Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller

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Einmal – es war im alten Hafen, gerade vor TREVOLINOs letzter Reise – verschwand er zu meiner tiefsten Bestürzung über Bord. Dominic und ich hatten achtern unsere Angelegenheiten besprochen, und Cesar war hinter uns her geschlichen, um zu lauschen, denn zu seinen anderen Vorzügen war er auch noch ein vollendeter Horcher und Spion. Beim Geräusch des schweren Plumpses wurzelte der Schreck mich auf der Stelle fest, aber Dominic trat ruhig an die Verschanzung, sah hinüber und wartete darauf, dass der erbärmliche Kopf seines Neffen zum ersten Mal wieder auftauchen würde.

„Ohe, Cesar!“ rief er dem platschenden Wicht verächtlich zu. „Halte dich an der Trosse fest – charogne!“ (Aas)

Er kam zu mir her, um die unterbrochene Besprechung wiederaufzunehmen.

„Und Cesar?“ fragte ich besorgt.

„Canallia! Lass ihn da hängen bleiben“, war seine Antwort. Und er sprach ruhig über das bevorstehende Unternehmen weiter, während ich vergebens versuchte, aus meinem Gemüt das Bild Cesars zu verbannen, wie er bis ans Kinn im Wasser des alten Hafens lag, diesem Absud aus jahrhundertealten Schiffsabfällen. Nach einer Weile rief Dominic einen Jollenführer an, der nichts zu tun hatte, und beauf­tragte ihn, seinen Neffen herauszufischen; und bald darauf erschien Cesar über den Kai an Bord. Er zitterte und troff von schmutzigem Wasser, in seinen Haaren hatten sich verfaulte Strohhalme verfangen, und auf seiner Schulter war ein Stück dreckige Apfelsinenschale gelandet. Seine Zähne klapperten, seine gelben Augen schielten unheilvoll zu uns herüber, als er nach vorne ging. Ich hielt es für meine Pflicht, Einspruch zu erheben.

Ich fragte: „Warum prügeln Sie immer auf ihm herum, Dominic?“ Wirklich, ich war fest davon überzeugt, dass es keinen Zweck hatte – es war reine Kraftverschwendung.

„Ich muss versuchen, aus ihm einen Mann zu machen“, antwortete Dominic hoffnungslos.

Ich unterdrückte die einleuchtende Entgegnung, dass er auf diese Weise Gefahr liefe, aus ihm, nach den Worten des unsterblichen Mr. Mantalini, „einen verdammt nassen, unguten Leichnam“ zu machen.

„Er will Schlosser werden!“ platzte Cervoni heraus. „Um zu lernen, wie man Schlösser mit dem Dietrich knackt, vermute ich“, fügte er mit sardonischer Bitterkeit hinzu.

„Und warum soll er nicht Schlosser werden?“ wagte ich zu fragen.

„Wer wollte ihn in die Lehre nehmen?“ rief er. „Wo sollte ich ihn unterbringen?“ fragte er mit leiserer Stimme, und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben echte Verzweiflung. „Sie wissen, er stiehlt, ach! Par la madoniae! (Mit Madonna) Ich glaube, er könnte Gift in Ihr und mein Essen tun – die Viper!“

Er hob sein Antlitz und beide ineinandergeklammerten Hände langsam gegen den Himmel. Cesar tat jedoch niemals Gift in unsere Tassen. Man kann es nicht genau wissen, aber ich glaube, er ging auf andere Weise zu Werke.

Auf der nächsten Reise, deren nähere Umstände nicht erzählt zu werden brauchen, mussten wir aus verschiedenen Gründen weit in See hinaus segeln. Als wir von Süden heraufkamen, um sie mit dem wichtigeren und wirklich gefährlichen Teil des vorgesehenen Planes abzuschließen, fanden wir es richtig, um einer bestimmten Information willen Barcelona anzulaufen. Das macht den Eindruck, als steckte jemand seinen Kopf so recht in den Rachen des Löwen, aber so war es in Wirklichkeit nicht. Wir hatten dort ein oder zwei hohe, einflussreiche und viele andere niedrige und dennoch wertvolle Freunde für gutes, hartes Geld gekauft. Wir liefen keine Gefahr, belästigt zu werden, und wirklich, die wichtige Information ließ nicht auf sich warten, sie erreichte uns durch einen Zollbeamten, der zu uns an Bord kam, um voll gespielten Eifers mit einem Eisenstab in der Apfelsinenschicht herumzustochern, die in der Luke den sichtbaren Teil unserer Ladung ausmachte.

Ich vergaß, vorhin zu erwähnen, dass die TREMOLINO offiziell als Frucht- und Korkholzfahrer galt. Der eifrige Beamte ließ beim Anlandgehen ein nützliches Stück Papier in Dominics Hand gleiten, und als er wenige Stunden später mit seinem Dienst fertig war, kam er durstig nach Getränken und Erkenntlichkeit an Bord zurück. Beides wurde ihm selbstverständlich zuteil. Während er in der kleinen Kabine saß und seinen Likör schlürfte, setzte ihm Dominic mit Fragen nach den derzeitigen Standorten der Guardacostas zu. Mit dem Küstendienst hatten wir sehr zu rechnen, und es war für unseren Erfolg wie für unsere Sicherheit wesentlich, die genaue Position des in unserer Nachbarschaft auf Streifendienst befindlichen Fahrzeuges zu kennen. Die Nachrichten hätten nicht günstiger sein können. Der Beamte nannte einen kleinen, zwölf Meilen entfernten Küstenort, wo es ahnungslos und unvorbereitet mit abgeschlagenen Segeln vor Anker lag, um seine Rahen zu malen und seine Spieren abzukratzen. Dann verließ er uns mit den üblichen Ehrenbezeugungen, wobei er uns zur Beruhigung über die Schulter anschmunzelte.

Ich war aus übermäßiger Vorsicht den ganzen Tag unten geblieben. Der Einsatz, um den es auf dieser Reise ging, war sehr groß.

„Wir könnten sofort abfahren, wenn nicht Cesar wäre. Seit dem Frühstück ist er verschwunden“, verkündigte mir Dominic auf seine langsame, grimmige Art.

Warum der Bursche fortgegangen war und wohin, konnten wir uns nicht vorstellen. Alle Vermutungen, die beim Ausbleiben eines Seemanns gewöhnlich angestellt werden, passten nicht auf Cesar. Er war viel zu widerwärtig für Liebe, Freundschaft, Spiel oder auch nur eine Zufallsbegegnung. Aber er war schon früher ein- oder zweimal auf dieselbe Weise fortgegangen.

Dominic ging an Land, um ihn zu suchen, kam aber nach zwei Stunden allein zurück. Ich erkannte an dem verschärften unsichtbaren Lächeln unter seinem Schnurrbart, dass er sehr zornig war. Wir überlegten, was aus dem Kerl nur geworden sein könnte, und suchten auch eilends unsere Habe durch. Gestohlen hatte er nichts.

„Er wird schon bald wieder da sein“, sagte ich zuversichtlich.

Zehn Minuten später rief einer der Leute an Deck laut: „Er kommt!“

Cesar hatte nur Hemd und Hose an. Er hatte seine Jacke verkauft, wahrscheinlich um Taschengeld zu haben.

„Du Schurke!“ sagte Dominic nur; seine Stimme war dabei fürchterlich mild. „Wo bist du Vagabund gewesen?“ fragte er drohend.

Nichts hätte Cesar zwingen können, diese Frage zu beantworten. Er verzichtete sogar darauf, zu lügen. Er stand uns gegenüber, zog die Lippe hoch, knirschte mit den Zähnen und wich um keinen Zoll vor Dominics Arm zurück. Natürlich ging er wie erschossen zu Boden. Aber diesmal bemerkte ich, dass er beim Aufstehen länger als sonst auf allen Vieren blieb, seine großen Zähne fletschte und mit einer neuen Art von Hass in den runden, gelben Augen zu seinem Enkel aufstierte. Dieses stetige Gefühl schien in diesem Augenblick durch besondere Bosheit und Neugier eine neue Schärfe bekommen zu haben. Ich war gespannt und dachte, wenn er uns einmal Gift ins Essen tun sollte, dann wird er uns, wenn wir bei Tisch sitzen, so ansehen. Aber selbstverständlich nahm ich nicht einen Augenblick lang an, dass er uns jemals Gift ins Essen tun würde. Er aß dasselbe wie wir. Überdies hatte er gar kein Gift. Und ich konnte mir kein menschliches Wesen vorstellen, das durch Habgier so verblendet wäre, einem so widerlichen Geschöpf Gift zu verkaufen.

Wir glitten in der Dämmerung leise in See, und die Nacht hindurch ging alles gut. Es wehte böig, ein steifer Südwind kam auf. Das war für unseren Kurs günstiger Wind. Dann und wann schlug Dominic langsam und rhythmisch ein paar Mal die Hände zusammen, als wollte er der TREMOLINO Beifall klatschen. Die Balancelle summte und bebte im Dahinfliegen und tanzte leicht unter unseren Füßen.

Bei Tagesanbruch wies ich Dominic auf ein besonderes Fahrzeug unter den verschiedenen hin, die innerhalb unserer Sicht vor dem wachsenden Sturme dahinsegelten. Es hatte Vollzeug stehen und sah dadurch von vorne sehr hoch aus; wie eine graue Säule stand es genau in unserem Kielwasser.

„Sehen Sie einmal den“, sagte ich. „Der scheint es eilig zu haben.“

Der Padrone äußerte sich nicht dazu, raffte aber seinen schwarzen Mantel dichter um sich und stand auf. Sein wettergegerbtes, von der Kapuze umrahmtes Gesicht sah herrisch und herausfordernd aus. Seine tief liegenden Augen spähten fest und ohne jedes Zwinkern wie die aufmerksamen, gnadenlosen, starren Augen eines Seevogels in die Ferne.

„Chi va piano va sano“ (Wer geht langsam), bemerkte er schließlich mit einem spöttischen Blick über die Reling mit einer ironischen Anspielung auf unsere eigene rasende Fahrt.

Die TREMOLINO tat ihr Äußerstes und schien die mächtigen Gischtkämme im Überfliegen kaum zu berühren. Ich kauerte mich wieder in den Schutz der niedrigen Verschanzung. Nachdem er länger als eine halbe Stunde in schwankender Reglosigkeit dagestanden hatte, einer gesammelten, atemlos beobachtenden Reglosigkeit, ließ er sich neben mir an Deck nieder. Unter der mönchischen Kapuze glühten seine Augen so wild, dass ich erschrak. Alles, was er sagte, war: „Er ist hergekommen, um sich die neue Farbe von den Rahen zu waschen, nehme ich an.“

„Was?“ rief ich und kam auf die Knie. „Ist es der Guardacosta?“

Die stete Andeutung eines Lächelns unter Dominics piratenhaftem Schnurrbart schien sich noch zu verstärken – es kam jetzt ganz deutlich, grausam und wirklich beinahe sichtbar durch das feuchte, glatte Haar heraus. Danach beurteilt, musste er in rasender Wut sein. Aber ich sah auch, dass er verwirrt war, und diese Entdeckung berührte mich sehr unangenehm. Dominic verwirrt! Lange Zeit starrte ich, an die Verschanzung gelehnt, über das Heck nach der grauen Säule, die leise schwankend immer im gleichen Abstand über unserem Kielwasser stand.

Indessen saß Dominic in seiner schwarzen Umhüllung mit untergeschlagenen Beinen rückwärts gegen den Wind gelehnt an Deck; er erinnerte unbestimmt an einen arabischen Häuptling, der in seinem Burnus im Sande sitzt. Über seiner reglosen Gestalt warf der Sturm die kleine Schnur und Troddel an der steifen Kapuzenspitze sinnlos hin und her. Ich gab es schließlich auf, mich mit der Vorderseite dem Wind und Regen auszusetzen, und duckte mich neben ihm hin. Ich war überzeugt, dass der Segler ein Streifenfahrzeug war. Über seine Nähe verlautete am besten nichts, aber bald fiel zwischen zwei hagelschweren Wolken ein Streifen Sonnenlichts auf seine Segel, und unsere Leute entdeckten es von selbst. Ich sah, dass sie von diesem Augenblick an weder einander noch irgendetwas sonst beachteten. Sie wandten ihre Augen und Gedanken ausschließlich auf die schlanke Säulenform hinter uns. Ihr Schwanken war jetzt deutlich wahrnehmbar. Einen Augenblick lang blieb sie strahlend weiß, dann schwand sie in einer Bö zu nichts dahin und kam beinahe schwarz wieder heraus; nun ähnelte sie einem Pfahl, der aufrecht gegen den schieferfarbenen Hintergrund aus festem Gewölk stand. Seit wir den Guardacosta zuerst wahrgenommen hatten, war er uns um nichts näher gekommen.

 

„Die TREMOLINO kriegen sie nie zu fassen“, sagte ich frohlockend.

Dominic sah mich nicht an. Er bemerkte zerstreut, aber zutreffend, das schwere Wetter käme unseren Verfolgern zugute. Ihr Schiff wäre dreimal so groß wie unseres. Wir müssten den Abstand bis zur Dunkelheit halten, was uns leicht möglich wäre, und dann den Kurs nach See hinaus ändern und die Lage betrachten. Aber seine Gedanken schienen in der Dunkelheit eines ungelösten Rätsels zu tappen, und bald schwieg er wieder. Wir liefen mit unseren entgegengesetzt ausgebaumten schrägen Rahen gleichmäßig vor dem Winde her. Kap San Sebastian lag rechts voraus, es schien vor uns in den Regenböen zurückzuweichen und zwischen den Schauern jedes Mal deutlicher wieder herauszukommen, um unserem Ansturm zu begegnen.

Ich für mein Teil war keineswegs gewiss, dass dieser „gabelou“ (wie unsere Leute den Guardacosta schimpflich nannten) unbedingt hinter uns her wäre. Verschiedene nautische Schwierigkeiten sprachen so sehr dagegen, dass ich die zuversichtliche Meinung ausdrückte, er wechsele in aller Harmlosigkeit nur einfach seinen Standort. Daraufhin ließ Dominic sich herbei, den Kopf zu wenden.

„Ich sage Ihnen, er ist auf Verfolgung“, versicherte er mürrisch nach einem kurzen Blick achteraus.

Ich zweifelte seine Meinung niemals an. Aber zu dieser Zeit war ich mit allem Eifer eines Neulings und dem Stolz eines gelehrigen Schülers ein großer nautischer Kasuist.

„Ich kann nur nicht verstehen“, beharrte ich spitzfindig, „wie in aller Welt er es bei diesem Wind fertiggebracht hat, gerade da zu sein, wo er war, als wir ihn zuerst ausmachten. Es ist klar, dass er in der Nacht keine zwölf Meilen gegen uns aufgeholt hat – das kann er nicht. Und da sind noch andere Unmöglichkeiten...“

Dominic hatte reglos wie ein unbelebter schwarzer Kegel dagesessen, den man auf das Achterdeck neben den Ruderkopf gestellt hatte und auf dessen Spitze eine kleine Troddel flatterte. Eine Zeitlang verharrte er in der Unbeweglichkeit seines Nachdenkens. Dann beugte er sich mit einem kurzen Auflachen vor und teilte mir die bittere Frucht seines Nachdenkens mit. Ihm war nun alles klar. Der Guardacosta war da, wo wir ihn zuerst sahen, nicht etwa, weil er uns eingeholt hatte, sondern weil wir in der Nacht an ihm vorbeigelaufen waren, als er, höchstwahrscheinlich beigedreht, schon genau auf unserem Kurs wartete.

„Schon – verstehen Sie?“ murmelte Dominic grimmig. „Schon! Wir sind gute acht Stunden eher als erwartet ausgelaufen, sonst würde er zur rechten Zeit hinter dem Kap auf Lauer gelegen und – „er schnappte dicht vor meinem Gesicht mit den Zähnen wie ein Wolf zu, „und uns so – geschnappt haben.“

Jetzt stellte sich mir das Ganze deutlich genug dar. Die Zollleute auf diesem Fahrzeug da hatten Augen im Kopf und alle Sinne beisammen. Wir waren in der Dunkelheit an ihnen vorbeigelaufen, während sie langsam auf ihren Hinterhalt zutrieben und uns noch weit achteraus dachten. Als sie jedoch bei Tageslicht voraus eine Balancelle unter vollen Segeln sichteten, setzten sie Vollzeug zur Jagd. Aber wenn das so war, dann – Dominic ergriff meinen Arm.

„Ja, ja! Sie sind mit einer genauen Nachricht ausgelaufen – verstehen Sie das? – mit genauer Nachricht ... Wir sind verkauft worden – betrogen. Warum? Wie? Wofür? Wir haben die Leute an Land immer so gut bezahlt ... Nein! Aber mir zerspringt bald der Schädel.“

Er schien zu ersticken, zerrte am Halsverschluss seines Umhangs, sprang mit aufgerissenem Munde auf, als wollte er Flüche und Verdächtigungen herausheulen, beherrschte sich aber sofort, raffte den Mantel enger und setzte sich so ruhig wie nur je wieder auf das Deck.

„Ja, es muss das Werk eines Lumpen an Land sein“, sagte ich.

Er zog den Kapuzenrand tief über die Augen, ehe er murmelte: „Ein Lump ... Ja ... Das ist klar.“

„Na schön“, sagte ich, „sie kriegen uns nicht, das ist auch klar.“

Wir gingen sehr dicht an das Kap heran, um einer gegenan laufenden Strömung auszuweichen. Auf der anderen Seite gerieten wir durch die Leewirkung des Landes für einen Augenblick in eine derartige Flaute, dass die beiden großen, hohen Segel der TREMOLINO beim donnernden Aufruhr der Seen, die gegen das achteraus liegende Land anbrandeten, träge an die Masten schlugen. Und als eine neue Bö sie wieder füllte, sahen wir mit Schrecken das neue Großsegel, unter dem wir bis zum Kurswechsel in der folgenden Nacht liegenbleiben wollten, zur Hälfte glatt aus den Lieken fliegen. Wir fierten die Rah sofort herunter und bargen es, aber es war kein Segel mehr, sondern nur noch ein Haufen nasser Tuchstreifen, der das Deck versperrte und das Schiff belastete. Dominic gab Befehl, den ganzen Kram über Bord zu werfen.

„Ich hätte auch die Rah über Bord werfen lassen“, sagte er, als wir wieder nach achtern gingen, „wenn dadurch keine Unruhe aufgekommen wäre. Lassen Sie sich nichts anmerken“, fuhr er mit leiserer Stimme fort, „aber ich muss Ihnen etwas Furchtbares erzählen. Hören Sie zu: Ich habe bemerkt, dass die Garnstiche am Liek des Segels eingeschnitten waren. Hören Sie? An vielen Stellen mit einem Messer zerschnitten. Und doch hat es die ganze Zeit gehalten. Nicht genug zerschnitten. Dieses Schlagen und Prallkommen vorhin hat ihm den Rest gegeben. Was liegt schon daran? Aber sehen Sie – hier auf diesem Deck ist Verrat am Werk. Bei den Hörnern des Teufels! ist hinter unserem Rücken am Werk. Drehen Sie sich nicht um, Signorino.“

Wir standen mit dem Gesicht zum Heck.

„Was sollen wir tun?“ fragte ich entsetzt. „Nichts. Schweigen! Seien Sie ein Mann, Signorino.“

„Was sonst?“ sagte ich.

Um ihm zu zeigen, dass ich ein Mann sein konnte, beschloss ich, keinen Ton zu sagen, solange Dominic selbst die Kraft hatte, seine Lippen geschlossen zu halten. Für manche Lagen schickt sich nur Schweigen. Überdies schien die Gewissheit des Verrats eine hoffnungslose Müdigkeit über meine Gedanken und Sinne zu breiten. Eine Stunde oder länger sahen wir zu, wie unser Verfolger aus den Böen heraus, die ihn manchmal vollkommen verschluckten, näher und näher heranstampfte. Aber selbst wenn wir das Schiff nicht sahen, fühlten wir es wie ein Messer an der Kehle. Es holte zusehends auf. Und die TREMOLINO schwebte in viel glatterem Wasser unter ihrem einen Segel leicht vor dem heftigen Winde dahin; in der jubelnden Freiheit ihrer Bewegungen lag eine ergreifende Sorglosigkeit. Eine weitere halbe Stunde verging. Ich hielt es nicht mehr aus.

„Sie werden unser armes Schiff fangen“, stammelte ich plötzlich, den Tränen nahe.

Dominic rührte sich so wenig, als wäre er aus Holz geschnitzt. Ein Gefühl grauenhafter Einsamkeit befiel meine unerfahrene Seele. Das Bild meiner Gefährten stieg vor mir auf. Die ganze Royalistengesellschaft war jetzt wohl in Monte Carlo. Und sie erschienen mir mit gezierten Stimmen und steifen Bewegungen klar und deutlich und sehr klein wie eine Prozession starrer Marionetten auf einer Puppenbühne. Ich schrak auf. Was war das? Aus dem Inneren der reglosen schwarzen Kapuze neben mir stieg ein geheimnisvolles, unbarmherziges Flüstern.

„Il faut la tuer.“

Ich hörte es genau.

„Was sagen Sie, Dominic?“ fragte ich, wobei sich nur meine Lippen bewegten.

Und das Flüstern im Innern der Kapuze wiederholte geheimnisvoll: „Sie muss sterben.“

Mein Herz begann heftig zu klopfen.

„Ja“, sagte ich mit ersterbender Stimme. „Aber wie?“

„Sie lieben sie sehr?“

„Ja.“

„Dann müssen Sie auch den Mut dazu aufbringen. Sie steuern, und ich sorge dafür, dass sie schnell stirbt und dass kein Splitter von ihr übrigbleibt.“

„Können Sie das?“ murmelte ich und war ganz gebannt von der schwarzen Kapuze, die sich so reglos über das Heck neigte, als stünde sie in unerlaubter Verbindung mit diesem alten Meer der Sänger, Sklavenhändler, Verbannten und Krieger, dem Meer der Sagen und Schrecknisse, auf dem die Schiffsleute des fernen Altertums den ruhelosen Schatten eines alten Wanderers im Dunkeln laut weinen hörten.

„Ich weiß einen Felsen“, flüsterte heimlich die wissende Stimme in der Kapuze. „Aber – Vorsicht! Es muss vorbei sein, ehe unsere Leute merken, was wir vorhaben. Wem können wir jetzt noch trauen? Ein Messerschnitt durch das Fockfall würde die Fock von oben holen und uns binnen zwanzig Minuten um die Freiheit bringen. Und sogar unsere besten Leute könnten Angst vorm Ertrinken haben. Da ist noch das kleine Boot, aber bei einer Sache wie dieser hier kann niemand wissen, ob er gerettet wird.“

Die Stimme brach ab. Als wir von Barcelona absegelten, hatten wir das Dingi im Schlepp; nachher war es zu gewagt, es hereinzuholen, darum hatten wir es am Ende einer tröstlich langen Leine sein Glück mit den Seen versuchen lassen. Manchmal schien es uns schon gänzlich begraben zu sein, aber immer wieder sahen wir es über einer Woge auftauchen und so fröhlich und heil wie immer dahinhüpfen.

„Ich verstehe“, sagte ich langsam. „Sehr gut, Dominic. Wann?“

„Noch nicht. Wir müssen zuerst etwas tiefer hinein“, antwortete die Stimme aus der Kapuze in geisterhaftem Geflüster.

Es war abgemacht. Jetzt hatte ich den Mut, mich umzudrehen. Unsere Leute kauerten mit unruhigen, niedergeschlagenen Gesichtern hier und da an Deck, und alle waren sie unserem Verfolger zugekehrt. Zum ersten Mal an diesem Morgen nahm ich auch Cesar wahr, der sich in voller Länge beim Fockmast auf dem Deck ausgestreckt hatte, und ich überlegte, wo er sich wohl bis jetzt herumgedrückt haben mochte. Aber er hätte wahrhaftig die ganze Zeit neben mir stehen können, und ich wäre seiner doch nicht bewusst geworden. Wir waren zu sehr in unserem Verhängnis aufgegangen, als dass wir noch Aufmerksamkeit füreinander aufgebracht hätten. Niemand hatte an diesem Morgen etwas gegessen, aber die Leute waren ständig zum Trinken ans Wasserfass gekommen.

Ich lief hinunter in die Kabine. Ich verwahrte dort in einer abgeschlossenen Schublade zehntausend Franken in Gold, deren Vorhandensein an Bord, soviel ich wusste, außer Dominic keine Seele im Geringsten ahnte. Als ich wieder an Deck kam, hatte Dominic seine Stellung verändert und schaute unter seiner Kapuze heraus suchend auf die Küste. Kap Creus begrenzte voraus die Sicht. An Backbordseite lag eine weite Bucht; die wütenden Böen hatten ihr Wasser aufgerissen und zerwühlt, es sah aus, als wäre sie voller Rauch. Achteraus zog es am Himmel drohend herauf.

Sowie er mich sah, erkundigte sich Dominic in gelassenem Tone, was geschehen wäre. Ich kam dicht zu ihm, machte ein möglichst unbeteiligtes Gesicht und brachte ihm mit gedämpfter Stimme bei, die Schublade wäre aufgebrochen und der Geldgürtel fort. Gestern Abend war er noch da.

Er zitterte heftig. „Was wollten Sie damit?“ fragte er.

„Ihn umschnallen natürlich“, antwortete ich und erschrak, als ich seine Zähne schnattern hörte.

„Verfluchtes Gold“, murmelte er. „Das Gewicht hätte Sie vielleicht Ihr Leben gekostet.“ Er schauderte. „Wir haben keine Zeit, jetzt darüber zu reden.“

„Ich hin fertig.“

„Noch nicht. Ich warte, dass diese Bö heraufkommt“, flüsterte er. Und einige träge Minuten vergingen.

Schließlich zog die Bö herauf. Unser Verfolger wurde von einem finsteren Wirbelwind überrumpelt und geriet außer Sicht. Die TREMOLINO bebte und hüpfte voran. Das Land voraus verschwand ebenfalls, und wir schienen in einer Welt aus Wasser und Wind alleingelassen zu sein.

„Prenez la barre, Monsieur“, brach Dominic plötzlich mit rauer Stimme das Schweigen. „Übernehmen Sie die Pinne.“ Er beugte seine Kapuze an mein Ohr. „Die Balancelle gehört Ihnen. Von Ihrer Hand muss der Schlag kommen. Ich – ich habe noch ein anderes Stück Arbeit zu tun.“ Laut sagte er zu dem Mann, der steuerte: „Lass den Signorino die Pinne nehmen und halte du dich mit den anderen bereit, aufs Wort das Boot längsseit zu holen.“

 

Der Mann war überrascht, gehorchte aber stumm. Die anderen gerieten in Bewegung und spitzten die Ohren. Ich hörte sie flüstern: „Was nun? Wollen wir irgendwo an Land gehen und ausreißen? Der Padrone weiß, was er tut.“

Dominic ging nach vorn. Er hielt inne, um auf Cesar herabzusehen, der, wie ich schon sagte, lang ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten beim Fockmast lag; dann trat er über ihn weg und verschwand unter der Fock. Nach vorne sah ich nichts. Es war für mich unmöglich, außer der offenen, stillen Fock, der großen schattenvollen Schwinge, irgendetwas zu sehen. Aber Dominic hatte seine Peilung. In einem eben vernehmlichen Ruf kam seine Stimme zu mir: „Jetzt, Signorino!“

Ich legte die Pinne über, wie er es mir vorher gesagt hatte. Noch einmal hörte ich ihn schwach, und dann brauchte ich nur noch geraden Kurs zu halten. Kein Schiff ist seinem Tode so freudig entgegengelaufen. Es hob sich und sank, als segelte es ins Nichts, und schoss schwirrend wie ein Pfeil voran. Dominic bückte sich unter dem Fußliek der Fock hindurch und kam wieder zum Vorschein. Er blieb in zuversichtlicher, abwartender Haltung mit erhobenem Zeigefinger an den Mast gelehnt stehen. Eine Sekunde vor dem Schlag ließ er den Arm zur Seite niedersinken. Als ich das sah, biss ich die Zähne zusammen. Und dann –

Rede von splitternden Planken und krachenden Spanten! Dieser Schiffbruch liegt mir mit dem Grauen und Entsetzen eines Mordes auf der Seele, mit so unvergessbaren Gewissensbissen, als hätte ich ein lebendiges, treues Herz mit einem einzigen Schlage zermalmt. Im einen Augenblick das Rauschen und die erhabene Schwinge der Schnelligkeit; im nächsten ein Krach, und Tod, Stille – ein Augenblick furchtbarer Reglosigkeit; der Gesang des Win­des hat sich in schneidendes Jammern verwandelt, und das schwere Wasser kocht drohend und träge um den Leichnam herum auf. Ich sah in einer erschütternden Minute die Fockrah mit einem brutalen Schwung in Längsschiffrichtung fliegen und die Männer in einem Haufen wie Wahnsinnige und fluchend vor Angst an der Schleppleine des Bootes holen. Mit der seltsamen Empfindung, die stets das Gewohnte willkommen heißt, sah ich auch Cesar unter ihnen und erkannte ich Dommies alte, wohlbekannte, wirkungsvolle Geste, den waagerechten Schwung seines kräftigen Armes. Ich entsinne mich genau, dass ich mir sagte: „Selbstverständlich muss Cesar jetzt zu Boden gehen“, und dann versetzte mir die hin und her fegende Pinne (ich hatte sie losgelassen und war dabei, auf allen Vieren fortzukriechen) einen harten Schlag unters Ohr, der mich ohnmächtig zusammenfallen ließ.

Ich glaube nicht, dass ich länger als ein paar Minuten besinnungslos war, aber als ich wieder zu mir kam, trieb das Dingi vor dem Winde in eine kleine geschützte Bucht; zwei Mann hielten es mit den Riemen nur eben auf Kurs. Dominic saß neben mir auf dem Achtersitz, er hatte einen Arm um meine Schulter gelegt und stützte mich.

Wir landeten an einem wohl vertrauten Teil der Küste. Dominic nahm einen Riemen aus dem Boot mit. Ich glaube, er dachte an den Fluss, über den wir nachher hinweg mussten; es lag da zwar ein elendes Punt, aber der dazugehörige Staken war oft gestohlen. Zuallererst mussten wir jedoch die Hügelreihe im Rücken des Kaps ersteigen. Er half mir hinauf. Mir war schwindelig. Mein Kopf war sehr dick und schwer. Als wir die Höhe erreicht hatten, hing ich nur noch so an ihm und wir hielten an, um auszuruhen.

Die weite, rauchige Bucht unter uns war leer. Dominic hatte Wort gehalten. Kein Span und kein Splitter war mehr um den schwarzen Felsen herum zu sehen, von dem die TREMOLINO, als ein einziger Schlag ihr tollkühnes Herz zerbrochen hatte, in tiefes Wasser zur ewigen Ruhe hinabgeglitten war. Treibende Nebel erstickten die Unermesslichkeit der offenen See, und mitten unter der lichter werdenden Bö jagte der unwissende Guardacosta unter furchtbarem Segelpress wie ein Phantom weiter auf der Verfolgung nach Norden. Unsere Leute kletterten schon den jenseitigen Abhang hinab, um das Punt zu suchen, das, wie wir aus Erfahrung wussten, nicht immer leicht zu finden war. Ich sah mit stumpfen, verschleierten Augen hinter ihnen her. Eins, zwei, drei, vier.

„Dominic, wo ist Cesar?“ schrie ich.

Der Padrone machte, als wollte er den bloßen Klang des Namens abwehren, jene weite, schwunghafte Niederschlagsgeste. Ich trat einen Schritt zurück und starrte ihn erschreckt an. Sein offenes Hemd enthüllte den starken Nacken und das dichte Haar auf seiner Brust. Er stieß den Riemen senkrecht in die weiche Erde, rollte langsam den rechten Ärmel auf und streckte den bloßen Arm vor mein Gesicht hin.

„Dies“, begann er mit äußerster Langsamkeit, in deren übermenschlicher Zurückhaltung die unterdrückte Heftigkeit seines Gefühls zitterte, „ist der Arm, der zugeschlagen hat. Den Rest, fürchte ich, hat Ihr eigenes Geld besorgt. Ich hatte Ihr Geld ganz vergessen.“ Er schlug in plötzlichem Schmerz die Hände zusammen. Ich vergaß es! Ich vergaß es!“ wiederholte er verzweifelt.

„Cesar stahl den Gürtel?“ stammelte ich bestürzt.

„Wer sonst? Canallia! Er muss Ihnen tagelang nachspioniert haben. Und er hat das Ganze angestiftet. In Barcelona den ganzen Tag fort. Tradidore! Verkaufte seine Jacke – weil er ein Pferd mieten wollte. Haha! Ein guter Handel! Ich sage Ihnen, er war es, der ihn auf uns gehetzt hat...“

Dominic zeigte hinaus auf die See, wo der Guardacosta nur noch als dunkler Fleck zu sehen war. Sein Kinn sank auf die Brust.

„... mit genauer Nachricht“, murmelte er mit trauriger Stimme. „Ein Cervoni! Ach! Mein armer Bruder ! ...“

„Und Sie haben ihn ertränkt“, sagte ich schwach.

„Ich schlug einmal zu, und der Schuft ging unter wie ein Stein – mit dem Gold. Ja. Aber er hatte vorher Zeit, in meinen Augen zu lesen, dass nichts ihn retten konnte, solange ich lebte. Und hatte ich nicht das Recht dazu – ich, Dominic Cervoni, Padrone, der ihn an Bord Ihrer Fellucca gebracht hat – meinen Neffen, einen Verräter?“

Er zog den Riemen wieder aus der Erde und half mir vorsichtig den Abhang hinab. Während der ganzen Zeit sah er mir nicht ein einziges Mal ins Gesicht. Er stakte uns im Punt über den Fluss, schulterte wieder den Riemen und wartete, bis unsere Leute einen gewissen Vorsprung hatten; dann erst bot er mir seinen Arm an. Nachdem wir eine kurze Strecke gegangen waren, kam das kleine Fischerdorf in Sicht, unser Ziel. Dominic blieb stehen.

„Meinen Sie, dass Sie allein bis zu den Häusern gehen können?“ fragte er mich ruhig.

„Ja, ich glaube. Aber warum? Wo wollen Sie hin, Dominic?“

„Nirgends. Was für eine Frage! Signorino, Sie sind nicht viel mehr als ein Junge, wenn Sie einen Mann, der diese Geschichte in seiner Familie hat, so etwas fragen. Ah! Traditore! Was hat mich nur dazu gebracht, dass ich dieses hungrige Teufelsgezücht jemals als unser Blut anerkannt habe! Dieb, Betrüger, Feigling, Lügner – anderen Leuten mag das recht sein. Aber ich war sein Onkel und so ... Ich wollte, er hätte mich vergiftet, charogne! Aber dieses: Dass ich als Vertrauensperson und Korse Sie um Verzeihung bitten muss, weil ich an Bord Ihres Schiffes, dessen Padrone ich war, einen Cervoni brachte, der Sie dann verraten hat – einen Verräter! – das ist zuviel. Es ist zu viel. Gut, ich bitte Sie um Verzeihung; und Sie mögen Dominic ins Gesicht spucken, weil ein Verräter unseres Blutes uns alle besudelt. Ein Diebstahl kann unter Männern wieder gut gemacht, eine Lüge berichtigt, ein Tod gerächt werden, aber was kann man tun, um eine Verräterei wie diese zu sühnen? ... Nichts.“