Österreich im Jahre 2020

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„Das ist erstaunlich Prinzessin!“, wendete ich mich an diese, die darauf bemerkte: „Ihr dürft mich nicht Prinzessin heißen, denn die Töchter der adeligen Geschlechter gehören nicht dem Adel an und vermählen sich auch niemals mit Adeligen.“ Dabei streifte sie wieder unseren Freund Zwirner mit einem temperamentvollen Blicke, der mir schon mehrmals aufgefallen war. „Nennt mich also Lori Hochberg“, schloss das schöne Mädchen. Lori war eine imposante Erscheinung; lange kastanienbraune Flechten hingen über den Rücken herab, die funkelnden Augen und der schwellende Mund verrieten das zur Liebe geschaffene Weib und als ich jetzt meine Augen auch mit Wohlgefallen auf Zwirner ruhen ließ, ward es mir klar, dass das ein prächtiges Paar geben würde. Zwirner war ein schöner Mann von wahrer Hünengestalt und edler Haltung und nichts deutete auf seinen Beruf, als etwas starke und große Hände, die übrigens heute in Stulphandschuhen staken. Seine Tracht erinnerte an altdeutsche Bilder und war aus kurzgeschorenem Samt von verschiedenen Farben zusammengesetzt; die Beine waren bis zu den Knien mit Gamaschen aus feinem Leder bekleidet und den breitkrempigen Hut zierten Federn von verschiedenem Wildgeflügel.

Auch Zwirner schien seine Augen gerne über die schöne Gestalt Loris gleiten zu lassen, die er zum ersten Male sah. Aber er war durch Loris Benehmen nicht beunruhigt; im Gegenteile schwebte auf seinen Lippen immer ein Anflug von ganz leiser Ironie, die aber nichts Verletzendes hatte.

„Ich hatte noch nicht Zeit“, sagte er, „unsere amerikanischen Freunde über die Stellung unseres Adels, die Umgangsformen in Österreich und über unsere Auffassung von der Gleichheit der Menschen vollständig aufzuklären. Das will ich besorgen und deine Bemerkungen ergänzen. Doch bitte ich dich, liebe Freundin, den Gästen Aufschluss zu geben, welche Besuche heute erwartet werden, die ihnen interessant sein könnten.“

Wir wurden wieder ins Gespräch gezogen und da wir Lori unseren Beifall zu erkennen gaben, dass man in Österreich so verschiedenartige und geschmackvolle Trachten zu Gesicht bekomme, was sie wieder mit einem lächelnden Blicke auf Zwirners Prachtgestalt beantwortete, nahm sie eine Mappe von dem Tischchen, neben welchem sie Platz genommen hatte, und sagte: „Vergleicht nur einmal diese Trachten aus dem 19. Jahrhunderte und das verkrüppelte Menschengeschlecht jener Tage mit unseren heutigen Volkstypen.“ – Zwirner war damit vollkommen vertraut, da ihn seine Studien längst darauf geführt hatten, und er erzählte übrigens, dass man sich damals selbst über die zeitgenössische Tracht lustig machte und dass man die ungeschlachten zylinderförmigen Hüte „Ofenröhren“ nannte und die lächerlich verschnittenen Röcke „Frack“. –

Mittlerweile waren viele Besucher vorgefahren und obwohl alle durch unseren Saal verkehrten, hatte man uns nicht gestört, weil Lori niemand ermunterte, sich uns zu nähern, und die Besucher suchten daher den Fürsten in den nächsten Sälen auf, wo sich lautes Gespräch vernehmen ließ. Als aber der amerikanische Gesandte, ein verdrießlich aussehender Diplomat in lächerlicher Uniform, mit Miss Flower, seiner bleichsüchtigen Tochter, am Arme eintrat, erhob sich Lori, um uns bekannt zu machen. Die Begegnung war nur eine flüchtige und endete nach einigen Worten damit, dass die Flowers weiter pilgerten und wir unsere früheren Sitze wieder einnahmen.

Die Fenster waren geöffnet und eine balsamische Luft strömte von den weitläufigen Gärten herein, über die sich Dämmerung zu verbreiten anfing. Jetzt erklangen die Geigen im Tanzsaale und mit den Worten: „Die Zigeuner“, erhob sich Lori, was Zwirner nicht anders verstehen konnte, als dass er sie zum Tanze führen könne. Während sie seinen Arm nahm, rief sie uns freundlich zu: „Werft einen Blick in den Tanzsaal oder streift durch die Gärten, wir werden nur zum Schein zum Tanze antreten, der an einem Sommerabende nicht ernst genommen werden kann.“

Wir folgten dem schönen Paare und bewunderten den Tanzsaal, der, mit weißem Stuck ausgelegt und ohne Aufdringlichkeit mit Vergoldungen verziert, im elektrischen Lichte strahlte und nicht übermäßig heiß war, weil alle Fenster nach dem Parke offen standen. Wir entzogen uns bald dem Gewühle, um Loris Rate zu folgen und uns in den Gärten zu ergehen, in welchen Glühlichter in den Bäumen und Gesträuchen funkelten, Kaskaden und Springbrunnen plätscherten und einzelne Gruppen von Besuchern plaudernd lustwandelten.

Da wir uns nach dem Schlosse zurückwandten und unter den säulengetragenen Vorbau traten, dessen Boden mit schönem Mosaik, – man nennt das in Österreich Terrazzo – bekleidet war, kamen uns Lori und Zwirner entgegen, die, ein wenig vom Tanze erhitzt, sich noch etwas nähergekommen schienen. Ein vorübergehender junger Freund der Familie wurde gebeten, nachzusehen, ob unser Wagen schon vorgefahren sei, und als er mit der Nachricht zurückkam, der junge Stirner, – so der Name unseres Rosselenkers –, erwarte uns mit Ungeduld, weil die Pferde nicht stillstehen wollten, verabschiedeten wir uns von Lori mit der Bitte, uns dem Fürsten zu empfehlen, dessen Gastfreundschaft wir genossen. „So ist es wohl nicht“, entgegnete Lori lachend, „Herr in diesem Hause sind die Völker Österreichs, aber ich werde den Vater in eurem Namen grüßen.“ Zwirner schüttelte sie herzlich die Hand, nicht ohne ihm lächelnd ins Auge zu blicken, uns winkte sie freundlich zu und schon war sie nach dem Garten verschwunden. Wir stiegen in den Wagen und auf der Heimfahrt in einer köstlichen Sommernacht stellten wir Zwirner zur Rede über sein Verhältnis zu Lori. Er sagte, er habe Lori heute zum ersten Male gesehen, und, da beide unvermählt seien und heiraten könnten, wäre eine Vermählung nur davon abhängig, dass sie sich liebgewännen. „Lori zeigte mir so viel Wohlgefallen, als schicklicherweise geschehen konnte, und ohne solche Aufmunterung würde kein junger Mann es wagen, einem Mädchen seine Liebe zu gestehen. Aber so entzückend ich auch Lori finde, so ist es doch allgemeine Sitte nur langsam sich zu nähern und sich nicht vom ersten Anblicke ganz gefangen nehmen zu lassen. Die Ehe wird bei uns ernst genommen, soviel man auch unverheirateten und verwitweten Leuten durch die Finger sieht. Davon aber ein andermal, denn das Thema können wir heute nicht erschöpfen.“

Eben fuhren wir vor unserem Wohnhause vor und da es schon Mitternacht war und wir statt des Abendbrotes bei Hochberg mit etwas Tee und Aufschnitt waren versorgt worden, gingen wir zu Bette, ohne noch in den Speisesaal zu gehen, wo wir noch Licht sahen.


5

Am anderen Morgen, Samstag, schliefen wir etwas länger und da die Fremdenzimmer in dem Flügel der Wohnhäuser untergebracht sind, in welchem die alten Leute wohnen, welche Ruhe haben wollen, so hörten wir nicht den Schall der Gongs, womit sonst überall Jung und Alt allmorgendlich um 5 Uhr spätestens aus den Federn gejagt wird.

Der Morgen war heiter und wir gingen, nachdem wir das Wohnhaus verlassen hatten, schwimmen, kamen aber schon um 7 Uhr in den Speisesaal, wo ein Dutzend hübscher Mädchen den Dienst versahen und jenen das Frühstück brachten, die sich verspätet hatten. Da wir an Zwirners Tische Platz nehmen wollten, kam ein alter Herr zu uns, nannte sich Dr. Kolb und entbot uns einen Gruß von Freund Zwirner, der schon längst über Feld gefahren sei und uns heute nicht mehr sehen könne, da er abends zu Hochberg wolle und uns eine Wiederholung des Besuches dort nicht zumuten könne.

Während wir uns an das Frühstück machten, sagte Dr. Kolb, er wolle uns Gesellschaft leisten, was der Hauptberuf der alten Herren den Fremden gegenüber sei, und er bäte, aus dem Metropolitananzeiger, der nur für Wien und Umgebung herausgegeben werde, uns zu informieren, was uns von den abendlichen Genüssen am meisten Vergnügen bereiten könne. Er habe gehört, dass wir Geschichtsforscher seien und wenn uns ein halb wissenschaftlicher Vortrag Interesse bieten könne, so empfehle er die Rubrik: „Wissenschaftliche Vorträge“ zu studieren. Der Vorschlag gefiel uns und wir nahmen jeder ein Heft zur Hand, um nach einiger Beratung einen Vortrag des Professors Lueger über Franz Josef den Standhaften und seine Zeit im alten Universitätsgebäude am Franzensring zu wählen. Dr. Kolb zollte dem Vorschlage Beifall und empfahl uns, in seiner Begleitung nach Wien zu fahren und einmal eine erste Rundfahrt zu unternehmen, da wir dieser Stadt viele Tage würden widmen müssen. Da ferners der Vortrag um sieben Uhr abends beginne und kaum vor halb zehn Uhr geschlossen würde, so wolle er uns ein Quartier in der Stadt besorgen, wo wir die Nacht zubringen könnten. Er wolle sich uns ganz widmen und uns am nächsten Morgen, sonntags, zurückbringen. Das war uns angenehm und Dr. Kolb entfernte sich auf kurze Zeit, um bald darauf mit der Nachricht zurückzukommen, Wien sei einer bevorstehenden Regatta wegen überfüllt, und er habe uns daher nicht in den der Universität zunächst gelegenen Quartieren Herberge verschaffen können, aber im Dritten Gumpendorfer Quartier hätte er drei Schlafzimmer belegt. Solche Festlichkeiten lockten immer viele Menschen nach Wien, aber trotzdem würde in den Sommermonaten Platz genug sein, da Hof und Adel, Studenten und Lehrkräfte, ja auch viele Pensionisten fortzögen, um heim zu eilen oder in den Bergen kühle Wohnungen aufzusuchen. Diese Zeit aber benütze man doch wieder, um junge Leute aus allen Teilen des Reiches nach Wien zu bringen. Man halte es für bildend, die Jugend mit der Weltstadt bekannt zu machen; es gebe das auch Gelegenheit, Fleiß zu belohnen und Unfleiß zu bestrafen, da jede Gemeinde einen Teil der zur Wiener Reise bestimmten Altersklasse strafweise ausschließe, und in Vielen werde ein wahrer Feuereifer für die Schule wachgerufen, wenn sie das herrliche Wien zum ersten Mal schauen und hören, dass die besten Schüler an die Hochschule kämen und dann fünf Jahre in der Hauptstadt zubringen könnten.

 

Die Eisenbahn brachte uns bald nach dem Franz-Josefs-Bahnhofe und Dr. Kolb riet uns, die Straßenbahn, und nicht die Stadtbahn zu benützen, die man am Ausgange des 19. Jahrhunderts gebaut, aber dann wieder teilweise verlegt habe, um die Störungen zu beseitigen, welche dadurch in die harmonischen Veduten waren gebracht worden. Wir folgten seinem Rate und bestiegen einen Straßenbahnwagen, der den Weg von dort zum Schottenring, dann im Kreise um den ganzen Ring machte und wieder zu seinem Ausgangspunkte zurückkehrte. Solche Wagen gingen von jedem äußeren Bahnhofe aus, weil sich die Gepflogenheit herausgebildet hatte, dass jeder Ankömmling seinen ersten Besuch mit dieser Rundfahrt einleite; denn es war eine über den ganzen Erdkreis verbreitete Legende, dass man nichts Schöneres sehen könne.

Wir nahmen auf der Imperiale des Wagens Platz, der weder mit Pferden bespannt war, noch von einer barbarischen, qualmenden Straßenlokomotive bewegt, sondern pneumatisch betrieben wurde, indem der neben dem Kutscher angebrachte Windkessel an jeder Haltstelle aus den pneumatischen Röhren mit Druckluft versorgt wurde.

Wir bemerkten, dass die Stadt beinahe aus gleichen Quartieren zusammengesetzt war; sie glichen in ihrer Hauptanlage Tulln und anderen kleinen Gemeinden. Vier große Wohngebäude umschlossen immer einen Palast, der für Verwaltung, Lese- und Speisesäle bestimmt war; dazwischen liefen Gartenanlagen mit Schwimmbassins und nur zwei oder drei Flügel der äußeren Gebäude reichten bis zu den Straßen, die zum großen Teile mit Straßenbahnwagen befahren wurden. Lastwagen fuhren nirgends auf der Straße und Equipagen schossen nur zuweilen an uns vorüber, wie auch einige Radfahrer lautlos vorbeiglitten. Nur die Ringstraße bildete, wie in alter Zeit, eine breite gepflasterte Fläche. Sonst waren überall schmale Trottoirs angebracht und in vielen Straßen, welche von Equipagen gar nicht befahren werden durften, war nur eine ununterbrochene Gartenanlage zu sehen. Es fielen die Straßenbahnschienen, die in die Wiesenplätze gelegt waren und die Schlangenwege kreuzten, kaum auf. Um diesen Betrieb zu ermöglichen, liefen vor den Rädern Schienenräumer einher, welche nicht nur Steinchen auswarfen, sondern auch Gräser und Halme beiseiteschoben. Die Wechsel konnte der Wagenlenker während des Fahrens von seinem Sitze aus stellen, da vor jeder Weiche ein Riegel zwischen den Schienen angebracht war, der durch vom Sitze aus verstellbare, am Wagen angebrachte Bolzen nach rechts oder links geschoben werden konnte.

Als wir in die Ringstraße einbogen, sahen wir uns gegenüber das schöne ehemalige Börsengebäude, von Theophil Hansen erbaut, unverwittert in roter Farbe leuchten und da man schon seit mehr als hundert Jahren dort nicht mehr schacherte, war das Haus in ein Unterrichtsgebäude verwandelt worden, wie das ehemalige Polizeigebäude rechter Hand jetzt als Studentenherberge dient. Dr. Kolb machte uns auf die Balustrade aufmerksam, welche die ehemalige Börse krönt, und sagte, wir hätten bei Leibe nicht zu fürchten, dass die Säulchen brächen und den Vorübergehenden auf die Köpfe fielen, denn man baue in Wien für die Ewigkeit. Er deutete auf das ehemalige Polizeigebäude gegenüber und erzählte, dort stände aus alter Zeit im Hofe ein grün gestrichener Wagen mit Gittern und Zellenwänden, dessen Bestimmung man sich nicht klar machen könne; man vermute, dass er zum Transporte von Tieren gedient habe. Es sei ein Ausschreiben ergangen, dieses historische Rätsel zu lösen. Er belehrte uns übrigens, dass von den Wohngebäuden, die im 19. Jahrhunderte an der Ringstraße standen, nur mehr wenige vorhanden wären, da viele Häuser reicher Bürger längst niedergerissen und öffentliche Gebäude an deren Stelle errichtet worden seien. Eine Ausnahme bildete das Sühnhaus, übrigens ein Stiftungshaus zur Erinnerung an den schrecklichen Brand eines Theaters, das an derselben Stelle stand. Das Sühnhaus ist ein schöner Bau, entworfen von Meister Schmidt, dem Dombaumeister des 19. Jahrhunderts. „Hier seht ihr die Votivkirche, vom Architekten Ferstel entworfen. Dieser Bau wurde vom nachmaligen Kaiser Max, von welchem ihr wohl heute Abend in der Vorlesung hören werdet, gegründet zur Erinnerung an die Errettung des Kaisers Franz Josef, den ein politischer Schwärmer mit Mordwaffen angefallen hatte, und hier steht schon die gleichfalls vom Baumeister Ferstel stammende älteste deutsche Universität dieser Stadt, in der man neben wirklichen Wissenschaften nur mehr Geschichte der Theologie und Geschichte der Jurisprudenz vorträgt, weil diese angeblichen Wissenschaften nur Requisite des Klassenstaates waren. Die Rampe beweist deutlich, dass die Studenten des 19. Jahrhunderts mit Bieren in die Vorlesung fuhren.“

„Wie haltet ihr es jetzt mit der Religion?“, wollte Mr. Forest fragen; aber Dr. Kolb bat uns, ihn nicht zu unterbrechen, weil es gelte, die Wandelbilder zu erläutern.

„Hier links das sogenannte Burgtheater, von Meister Hasenauer, – man nannte diese Herren im verrückten 19. Jahrhunderte alle Barone oder Freiherren. Der junge Mann, der dort hoch oben auf der Mauer sitzt, als wäre er von des Nachbars Garten herübergestiegen, wo er Kirschen gestohlen, ist der Gott Apollo, und da wir zu nahe am Theater vorüberfahren, entgehen euch kostbare Merkwürdigkeiten, die auf dem Dache angebracht sind. Nämlich ein allerliebstes Lusthäuschen, um das sich ein munterer Blasengel dreht, der im Übereifer immer dorthin bläst, wohin ohnedies der Wind zieht. Ferners stehen auf zwei Dachreitern je zwei waghalsige Genien, welche Kränze zum Kaufe auszubieten scheinen, aber nicht herabsteigen, sondern uns hinauflocken wollen. Im Hintergrunde des Parkes rechter Hand steht das ehemalige Rathaus mit dem Reiterbild Franz Josef des Standhaften über dem Portal und dem kupfernen Wächter auf der Turmspitze. Auch vom Gemeinderate und Bürgermeister jener entschwundenen Epoche weiß man nichts mehr. Die Archive aber erzählen wunderliche Dinge über die städtische Verwaltung und die kleinlichen Geschäfte, welche von einer Unzahl von Magistratsräten, Sekretären und Praktikanten besorgt werden mussten. Der Ratssaal ist noch erhalten und die Kastellane zeigen den Sitz, von dem aus Dr. Karl Lueger, ein Ahne unseres Professors, gegen den damaligen Bürgermeister, Dr. Johann Nepomuk Prix, der auch als Baron gestorben sein soll, donnerte, aber vergeblich, denn Dr. Karl Lueger war immer Führer einer Minorität, die er sich unter den verschiedensten Bezeichnungen zusammenzutrommeln wusste. Da er aber weder im Rathause auf den Bürgermeisterstuhl, noch im Abgeordnetenhause, das wir hier sehen, auf die Ministerbank kommen konnte, hat er in alten Tagen alle Mandate eigensinnig von sich gewiesen. – Das Abgeordnetenhaus ist auch von Theophil Hansen erbaut, den ich euch als Erbauer des ehemaligen Börsengebäudes nannte. Im ehemaligen Rathause wohnen heute die obersten Volkstribunen mit ihren Sekretären und das Abgeordnetenhaus dient zuweilen zu parlamentarischen Versammlungen, wenn das Volk über größere technische Projekte nicht durch gemeindeweise Abstimmung entscheiden will und aus jedem Kreise drei Abgeordnete mit Vollmacht entsendet.

Sonst tagen unausgesetzt gelehrte Versammlungen und europäische Kongresse in diesem Bau, weil die Sitzungssäle und Konferenzzimmer dazu geeignet sind. Man erzählt sich übrigens, dass die Sitzungssäle im vorigen Jahrhunderte gänzlich umgebaut werden mussten, weil eine Spezialität dieses Hauses die war, dass man in jenen Sälen sein eigenes Wort nicht verstand, geschweige denn einer längeren Rede hätte folgen können. Auch das ehemalige Abgeordnetenhaus ist von vorzüglichem Material erbaut und ihr müsst nicht glauben, dass die Stufen, die da hinanführen, oder die Postamente etwa dem Wetter nicht trotzen könnten oder gar große Stücke herausfielen und hässliche Löcher entstünden, wenn es friert. Allerdings wird das meiste im Winter in warme Decken gehüllt und mit Brettern bedeckt, was aber auch einen reizenden Anblick gewährt. Der Bau hat auch eine meteorologische Bestimmung, denn inmitten der Marmorbildsäulen, die um den Rand des Daches herumstehen, hat man eine gewaltige Esse angebracht, aus der immer dicker Rauch hervorqualmt, den der Wind der einen oder der anderen Statuenkolonne in den Rücken weht. Daran kann sich der Wiener an den Fingern abzählen, woher der Wind weht, und schlägt der Wind dann um, so steigen die Hauswärter hinauf und machen die Statuen wieder blank. Hier links schimmert durch die Bäume des Volksgartens die Statue des Dichters Grillparzer herüber, etwas sonderbar von einem Ofenschirm begleitet, mit dem man sich aber gerne aussöhnt, wenn man die herrlichen Hautreliefs darauf von Meister Weyr betrachtet. Und nun kommen wir zur Hofburg, in welcher der Kaiser residiert, mit dem Forum, den Museen, und im Hintergrunde, an der Stelle des ehemaligen Hofstallgebäudes, seht ihr den Zentralregierungspalast. Die Museen hat der berühmte Baumeister Semper entworfen und auch teilweise gebaut, den Bau aber nach seinem Tode Meister Hasenauer beendet. Von diesem wahrscheinlich, dessen Phantasie immer das Beste auf den Dächern anzubringen wusste, stammen die großen Kuppeln, die je von vier reizenden Kindern begleitet sind, welche wahrscheinlich die Aufgabe haben, sich zu großen Kuppeln auszuwachsen und dann der Reihe nach einzurücken, wenn die großen einstürzen. Statuen sieht man überall. Entweder sind sie als Säulenheilige auf ungeheuren Postamenten angebracht und legen rühmliche Proben von Schwindelfreiheit ab, oder sie stehen knapp hinter der Dachrinne am Rande der Dächer und sehen neugierig auf die kleinen Leute herunter, welche auf der Straße herumlaufen. Es ist das gewissermaßen ökonomisch, denn man erspart die Tafel, auf welche man zu schreiben pflegt: ‚Man bittet, die Statuen nicht zu berühren und ihnen nicht mit den Schirmen die Nasen abzustoßen.‘ Die Anordnung der Statuen hatte im 19. Jahrhundert offenbar einen militärischen Charakter. Auf dem Abgeordnetenhause sind sie in Linien ausgezogen und man meint, den Major anreiten zu sehen, der mit dem Säbel winkt, der Flügelmann solle das Knie und der dritte Mann dort die rechte Hand hereinnehmen. Bei der Votivkirche stehen die Heiligen und Apostel eingepresst nebeneinander, als gälte es ein Carré zu bilden, um gegen eine berittene Legion Teufel Stand zu halten. Das wird aber, ich zweifle nicht, in den Gesetzen der Schönheit vollkommen begründet sein.

Übrigens, Freunde“, sagte Dr. Kolb lachend, „wir lieben unser Wien und wenn wir einiges daran tadeln, hoffen wir, dass unsere Gäste die Schönheiten nicht übersehen werden, von welchen zu sprechen uns nicht zusteht. Wir haben in Wien zwar eine böse Zunge, aber ein gutes Herz und in bösen Zeiten haben sich die Wiener oft mit einem Scherz über großes Unglück hinweggeholfen.

Wie ihr seht, ist das ganze ungeheure Forum, das früher durch Mauern und ein monumentales Tor abgeteilt war, mit Reiterstatuen und mit den Bildsäulen berühmter Männer besetzt, die im Wettstreit ihre Nebenbuhler besiegt und erste Preise davongetragen haben. Es regt das nicht wenig den Ehrgeiz an. Lasset euch nicht die herrlichen und weltberühmten Mosaiken entgehen, die die ganze Fläche dieses Riesenraumes durchziehen und an welchen fünfzig Jahre gearbeitet wurde.“

Nun zeigte uns Dr. Kolb auf einem polychromen Kunstblatte die Abbildungen der Mosaiken, die wir später auf unserer Fußwanderung näher in Augenschein nehmen sollten, und wir fuhren an der alten Oper, einem nicht sehr geschmackvollen großen Baue, und vielen neu errichteten öffentlichen Bauten vorbei, die einen viel großartigeren Charakter zeigten, als die Bauten der älteren Periode, dann den Donaukanal entlang wieder zur alten Börse zurück, um nun auszusteigen und im nächstgelegenen Quartier, wo wir uns legitimierten, das zweite Frühstück einzunehmen. Dann pilgerten wir zu Fuß nach der Votivkirche, besahen den Hofraum der Universität mit den zahllosen Standbildern und Büsten berühmter Lehrer, erfreuten uns im Rathausparke an den Spielen der Kinder, die da zu tollen pflegen, betraten das alte Rathaus und den Sitzungssaal, wo auf dem Pulte des Dr. Lueger die letzte Rede dieses Mannes, der sich seinerzeit als Volksredner und durch unermüdliche parlamentarische Tätigkeit großes Ansehen erworben hatte, angeheftet zu lesen war, und hörten in einem Beratungssaale des alten Abgeordnetenhauses von der Galerie aus den Verhandlungen eines hygienischen Kongresses zu, zu welchem einem Anschlage zufolge nur Männer Zutritt hatten, um dann das Forum in Augenschein zu nehmen. Dr. Kolb führte uns vor eine in der Mitte des Forums aufgestellte im Sonnenlichte spiegelnde Säule und sagte: „Das ist die Schandsäule der begrabenen Wirtschaftsordnung, die auf Privatbesitz und Handel aufgebaut war.“ – Diese Säule hat einen Durchmesser von einem Meter1 und eine Höhe von 9,23475 Meter und ist aus purem Golde. Die Inschrift lautet:

 

„Diesen wertlosen Goldklumpen hat Österreich im Jahre 1893 aus Frankreich und England bezogen und sich dafür zu einem Jahrestribut an Nahrungsmitteln für 50.000 Menschen verpflichtet.

Diese Säule, deren Bewachung im 19. Jahrhunderte eine Armee erfordert hätte, steht unangefochten und unbewacht seit dem Jahre 1943 auf dieser Stelle. Am Fuße dieser Säule hat jeder Regent bei Antritt der Regierung vor versammeltem Volke den Schwur zu leisten, dass er die Rückkehr zur alten Wirtschaftsordnung verhindern und nach keinem persönlichen Eigentume streben wolle.“

Wir wunderten uns, dass man das Gold nicht doch ausmünze, um Waren aus Amerika oder China zu beziehen, wo noch Gold im internationalen Handel verwendet wird, aber Dr. Kolb belehrte uns darüber, dass nunmehr auch das Gold, wie ehemals das Silber nur in beschränktem Maße ausgemünzt werde und demnach auch das Gold als Metall keinen erheblichen Wert mehr habe. Würden aber die europäischen Staaten ihre alten Goldvorräte auf den Markt bringen, so müsste das Metall auch im Welthandel auf ein Fünftel herabsinken. Man behalte sich also vor, das vorhandene Gold zu Schmuck und Geräten zu verarbeiten, aber vorläufig tue es bessere Dienste in der greifbaren Demonstrierung seiner Wertlosigkeit.

Es war nahezu 5 Uhr, als wir mit dieser Besichtigung zu Ende gekommen waren, und als wir den Straßenbahnwagen besteigen wollten, händigte uns ein Fremdenführer, deren es überall auf der Straße gibt und die angesehene Leute sind, welche in Pension stehen und für die Erlaubnisse, sich in Wien niederzulassen, kleine Nebendienste verrichten, je ein Prachtalbum mit der Aufschrift: „Erinnerung an Wien“ ein, in welchem herrliche Bilder aus Wien, besonders die polychromen Darstellungen der Mosaiken des Forums, enthalten sind. Auf dem Album war der Tag unseres dortigen Besuches eingetragen und mit der Unterschrift der obersten Staatsverwaltung beglaubigt, dass dieses Album dem fremden Gaste, – dessen Namen einzutragen freistand, – am Tage seines Besuches auf dem Forum war ausgehändigt worden.

Wir fuhren in unser Quartier, wo wir viele Amerikaner trafen, speisten, badeten und dann ein wenig auf unseren Zimmern ruhten, um nach halb sieben Uhr wieder den Waggon zu besteigen und nach der alten Universität zu fahren. Wir kamen durch die berühmte Säulenhalle, welche glänzend erleuchtet war, über die rechtsseitige Stiege mit den breiten Absätzen und bronzenen Kandelabern in einen Korridor, wo Fürst Hochberg grüßend an uns vorüberhuschte, der die venia legendi hatte und von Königstetten hereingefahren war, um einen Vortrag über Buddhaismus zu halten, und lenkten unsere Schritte nach dem Saale XXXIX, wohin eben viele Besucher strömten. Die Sitzplätze, etwa hundert, füllten sich rasch und lautlos, denn es war keine Vorlesung für Studierende, sondern für das große Publikum, und mit dem Schlage sieben Uhr trat Professor Lueger eilends ein und bestieg sein Pult an der Schmalwand, wohin scharfes Licht fiel, während im selben Augenblicke der Saal sich verfinsterte.

Der Professor begann:

„Geehrte Zuhörer! Ich habe heute einen Vortrag über Franz Josef den Standhaften zu halten, der über 70 Jahre, vom Jahre 1848 bis tief in das 20. Jahrhundert hinein, regierte und als 18jähriger Jüngling die Regierung unseres Reiches übernahm. Er war vom besten Willen beseelt, ritterlich gesinnt und, da er das Reich in größter Unordnung vorfand und selbes aus einer beinahe mittelalterlichen Verfassung in eine ganz veränderte Gestaltung hinüberzuführen hatte, nahm er den Wahlspruch an: ‚Viribus unitis.‘ – Wie ihr sehen werdet, behielt er, was er sich vorgesetzt hatte, zwar unverrückt im Auge, aber das Ziel schien lange unerreichbar und viele verzweifelten an dem Unternehmen, mitten unter Staaten, die nach dem damaligen Zuge der Zeit sich national abrundeten, ein Reich zu kitten, das ein Endchen Italien, ein Stück Deutschland und ein großes Stück Slavien umfasste und ein ugrofinnisches Reich eingeschlossen umfing, welches zwar keine zentrifugale Tendenz haben konnte, aber allen Verschmelzungsversuchen einen störrischen Nacken entgegensetzte und auf seinem Territorium Deutsche und Slaven minorisierte, wie man damals ironisch sagte, nämlich den Willen der geringeren Zahl einer uneinigen Mehrheit auf konstitutionellem Wege tyrannisch aufzwang. Wir lachen heute über die politischen Winkelzüge von damals, da wir gelernt haben, über die nationalen Unterschiede hinwegzukommen; aber es ist ein psychologisch merkwürdiges Bild, dieser zähe und gleichmütige Fürst im Kampfe mit so vielen Nationen und Natiönchen, die alle nach der Hegemonie trachteten oder eifersüchtig darauf waren, dem Übergewichte anderer zu entgehen, und wie der Schiffer oft, um die Ladung zu retten, Ballast auswerfen muss, hat Kaiser Franz Josef I., der wegen seines Sieges über unglaubliche Schwierigkeiten nach seinem Tode mit dem geschichtlichen Namen ‚der Standhafte‘ ausgezeichnet wurde, oft Opfer bringen müssen, nicht ohne mehr als einmal am Rande von Klippen in stürmischer Zeit vorüberzusegeln, die ihm das Steuer brachen, während die Masten über Bord fielen.“

Nach dieser Einleitung entwickelte der Professor die Geschichte Österreichs bis zum Regierungsantritte des Kaisers Franz Ferdinand, der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein regierte und der vierte Vorfahr des gegenwärtig regierenden und im Jahre 1980 geborenen Kaisers Rudolf Max war. Der Redner schilderte den Sieg Franz Josefs über die italienische und ungarische Insurrektion und den vorübergehenden Sieg über die Politik der Hohenzollern, ging dann zur Vermählung des Kaisers Franz Josef mit der bairischen Prinzessin Elisabet über, zergliederte die Politik des Ministers Bach, der zuerst vergöttert wurde und nach seinem Sturze in völlige Vergessenheit geriet, zeigte die Oktroyierung, dann Aufhebung der ersten Gesamtverfassung, den grollenden Widerstand der ungarischen Nation, erwähnte den Mordanfall des Ungarn Libeny, der Anlass bot, die Entstehung der nahegelegenen Votivkirche zu erwähnen, die man vom Hörsaale aus im Abendlicht träumerisch stehen sah, und sagte dann, dass die Regierung bis zum Jahre 1859 erfolgreich schien, als Sardinien im Vereine mit Frankreich, das der verschmitzte Napoleon III. regierte, in Waffen aufstand und Kaiser Franz Josef, nachdem er mit der Schlacht bei Solferino den Feldzug verloren glaubte, mit Verlust einer Provinz Frieden schloss. Wir hörten dann die ersten Versuche schildern, zu konstitutionellen Formen wirklich überzugehen, den Trotz der Ungarn, die ihre alte Sonderverfassung begehrten, die Sistierung der Verfassung, den unglücklichen Feldzug gegen Italien und Preußen und dann wieder die erneuerte Aufnahme der bis dahin erfolglosen Bestrebungen. Daran knüpften sich einige höchst dramatische Episoden aus dem Leben des Kaisers und aus der Geschichte seiner Familie, die Verbrennung einer Prinzessin aus der Familie des Erzherzogs Albrecht, das verunglückte Unternehmen des Erzherzogs Ferdinand Max, der auszog, ein Reich in Amerika zu gründen, und, als Aufwiegler verurteilt, bei Queretaro den Ehrgeiz mit dem Leben bezahlte, die Figur der Kaiserin Charlotte, welche ihr Leben im Wahnsinn endete, den plötzlichen und nie ganz aufgeklärten Tod des hoffnungsvollen Kronprinzen Rudolf, wodurch der Kaiser um den einzigen direkten männlichen Erben gebracht wurde, und wir sahen den berühmten Habsburger unter all diesen Stürmen ungebrochen auf dem hin- und hergeworfenen Schiffe ausharren, über seiner Pflicht seines unermesslichen persönlichen Leids vergessend, bis ihn neue Keulenschläge des Schicksals trafen, als er, großmütig seinen nicht schuldlosen Gegnern die Hand zum Bunde reichend, in den fürchterlichsten Krieg verwickelt wurde, den die Welt gesehen, und wie er, obwohl er am Schlusse wieder siegreich seine Stellung behauptete, mit blutendem Herzen sehen musste, wie russische Reiterscharen im gesegneten Österreich hausten, ganze Provinzen verwüstet wurden, rauchende Trümmer ganz Polen und halb Ungarn bedeckten und die Bevölkerung des eben wieder aufblühenden Reiches dezimiert wurde, so dass Österreich erst zu Anfang des 21. Jahrhunderts wieder die Bevölkerungsziffer vom Jahre 1890 erreichte. Während dieses letzten Sturmes, der auch Deutschland, Frankreich und Italien an den Rand des Abgrundes brachte und die Torheit der Österreich feindlichen Politik ein zweites Mal erwies, war Österreich so erschöpft worden, dass die alte Gesellschaftsordnung sich nicht mehr halten ließ und eine neue eingeleitet werden musste, die dem Staate unerschöpfliche Hilfsquellen eröffnete, weil sie dem Selbsterhaltungstriebe der Staaten alle jene wirtschaftliche Macht verlieh, welche vordem in den Händen einer tollen Plutokratie dazu diente, kindische Privatlaunen zu befriedigen.