Österreich im Jahre 2020

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die fesselnde Schilderung dieser merkwürdigen Regierungsepoche verfolgte das Auditorium mit ungeteilter Aufmerksamkeit, und nachdem die ganz natürliche Veränderung der Gesellschaftsordnung in ihrer Entstehung, ihrem Fortschritte und ihrer schließlich siegreichen Durchführung dargelegt worden war, folgte eine psychologische Skizze des Monarchen jener Epoche die als ein philosophisches Kabinettstück zu betrachten war und frenetischen Beifall entfesselte. Der Vortragende zeigte die Ursachen, warum dieser merkwürdige Fürst solange und am meisten in Österreich verkannt wurde und welche Charakterstärke und welches antike Pflichtgefühl dazu gehörte, unter solchen Verhältnissen auszuharren. So groß auch nach dem Urteile aller Zeitgenossen und dem Zeugnisse aller, die mit dem Kaiser arbeiteten, seine vielseitigen Talente und seine politische Begabung waren, so war doch sein Charakter noch weit mehr anzustaunen. Die unerreichte Selbstbeherrschung und die Versöhnlichkeit dieses Monarchen, wodurch mehr als ein boshafter Gegner überwunden wurde, sowie die Arbeitskraft und Ausdauer, die Franz Josef I. in persönlichen und öffentlichen Angelegenheiten bewies, haben ihm den Beinamen des Standhaften erworben.

Zum Schlusse erwähnte Professor Lueger, wie wir von Dr. Kolb wissen, ein Urenkel des Dr. Karl Lueger, dessen Andenken uns Chroniken und Spottlieder seiner Gegner erhalten haben, einer Legende über das Haus Habsburg. Er sagte, man behaupte, dass schon Kaiser Josef II. und nach seinem Beispiele Kaiser Franz Josef I. eine geheime Geschichte ihrer Regierung und der damit zusammenhängenden politischen Ereignisse und Familienerlebnisse schrieben, die niemand als dem jeweilig regierenden Familienoberhaupte zugänglich war. Sie wurde mit dem umfassendsten Urkundenmateriale belegt und der regierende Fürst suchte in den begleitenden Memoiren sich selbst auf das gewissenhafteste klar zu machen und den Nachfolgern zu überliefern, inwieweit Irrtum, Übereilung und Leidenschaft des Regenten Anteil hatten an den Unglücksfällen, die das Reich und das Haus trafen. So bildete sich die Dynastie selbst und erzog sich zu einem Amte, das an Schwierigkeit seines gleichen nicht hatte auf dem ganzen Erdenrunde und seit Entstehung des Menschengeschlechtes. Die beschränkten Zeitgenossen des Monarchen hatten aber diese Schwierigkeiten niemals in Rechnung gezogen, sondern Erfolg an Erfolg gemessen, als ob jede Aufgabe gleich schwierig wäre.

Take it all in all, he was a man!

Der Professor schloss und verabschiedete sich mit einer freundlichen Handbewegung; der Saal erglänzte wieder in strahlendem Lichte und wir wollten eben über die Rampe nach einem Straßenbahnwagen eilen, als wir vom Hauspersonale benachrichtigt wurden, dass ein heftiger Regen niederprassle und wir über Stiege VI den Ausgang nach der Universitätsstraße nehmen möchten, wo die Waggons unter einer gedeckten Vorhalle anfuhren. Es waren über fünfzig bereit, welche alle Besucher der Abendvorlesungen, an tausend Fahrgäste, aufnehmen konnten, und wir teilten uns nach einem sinnreichen Verfahren in Gruppen nach Quartieren, wozu anwesende Ordner die Anleitung gaben. Als die Gumpendorfer Quartiere an die Reihe kamen, nahmen wir Platz, um heimzufahren. In der Mitte der Gumpendorfer Quartiere hielten wir unter einer gedeckten Halle aus Eisen und Glas und kamen durch eine unterirdische gedeckte Verbindung nach unserem Quartier. Man sagte uns, dass man von jedem Hause nach jedem Hause, auch zu den Palästen in der ehemaligen inneren Stadt, dem jetzigen Adelsviertel, bei schlechtem Wetter trockenen Fußes kommen könne und dass die Straßenbahnwagen Zeit der Empfänge Wagen genug aufgestellt seien, welche die Gäste von den Aussteigehallen nach der Burg oder den Palästen der Adeligen beförderten. Es sei das zwar eine nicht geringe Arbeit, da oft an 50.000 Menschen zu befördern wären, aber es seien über 1.000 Wagen zur Verfügung und sie hätten nur kurze Strecken zurückzulegen. Übrigens gehe man daran, die Tramway durch dieses Viertel, das nur ein großer, mit Palästen gezierter Park sei, zu führen, da man die Erfahrung gemacht habe, dass dieses Verkehrsmittel pneumatisch betrieben und die Schienen durch Gärten geführt werden könnten, ohne diese zu verunstalten.

Nach dem Abendmahle stiegen wir über eine der hohen Treppen in das erste Stockwerk, wo wir uns leicht zurecht fanden, weil der Grundriss aller dieser öffentlichen Gebäude ähnlich ist, und gelangten in den Bibliothekssaal, der die Mitte des ersten Stockwerkes einnimmt und von kleineren Sälen umgeben ist, welche in den Gemeinden größtenteils als Schulzimmer benützt werden, aber in den hauptstädtischen Quartieren als Spielzimmer, kleinere Lesekabinette und zu Vorlesungen vor kleinem Auditorium dienen. Der Bibliothekssaal, der seinem eigentlichen Zwecke nur entzogen wird, wenn wichtige politische Versammlungen der ganzen Gemeinde oder Schlussabstimmungen stattfinden, ist hoch hinauf mit Bücherschränken bekleidet, in welchen sich auch Repositorien für Karten und Stiche befinden, und der in diesem Saale angestellte Ordner zeigte uns, dass die Bibliothek schon 10136 Bände zähle. Wir nahmen einige amerikanische Zeitungen und Bücher, womit wir uns in ein leerstehendes Nebengemach zurückzogen, um zu lesen. Es erregte unsere Aufmerksamkeit, dass dieser kleine Saal, zu dem nur eine einzige Türe führte, eine kleine Bibliothek enthielt, und in den Kästen sich nur blau gebundene Werke befanden. Dr. Kolb sagte uns, dass alle Bücher, die etwas enthalten, was vor Kindern und jungen Leuten geheimgehalten werden müsse, in blauen Bänden zur Aufstellung käme und dass auch solche Zeichnungen und dergleichen auf dieselbe Art kennbar gemacht würden. Solche Bücher, Zeichnungen, Modelle etc. würden in der kleinen Bibliothek verwahrt, zu welcher die jüngeren Leute und Kinder keinen Zutritt hätten, und es könne aus dieser Bibliothek nur an zuverlässige Personen etwas verliehen werden. Die Frauen wieder bänden ihre Geheimliteratur rot und in ihren Privatlesesaal hätten auch Männer keinen Zutritt. Übrigens stehe der Antrag in Verhandlung, Kindern gegenüber größere Offenheit walten zu lassen, da man erwarte, dass sich auch da die Vernünftigkeit eines Abhärtungssystemes erweisen werde, vorausgesetzt, dass es schon vor Eintritt der Pubertät zur Geltung kommt.

Wir gerieten nach einer Weile wieder in ein Gespräch mit Dr. Kolb, der uns Aufschluss über das Bibliothekswesen und den Bücherverlag gab. Er sagte, die Reichszentralbibliotheksverwaltung zähle 300 ständige Beamte. Diese könnten aber natürlich nicht die unermessliche Menge der immer aus dem Auslande zuströmenden Werke lesen und sich so auf dem Laufenden erhalten, dass sie jedermann Aufschluss geben könnten, der sich über einen Zweig der Wissenschaft oder Literatur orientieren wolle. Sie hätten genug mit der Katalogisierung und alljährlichen Ergänzung der gedruckten Kataloge und deren Neuherausgabe, welche alle 10 Jahre stattfindet, zu tun, auch liege ihnen die Bücherversendung aus den Zentralbibliotheken und die Oberaufsicht über die Provinzbibliotheksverwaltungen ob, die wieder in einem ähnlichen Verhältnisse zu den Kreisbibliotheken stünden. Die Kataloge seien gedruckt, umfassten viele Bände und würden in jedem Lesesaale aufgestellt. Wie Gemeinde-, Bezirks-, Kreis- und Provinzbibliotheken zu dotieren sind, ergebe sich von selbst aus bibliothekstechnischen Grundsätzen und würden übrigens aus jeder Bibliothek Bücher versendet, wenn sie entbehrt werden können. In Wien sei ein Röhrensystem errichtet, wodurch es möglich wird, in kürzester Zeit Bücher aus den Hauptbibliotheken in die Lesesäle der Quartiere zu befördern. Dazu bediene man sich der Pneumatik. Die Menschenarbeit bestehe nur darin, die Bücher in die Wagen zu legen und diese in die Mündung der Röhren einzuführen. Jede Zentralbibliothek habe 35 Lesesäle zu bedienen. In den Gebäuden der Zentralbibliotheken selbst seien zahlreiche Arbeitszellen errichtet, in welchen Gelehrte, Künstler und auch andere Personen sich eine Handbibliothek zusammenstellen lassen können, um ungestört arbeiten zu können.

Wir berechneten, wie viele Bücher Österreich brauche, wenn mehr als 40.000 Lesesäle, die Österreich besitzt, mit so großen Mengen von Büchern dotiert sind, und noch so bedeutende Reservoirs in großen Zentralbibliotheken bestehen, aber Dr. Kolb sagte, dass die Landgemeinden durchaus einen geringeren Bibliotheksstand hätten und nur die Bezirksbibliotheken, deren es 2.000 gäbe, reichhaltig ausgestattet seien. – Zwirner habe ihm übrigens erzählt, dass nach seinen Forschungen schon im 19. Jahrhunderte Deutschland allein jährlich über 6.000 Werke von oft vielen Bänden und großen Auflagen druckte und man also wohl auf eine Jahresproduktion von 10 Millionen Bänden jährlich in Deutschland für jene Epoche schließen könne. Die vergleichsweise Bücherarmut jener Zeit sei nur daraus erklärlich, dass die Bücher meist jahrelang bei Buchhändlern müßig standen, dann kaum einmal gelesen wurden und wieder in Privatbücherregalen verstaubten, während jetzt jeder Band aus der Buchbinderei in die Bibliothek wandert. Die Jahresproduktion betrage jetzt in Österreich alljährlich 40 Millionen Bände, also etwa viermal so viel, als im 19. Jahrhunderte in Deutschland, und etwa 20 Millionen Bände würden jährlich ausgemustert und wieder in die Papierfabriken geliefert, daher der Jahreszuwachs 20 Millionen Bände beiläufig betrage, und da dieser Zuwachs in den letzten 20 Jahren konstant blieb, so ergebe das allein für diese Jahre 400 Millionen Bände und erhöhe sich die Mannigfaltigkeit der Werke erstaunlich durch den internationalen Tausch, beziehungsweise internationalen Buchhandel, der meist 5 Millionen Bände im Jahre betrage. Es belaufe sich die Zahl der jährlich aufgestellten inländischen und ausländischen Werke auf 50.000. – Außerordentlich verschieden allerdings sei die Zahl der Exemplare, da man von manchen Werken 45.000 Exemplare auflege, von vielen ausländischen Werken aber nur ein einziges beziehe. Wir bestritten die Möglichkeit, die Jahreskataloge im Drucke zu veröffentlichen, aber Dr. Kolb versicherte, er habe bei Zwirner einen Warenkatalog von einem gewissen Rix in Wien aus dem 19. Jahrhunderte gesehen, worin Kinderspielwaren und anderer Tand bis zu einem Preise von 5 Kreuzern verzeichnet waren. Viel mehr als das könne man für die Literatur tun. Übrigens werden chinesische, japanische und andere Werke der fremdesten Literaturen meist nur summarisch der Zahl und dem Gegenstande nach am Schlusse des Katalogs erwähnt.

 

Wir glaubten, eine Jahresproduktion von 40 Millionen Bänden müsste die nationalen Papiervorräte erschöpfen, aber auch das widerlegte Dr. Kolb, indem er darauf verwies, dass man den Papierverbrauch in Österreich schon im Jahre 1890 auf 3-1/2-Kilogramm per Kopf der Bevölkerung berechnete und jetzt betrage er 5 Kilogramm per Kopf. Da nun der Papierverbrauch per Band durchschnittlich nicht einmal ein halbes Kilogramm betrage, sei es leicht ausführbar, für jeden Kopf der Bevölkerung einen Band jährlich zu präliminieren.

Das führte uns noch einmal auf das Verlagswesen, worüber uns Zwirner erschöpfende Mitteilungen nicht gemacht hatte. Dr. Kolb sagte, es seien für den öffentlichen Verlag 3.000 Werke mit 40 Millionen Einzelbänden jährlich präliminiert und sei das Verlagsrecht gewissermaßen budgetmäßig auf Zivilliste, Reich, Provinzen, Kreise aufgeteilt und könne sogar jede Gemeinde nach einem 40-jährigen Turnus einen Band auf Rechnung des öffentlichen Verlags in 1.000 Exemplaren drucken lassen. Der Verfasser reiche also das Manuskript der Zentralregierung ein, welche die ausgestoßenen Manuskripte an die Provinzverwaltungen gebe und so weiter. Aber der Verfasser könne sich auch direkt an die Zivilliste oder einen Kreis, eine Gemeinde &c. wenden. Wer seit fünf Jahren Mitglied des literarischen Vereines sei, könne 1.000 Exemplare eines einbändigen Werkes auch in Druck legen, ohne jemandes Erlaubnisse einzuholen.

Das verhalte sich so. Wie schon erwähnt, können die Bibliotheken ihre Arbeit unmöglich vollkommen bewältigen. Sie würden zwar von Professoren und Studenten unterstützt, aber auch das genüge nicht und man habe daher einen literarischen Verein gegründet, der jetzt weit über 50.000 Mitglieder in allen Teilen des Reiches zähle und sich nach Sprachen Wissenschaften und Literaturzweigen in Sektionen und Unterabteilungen gliedere.

Die Regierung stelle dem Vereine ein Zentralbüro, das sich derzeit in St. Pölten befinde, eine Druckerei und Buchbinderei und jährlich eine bestimmte Menge Druckpapier zur Verfügung und könne der Verein einmal jährlich 100 Werke auswählen, die auf Rechnung des öffentlichen Verlages gedruckt werden, er könne aber auch selbst Werke drucken. Letztere Werke müssten die Mitglieder, welche sie verfasst haben, selbst setzen und es machten daher nicht viele von dem Verlagsrechte Gebrauch.

Der Verein habe dagegen der Regierung gewisse Dienste zu leisten. Sie weise den Mitgliedern Manuskripte zur Begutachtung und die ausländischen Werke zur Bearbeitung für die Bibliothekszwecke zu. Alle Vereinstätigkeit sei aber freie Wirksamkeit und könne in die geregelte Arbeitsleistung nicht eingerechnet werden.

Es war Mitternacht und wir ergingen uns noch im Mondscheine im Garten und Dr. Kolb, der als alter Herr aufstehen kann, wann es ihm gefällt, war so gut, uns noch Gesellschaft zu leisten, wobei er uns auf die Straße führte und zeigte, dass eben jetzt der Lastenverkehr beginne, der Waren und Vorräte von den Bahnhöfen in die Quartiere bringe und dann den Unrat wegschaffe, was täglich geschehe. Der letztere Dienst gehe nur junge Leute der bestimmten Altersklassen an, aber die meisten hauptstädtischen Dienstleistungen würden, wie wir schon gehört hatten, von den alten Herren des Arbeiterberufes besorgt. Es lebten an 60-70.000 solcher Pensionisten in Wien, welche aber meist wieder nach einigen Jahren auf diese Art von Pfründe verzichteten, weil die Österreicher es nicht lange in einer Großstadt aushielten. Von jenen Pensionisten hätte jeden Tag in der Woche der siebente Teil Dienst, trüge gewisse Abzeichen und besorge neben der Aufsicht auf den Straßen und in den öffentlichen Gebäuden manche hauswirtschaftliche Arbeiten, den Briefdienst u.s.w., insbesondere auch die Schneesäuberung und die Lenkung der Wagen und Pferde. Jeder Ältere wähle sich den Standort, der ihm gefällt, und die Jüngeren müssten die zugewiesenen Arbeiten übernehmen.

Eben waren die Unratsgefäße weggefahren worden und die jüngeren Männer, die den Dienst hatten, entstiegen den unterirdischen Kanälen. Dr. Kolb regte den Gedanken an, dass wir uns die Kanäle besehen sollten. Einer der jungen Männer stieg wieder hinab und wir folgten auf einer eisernen Leiter. Die durch das ganze Quartier verzweigten Kanäle sind mehr als mannshoch, ganz trocken betoniert, können mit Glühlampen erleuchtet werden und, was uns verwunderte, es war merklich übler Geruch kaum wahrzunehmen. Die Kanäle stehen nämlich mit mächtigen Essen in Verbindung, in welchen immer Feuer unterhalten wird, und außerdem setzt man vor dem Abstieg in den Kanal einen mächtigen Ventilator in Bewegung.

Dr. Kolb empfahl sich jetzt und sagte, er müsse am nächsten Tage früh nach Tulln zur Vorbereitung der Regatta fahren, und es stehe uns frei, mitzufahren oder uns an eine andere Begleitung weisen zu lassen oder auf eigene Faust zu flanieren. Letzteres wollten wir wagen und Mr. Forest sagte leise zu mir, er hätte längst gewünscht, die Begleitung los zu werden, die uns offenbar jeden Einblick in die Gebrechen der Zustände entziehe.


6

Es war Sonntagmorgen und wir hatten uns vorgesetzt, in Wien zu wandern, um verlässliche Informationen einzuholen, und zum Mittagessen nach Tulln zu fahren, weil abends die interessante Regatta stattfinden sollte. Wir fanden auch am Sonntag alles in Bewegung, alle öffentlichen Säle und Gebäude vom frühesten Morgen an geöffnet, denn Wien war die Stadt geworden, in der man sich nicht langweilen wollte. Obgleich wir recht müde waren, pilgerten wir doch nach den Museen. Die Ordner auf den Straßen gaben uns genau die Richtung an und da sie sahen, wir seien Fremde und rauchten nicht, fragte uns ein alter Herr, ob wir denn keine Zigarren hätten. Mr. Forest witterte einen Versuch, ein Trinkgeld zu ergattern, aber eingedenk der Vorschriften, die wir gedruckt in der Tasche hatten, wagte er sich doch nicht mit einem Versprechen hervor und sagte nur, wir hätten keinen Vorrat mehr. Der Alte bat sich die Aufenthaltskarten aus und sagte dann, damit könnten wir in jedem Speisesaale Zigarren beziehen, da man ja wisse, dass die Fremden rauchten. Wir meinten, wir seien in Tulln im regelmäßigen Aufenthalte, aber man beruhigte uns, man nehme es nicht so genau, sonst wäre es ja nicht gemütlich. So wandten wir uns zum nächstgelegenen Speisesaale und erhielten richtig Zigarren für den Tag, nachdem die Daten der Aufenthaltskarte waren notiert worden. Das war uns sehr lieb, wir mussten aber jetzt im Freien bleiben, denn in den Gebäuden ist das Rauchen verboten, es wäre denn in der eigenen Wohnstube. Als wir unsere Zigarren geraucht hatten, besuchten wir die Museen, in denen sich viele Tausende drängten, weil an Sonntagen auch Leute von den benachbarten Dörfern in die Stadt strömen, und wir bewunderten nicht nur die reichhaltigen Sammlungen, sondern auch die herrlichen altersgrauen Gebäude mit den Kuppelsälen und Deckengemälden. Wir forderten einen Katalog, der uns bereitwillig mit der Bitte verabfolgt wurde, ihn beim Weggehen zurückzustellen, weil er nicht zum Verkaufe bestimmt sei. Wollten wir jedoch einen Katalog mit nach Hause nehmen, was wohl der Mühe wert wäre, weil auch interessante Abbildungen und Farbendrucke darin enthalten seien, so müssten wir uns an die Hausverwaltung wenden. Wir verlangten aber für heute nicht danach, denn es drängte die Zeit und wir wollten lieber früher nach Tulln kommen. Auch waren wir betäubt und hatten uns bisher zu wenig Ruhe gegönnt. Unsere Anfragen bei diesem und jenem, ob man hier zufrieden sei, hatten zu nichts geführt und obwohl Mr. Forest immer Furcht vor Spionen und verkappten Oberbeamten witterte, konnte ich doch an den heiteren Gesichtern und dem ganzen Getümmel erkennen, dass es da Unzufriedene wirklich nicht gebe.

Wir bestiegen einen Straßenwagen, kamen auf den Franz-Josefs-Bahnhof und gelangten ziemlich früh nach Tulln. Nach dem Lunch gingen wir, da wir noch zwei Stunden bis zum Mittagstisch hatten, nach dem Zentralrudersporthause, das von der eisernen Brücke etwas stromabwärts dastand, ein schöner Bau mit Empfangssälen, Beratungszimmern und Archiven, an den Wänden Trophäen mit den Namen der einzelnen Sieger und der preisgekrönten Ortschaften. Wir fanden da Zwirner und Dr. Kolb, die alle Hände voll zu tun hatten und uns nur flüchtig begrüßen konnten.

Ruderer in allen Farben, mit bloßem Halse und Armen, hatten hin und her zu laufen und zu ordnen und wurden unzählige Boote ins Wasser gelassen, Ruder eingeseift, Wimpel aufgesteckt und man sah in der Ferne den Rauch von Dampfern, welche Gäste aus Wien brachten, die den Ruderern zur Seite fahren wollten.

Ein kräftiger Junge, selbst Ruderer, belehrte uns über die Farben. Es wäre hier, wie bei Wettrennen, Bicyclefahren &c. jeder Kreis, ja jeder Bezirk erkennbar. Einheimische seien mit den Farben vollkommen vertraut, Fremden gebe man eine Karte mit Provinzen und Kreisen, woraus man die Farben entnehme. Der Knabe hatte eine dunkelrote Mütze, hellrotes Wams und eine dunkelorangefarbige Schärpe. Er sagte, die Farben seien von dunkelrot beginnend nach dem Prisma geordnet und zwar: dunkelrot, hellrot, dunkelorange, hellorange, dunkelgelb usf., dann endlich weiß und schwarz, insgesamt vierzehn Farben. Dann kämen in derselben Ordnung zwei aufeinanderfolgende Farben, als dunkelrot-hellrot, hellrot-dunkelorange, usw. bis zu schwarzrot wieder 14 Farben. Da nun Niederösterreich die erste Provinz des Reiches sei, sei die Kappe dunkelrot und da St. Pölten der zweite Kreis sei, – Wien bilde den ersten, – sei das Wams hellrot, nachdem Tulln der dritte Bezirk im Kreise St. Pölten sei, sei die Schärpe dunkelorangefarbig. So sei der Bezirk außer Zweifel. Das genüge den meisten, aber das letzte Abzeichen zeige sogar die Gemeinde an, nämlich das Band, das von den Schultern flattert.

Da Alles vorbereitet war, luden Zwirner und Dr. Kolb die ganze Menge von Gästen zum gemeinsamen Mahle auf dem großen Wiesenplane vor dem Gemeindepalaste.

Da kamen Kinder, Mädchen und Frauen zur Begrüßung, der Bezirksbeamte hielt eine Ansprache, mit einem Hurra ging’s zu Tische und da fehlte es nicht an Jubel und Trinksprüchen aller Art, wobei vor allen Zwirner gefeiert wurde, dem man zutraute, dass er im Einzelkampfe den Meisterpreis erringen werde. Die erschienenen Ruderer waren alle Meister in der Kunst, wohl trainiert und hatten bei kleineren Wettkämpfen Preise errungen, und nur die fünf tüchtigsten Vereine waren zum Start erschienen. Es sollte das Clubwettfahren von der Eisenbahnbrücke bis Greifenstein gehen, wo die ersten Tribünen errichtet waren, und nach einiger Rast sollten drei Matadore, worunter Zwirner, von der Krümmung, die die Donau bei dem ehemaligen und längst verfallenen Dorfe Höflein beschreibt, bis zur neuen Donaubrücke bei Klosterneuburg um die Wette rudern. Beim Clubruderwettfahren kam es nicht darauf an, welchem Club das erste Boot angehörte, sondern welcher Club im Durchschnitte siegte, was schwierig zu bestimmen war, daher gewiegte Schiedsrichter aufgestellt waren. Sie nahmen übrigens Momentphotographien auf, wodurch die Beurteilung erleichtert wurde.

An vielen Punkten an der Donau waren optische Signale aufgestellt, die sich bis zum Tullner Gemeindepalaste fortpflanzten, um den Verlauf telegraphisch nach St. Pölten und von dort über Wien weiter in die Provinzvororte zu melden; die Provinzvororte gaben die einlaufenden Nachrichten an die Kreise weiter und so fort, so dass man im ganzen Reiche Nachrichten hatte, und hieß es bald: „Graz hat Vorsprung“, dann: „Linz kommt heran“, und „Pest überholt alle“, bis zuletzt Tulln, wie erwartet, von den Schiedsrichtern als Sieger erklärt wurde. Zwirner stieg aus dem Boote und eilte die Treppe der Frauentribüne hinan, um den Seinigen den Frauendank zu bringen, den eine Erzherzogin überreichte.

Aber das Interessanteste stand uns bevor, denn wir wussten, dass der Sieger im Einzelkampfe den Preis aus der Hand der Lori Hochberg empfangen solle, und wir waren froh, dass unser Dampfer das rechte Ufer entlangfuhr, weil wir gerade vor der Tribüne anhalten sollten. Zwirner siegte um zwei Bootlängen und kam vor unseren Augen zur Tribünentreppe, um von Lori einen Kranz von goldenen Lorbeerblättern zu empfangen, wofür ihm die Sitte gestattete, die Hand der krönenden Dame zu küssen. Mit donnerndem Bravorufen von den Booten und Schiffen, der Brücke, die dicht voll Menschen war, den Ufern und Tribünen wurde der Sieger gefeiert, der noch seine Anordnungen wegen vorläufiger Bergung der Boote traf und dann mit den Genossen und uns Begleitern den Zug bestieg, der ihn erwartete.

 

Wir zweifelten nicht, dass der Lorbeerkranz, der übrigens in den Trophäensaal wanderte, für Zwirner mehr bedeute, als nur eben einen Siegespreis.


Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?