht es in der Mystik, in den mystischen Erlebnissen, um eine intuitive Annäherung an Gott. Dieser Weg zu Gott hat neben dem Weg der diskursiven Rationalität, wie ihn die »theologia ordinaria« beschreitet, einen legitimen, ja notwendigen Platz in der theologischen Forschung und in der theologischen Ausbildung. Das ist freilich eher ein Desiderat denn eine Wirklichkeit.

In der intuitiven Annäherung an Gott, wie sie in der Mystik gegeben ist, geht es um die spirituelle Seite der Theologie bzw. des Glaubens, um die Verwirklichung des Glaubens im Gebet und im sittlichen Streben, speziell in der Aszetik, wobei das Letztere weithin die Bedingung ist für das Erstere: Der Weg zum Gebet, zum mystischen Gebet, führt über die Aszese, die der Forschungsgegenstand der Aszetik ist. Die »via purgativa« ist im neuplatonischen Schema die erste Stufe des mystischen Weges. Wie bedeutungsvoll dieser Bereich ist, der Bereich der spirituellen Theologie, das hat der mittelalterliche Theologe Anselm von Canterbury († 1179) zum Ausdruck gebracht, wenn er in seiner Schrift »Proslogion« feststellt, dass wir Gott nur erkennen können oder dass wir nur hoffen können, in der Gotteserkenntnis etwas zu sehen, wenn wir vorher gebetet haben. Das gilt nicht nur für das Gebiet der Gotteserkenntnis, sondern für jede Form der theologischen Erkenntnis und der Glaubenserkenntnis. Thomas von Aquin († 1274), der universale Lehrer der Kirche, hat, so berichtet sein Biograph Wilhelm von Tocco, niemals seine theologischen Gedanken schriftlich niedergelegt oder mündlich vorgetragen, ohne vorher unter einer Flut von Tränen gebetet zu haben68. Das ganze Geistesleben dieses Theologen war »von oben orientiert und bestimmt«. Er erhoffte und erflehte die wahre Weisheit »von himmlischen Höhen, denen sein Geistesauge sehnsuchtsvoll und gläubig« entgegenblickte. So der Thomas-Forscher Martin Grabmann69. Thomas war nicht nur Philosoph und Theologe, sondern auch Mystiker. Man hat ihn als den Gelehrtesten unter den Heiligen und als den Heiligsten unter den Gelehrten bezeichnet.

Der Dominikaner Ludwig von Granada († 1588) erklärt, die Gemüts- und Willenstätigkeit in der mystischen Theologie habe die Aufgabe, der Erkenntnistätigkeit der positiven und der spekulativen Theologie bzw. des positiven und spekulativen Theologen den Weg zu bereiten. Durch die Erfahrung der göttlichen Güte, affektiv, werde dem Verstand eine wachsende Erkenntnis über die göttliche Vollkommenheit vermittelt70.

Und Franz von Sales († 1622), Ordensgründer, Mystiker, Kirchenlehrer und Bischof von Genf, vergleicht in seinem Buch »Theotimus«, auch »Traité de l’amour de Dieu« genannt, aus dem Jahre 1616 – das ist eine Darstellung des Lebens und Wirkens der Gottesliebe in der Seele – die mystische Theologie mit der »theologia ordinaria«, der normalen wissenschaftlichen Theologie, wenn er schreibt: »Gleichwie Gott der Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie ist, so spricht auch die mystische Theologie von Gott, jedoch mit einem dreifachen Unterschied. Jene betrachtet nämlich erstens die Göttlichkeit der allerhöchsten Güte, diese die allerhöchste Güte der Gottheit. Zweitens spricht die Theologie der Schule über Gott zu den Menschen und mit den Menschen, die Mystik aber gilt dem Sprechen des Menschen von Gott, zu Gott, mit Gott. Drittens strebt die wissenschaftliche Theologie nach der Erkenntnis Gottes, die Mystik aber gilt der Liebe Gottes«. Des Weiteren führt Franz von Sales an dieser Stelle aus, die Mystik sei »eine Unterredung, wodurch die Seele sich liebreich mit Gott über seine höchst liebenswürdige Güte« bespreche, »um mit derselben sich zu vereinigen« 71.

16. Augustinus: »Res difficilis perceptu, difficilior dictu«

Immer wieder haben die Theologen die mystische Annäherung an Gott, die intuitive Theologie, die spirituelle Seite der Theologie, in der Geschichte als eine unabweisbare Voraussetzung für die Theologie als solche bezeichnet, für die Theologie als Glaubenswissenschaft im Allgemeinen und für die einzelnen theologischen Disziplinen im Besonderen. Dabei gilt für unsere Fragestellung das berühmte Wort des Augustinus († 430): »... mystica est res difficilis perceptu, difficilior dictu ...« – »die Mystik ist eine schwierige Materie im Hinblick auf das Erkennen, noch schwieriger ist sie im Hinblick auf ihre Erklärung«72. Der Begriff der Mystik verweist uns auf den Begriff des Mysteriums, wie bereits betont wurde, deswegen ist sie eine »res difficilior«, zumal man sich dieser »res« zunächst erlebnismäßig und erfahrungsmäßig nähert und erst sekundär denkerisch.