Umverteilung neu

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Ein neuer Weltentwurf

Für die Scholastik ist Aristoteles der Spiritus Rector eines Versuchs, die Welt der christlichen Religion entsprechend zu ordnen, gleichzeitig aber auch der Kirche einen Weg zu einem gewissen „ökonomischen Realismus“ zu ebnen, der sich den sozialen Gegebenheiten der Welt anzupassen versteht. Doch diese Ansicht findet ab dem späten 15. Jahrhundert eine mächtige Gegnerschaft: jene der ersten Universalgelehrten der Renaissance. Sie fühlen sich als Vertreter eines neuen Menschenbildes, das nichts mehr mit jenem des Mittelalters zu tun haben will.

Ihr Ziel ist es nicht mehr, eine theologisch und philosophisch austarierte Form gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erreichen. Vielmehr soll nun der Mensch und die Kraft seines Geistes die Existenz alleine bestimmen. So gesehen gibt es nicht nur die kopernikanische Wende, sondern auch eine anthropozentrische. Gott wird von den Kathedern der Wissenschaft auf die Kirchenkanzeln verbannt, die Scholastik und mit ihr Aristoteles kommen in Verruf. Mit drastischen Folgen für die Ökonomie, wie wir gleich sehen werden.

Auf einem Altarbild des Brügger Malers Hans Memling aus dem Jahr 1471 zelebriert die alte Zeit mittelalterlichen Glaubens ihre letzte künstlerische Blüte. Zu sehen ist eine Szene aus dem Jüngsten Gericht. Memling stellt die in der Offenbarung des Johannes geschilderte Wägung der Seelen dar. Der Erzengel Michael, überlebensgroß abgebildet in goldenem Harnisch und schwarzem Cape, wägt die aus ihren Gräbern erweckten Toten auf einer ehernen Waage, die über Rettung oder ewige Verdammnis entscheidet. Auch der Stifter des Altarbildes, der Bankier Angelo Tani, ist auf der Retabel verewigt. Er kniet innig betend auf einer der Schalen und wird der Rettung für würdig befunden, während andere Seelen schreiend und klagend den Schatten der Hölle anheimfallen. Der dargestellte Tani war im wirklichen Leben der Leiter der Medici-Bank in London.

Das Bild zeigt noch den angstvollen Respekt der Kaufleute vor dem Jüngsten Gericht. Sie wissen um ihre prekäre Lage, steht doch auf Wucher und Zinsnahme ewige Verdammnis. Viele der Reichen stiften deshalb vor ihrem Tod ihr Vermögen der Kirche oder den Armen – als Teil ihrer tätigen Reue. Das Diesseits ist in dieser Zeit also noch aufs Engste mit dem Jenseits verbunden.

Nach dem 15. Jahrhundert erlischt die Tradition der apokalyptischen Altarbilder. Die Letztverantwortung vor dem Schöpfer verblasst vor der menschlichen Selbstbehauptung, die nun Einzug hält.

Die philosophische Wende sucht und findet auch ein neues geistiges Aushängeschild: Platon. Schließlich war er es doch gewesen, der eine Transformation des Menschen zum Besseren durch die Anschau der ewigen Gesetzlichkeiten zum Prinzip erhoben hatte. War man diesen ewigen Gesetzen nicht gerade selbst auf der Spur? Setzte nicht Platon ein pythagoreisches, streng mathematisches Ordnungsprinzip, das geradezu maßgeschneidert war für die Erschaffung eines wissenschaftlichen Menschenbildes?63

Und noch etwas hatte Platon ersonnen: eine Utopie von der perfekten menschlichen Gesellschaft. Sein Entwurf vom idealen Staat füllt jenes Sinnvakuum, das der verlorene Jenseitsglaube zurückgelassen hat. Das Paradies muss nun nicht länger in einer Zeit nach dem Tod gesucht werden. Der Mensch kann im Hier und Jetzt sein Glück finden. Er wird sich selbst zum Erfüller der Vollendung.

Dies ist ein entscheidender Schritt: In der Scholastik versuchten die Lehrer, die Realität anzunehmen und als göttlichen Plan zu interpretieren. Nun aber wird das gemeinschaftliche Leben nach einer Idee geformt.

Die Wirklichkeit der Welt aber sträubt sich gerne gegen Utopien, Logik und System. Historische Konsequenz: In vielen Fällen zogen die Erfinder der Staats- und Gesellschaftsutopien aus der Unvereinbarkeit mit der Realität nicht die Konsequenz, sich der Welt anzupassen. Sie ignorierten vielmehr die Wirklichkeit und damit auch eines der wichtigsten Axiome der Geschichte: Ideen können geleugnet werden, aber die Realität zu leugnen, endet fatal.

Platons Utopie vom Idealstaat wird jedenfalls ab dem 16. Jahrhundert zum Vorbild für zahllose Projekte und Fantasien von einer idealen Gesellschaft. Die erste unter ihnen, die wie kaum eine andere ihre Spuren in der Geistesgeschichte hinterlassen hat, ist jene von der Insel Utopia, und ihr Verfasser ist kein Geringerer als der spätere Lordkanzler des englischen Königs Heinrich VIII.: Thomas Morus. Er malt als erster Vertreter der Neuzeit einen sozialistischen Gesellschaftsentwurf samt Kollektivwirtschaftsmodell.

Utopias blühender Sozialismus

Man kann sich die Zeit des Thomas Morus als eine Epoche extremer Armut und extremen Reichtums vorstellen. Es ist die Zeit der Textilmanufakturen, welche die Regionen Südenglands und Flanderns in einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand taucht, besser gesagt einige wenige seiner Bewohner. Die Textilindustrie braucht vor allem eines: Wolle. England verfügt über satte grüne Weiden und bald auch über Schafe, hunderttausende davon. Denn die Grundbesitzer, ob adeliger oder kirchlicher Natur, allesamt satt und übersättigt, wollen ebenso reich sein wie die italienischen Bankiers in London und die Brüsseler Tuchhändler. Was aber tun, wenn einem nicht technische Erfindungen helfen? Man stellt bereit, was da ist: Land für Schafe. Zehntausende an Bauern verpachtete Grundstücke werden nun als Weiden eingehegt, ganze Dorfschaften vertrieben und die Gebäude geschleift. Nun wächst kein Getreide mehr auf den Feldern. Die Vertriebenen hungern und bringen sich mit Betteln und Stehlen durchs Leben oder – wie Karl Marx nachzuweisen versucht – fallen den ersten Manufakturen Englands als leibeigene Arbeiter zum Opfer.64

Aus wirtschaftlicher Perspektive weist dieses Unternehmertum das Gegenteil von dem auf, was der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter als tendenziell „heroisch“ im Sinne des Fortschritts beschreibt. Es schafft keinen Mehrwert durch Risiko und Investition, sondern bloß den Rückschritt der Allgemeinheit durch die Konzentration von Boden und Kapital in den Händen weniger. England wird auf diese Weise einem Prozess unterworfen, den wir heute aus Entwicklungsländern kennen: Es hat die Rolle des Rohstofflieferanten.

Diese Fährnisse also umgeben den jungen Thomas Morus, der 1477 in London geboren wird. Morus ist nicht nur Jurist und Theologe, sondern bald auch Universalist – ein Gelehrter, der in ganz Europa von sich reden macht und mit den berühmtesten Professoren seiner Zeit in Verbindung steht. Dabei soll er nach einer Schilderung des Erasmus von Rotterdam ganz bescheiden geblieben sein. Nichts sei ihm so sehr verhasst gewesen als Schmuck und Luxus, sein Habit sei stets der schlichte Mantel gewesen und auch sonst trank er Wasser, wo andere Wein nahmen, und zog ein Stück Brot lukullischen Genüssen vor. Solche Eigenschaften riechen förmlich nach einem menschenfeindlichen Asketen, doch das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein. Erasmus schwärmt von der natürlichen Heiterkeit und Freundlichkeit seines Kollegen, die sich in Witz und Charme niederschlugen.

Im Alter von 18 Jahren hält Morus Vorlesungen über den „Gottesstaat“ des Augustinus, so glänzend und beredt, dass die Fama des Unterhausabgeordneten bis zum Hof des Königs vordringt. Heinrich VIII., ein impulsiver, aber höchst begabter und interessierter König, hält viel auf Wissen. Für die Humanisten seiner Zeit ist Heinrich der Hoffnungsträger unter Europas Herrschern. Und so kommt es, dass Thomas Morus, der Bescheidene mit dem genialen Kopf, an den Hof berufen wird, wo er dank seiner Umsicht 1529 zum Lordkanzler, dem einflussreichsten Ratgeber des Königs, bestellt wird. Das Glück hält allerdings nur so lange wie Heinrichs eheliche Treue zu Katharina von Aragon: exakt drei Jahre. Der König will die Ehe annullieren lassen, doch Morus verweigert die Zustimmung – und später auch die Unterzeichnung der Suprematsakte, mit der Heinrich die Loslösung von der englischen katholischen Kirche beschließt, um eine neue Buhle ehelichen zu können. Nach Kerker und Schauprozess wird Morus am 1. Juli 1535 enthauptet.

Schon 1516 ist Morus’ Erzählung über eine ideale menschliche Gesellschaft erschienen: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (kurz: Utopia). Auf dieser erdachten Insel ist so ziemlich alles verboten, was die soziale Umwelt von Thomas Morus für primäre Erfolgsmerkmale hält. Sie ist frei von aller „Raffsucht und Stolz“, denen die Übel der Menschheit entspringen, wie Morus seinen Erzähler Raphael Hythlodaeus berichten lässt.

Gleich zu Beginn des Werkes hält Hythlodaeus moralisches Gericht über die Missstände der Zeit: „Was anderes züchtet ihr, als Diebe, um sie dann zu hängen?“ Die europäischen Staaten seien eine „Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen“. „Es genügt ihnen nicht, der Allgemeinheit bei ihrem müßigen und üppigen Leben nichts zu nützen; nein, jetzt nehmen sie dem Pflug alles Land weg, hegen alles als Weide ein, tragen Gehöfte ab und zerstören Dörfer. […] Damit also ein einziger Prasser, vergleichbar einem unersättlichen Vampir, einige tausend Joch Land aneinanderreihen und mit einer ununterbrochenen Einfriedigung absperren kann, werden die Pächter verjagt; andern raubt man sogar noch ihre Habseligkeiten, indem man sie übers Ohr haut oder kurzerhand beraubt.“65

 

Die Hoffart, so der Erzähler, wirke immer durch das Privateigentum, die Sucht nach Reichtum habe massenhafte Armut und Arbeitslosigkeit geschaffen, die durch willkürlich steigende Preise noch geschürt werden. Die Preise aber würden durch Absprache unter einzelnen Produzenten zum Nachteil der Gesellschaft hoch gehalten. Morus nennt das ein Oligopol und beschreibt damit einen bis heute wunden Punkt jeder Marktwirtschaft: „So hat die skrupellose Gewinnsucht einiger weniger in Unheil verwandelt, was uns bisher ein besonderes Glück schien.“66

Dabei fehlt eine wichtige psychologische Begründung für die Missstände nicht: „Habsucht und Raubgier stammt bei allen Lebewesen aus der Angst vor der Entbehrung, beim Menschen allein auch noch aus der Großmannssucht, die sich darauf etwas einbildet, durch Schaustellung überflüssigen Besitzes andere auszustechen.67

Ganz anders ist da Utopia – eine riesige Haus- und Tauschwirtschaft, die sich in ideal-platonischer Weise weder vorwärts noch krisenhaft rückwärts entwickelt, eine vollkommen statische Ökonomie. Die Utopier leben vom Ertrag ihrer Felder und ihrer Hände Arbeit – und nur davon. Es gibt kaum Außenhandel (und wenn doch, so ist die Bilanz stets positiv), keine technische Weiterentwicklung (alle Werkzeuge werden nach alter Tradition hergestellt). Wo aber alles stabil und selbst der Fortschritt ausgeschlossen ist, dort bedarf man auch des wichtigsten Tauschmittels nicht: des Geldes.

Gold und andere Edelmetalle haben auf Utopia allein die Funktion, den Überschuss, den die Gesellschaft erwirtschaftet, zu horten und damit im Bedarfsfall die Söldnertruppen für einen eventuellen Krieg zu bezahlen. Der Staatsgoldschatz ist nicht zentral untergebracht, sondern wird zu täglichen Gebrauchsgegenständen gegossen und an die Haushalte verteilt – beispielsweise in Form güldener Nachttöpfe. Was man als Pissoir verwendet, erfreut sich folgerichtig auch sonst keiner gesteigerten Wertschätzung: „Die Utopier sorgen auf jede Art dafür, dass bei ihnen Gold und Silber im Verruf stehen, und während bei anderen Völkern der Verlust dieser Metalle nicht weniger weh tut, als wenn man einem die Eingeweide herausrisse, würde bei den Utopiern kein Mensch auch nur einen Heller einzubüßen glauben, wenn einmal die Umstände erfordern, alles Gold außer Landes zu geben.“68

Diese rigide Erziehung zur Prunkverachtung zeigt Wirkung in diplomatischen Eklats. Als Gesandte aus fremden Staaten kommen, um den Utopiern zu beweisen, wie reich ihre Heimatländer seien, ernten sie mit ihren prachtvollen Gewändern nur Hohn und Verachtung. Die Utopier verstehen nämlich nicht, „wie ein Mensch, der doch einen Stern oder auch die Sonne selbst anzusehen Gelegenheit hat, an dem stumpfen Schimmer eines kleinen Edelsteins Gefallen finden mag, oder wie einer so verrückt sein kann, sich wegen eines feiner gesponnenen Wollfadens vornehmer zu dünken, wenn doch diese Wolle vorher ein Schaf getragen hat, das dabei gar nichts anderes war als ein echtes, dummes Schaf“.69

Feinen Stoff und Reichtum braucht es also nicht auf Utopia. Die Insel unterliegt einer umfassenden Planwirtschaft, die jedem das Notwendige gibt. Die Verteilung der Güter funktioniert über Kommunalmärkte. In riesigen Hallen werden zu bestimmten Tagen alle erwirtschafteten Güter eingebracht. Und dann regiert das Gemeineigentum: „Zunächst wird festgestellt, was ein jeder Ort im Überfluss besitzt und was umgekehrt irgendwo schlecht geraten ist; dann behebt man sofort mit dem Überschuss des einen den Mangel des anderen. Die Städte besorgen diesen Ausgleich ohne Entschädigung. So ist die ganze Insel wie eine einzige Familie.“70 Moderne Kritiker finden allerdings, Utopia gleiche mehr einem Straflager als einem Paradies: Es herrscht ein allgemeines Verbot der Diskussion über Politik, Verstöße dagegen werden streng bestraft. Dazu gibt es Arbeitszwang: Alle sind in den ihnen zugewiesenen Berufen tätig, unter den wachsamen Augen von Aufsehern, den „Syphogranten“: „Die hauptsächliche Aufgabe des Syphogranten ist es, scharf aufzupassen, dass ja kein Mensch faulenzend herumsitzt, sondern dass jeder seinem Beruf fleißig nachgeht.“ Alexander Solschenizyn nimmt darauf explizit in seinem 1973 veröffentlichten Archipel Gulag Bezug: „Arbeitslager sind nichts neues. Thomas Morus hat sie bereits erdacht.“ Eine weitere drakonisch anmutende Politik ist die erzwungene Auswanderung. Sollte eine Stadt über Gebühr wachsen, werden die Bewohner einfach in Kolonien ans Festland verschifft.

Es scheint, als habe Morus seine von Platon entlehnte Gesellschaftsfantasie trotz ihrer Strenge in vollsten Zügen genossen. An seinen Freund Erasmus schreibt er verzückt: „Ich spiegle mir unentwegt vor, meine Utopier hätten mich zu ihrem dauernden Regenten erhoben. Ja, ich sehe mich schon schreiten mit jenem Diadem aus Feldfrüchten gekrönt, Aufmerksamkeit erregend in meiner Franziskanerkutte.“

Utopia ist eines der wirkungsvollsten literarischen Werke der ökonomischen Geschichte. Selbst jene, die es verachten, zieht es am Ende noch in seinen Bann. Karl Marx und Friedrich Engels beispielsweise: Sie sind in ihren Schriften voll Häme gegen jede Form des „utopischen Sozialismus“, der sich durch mangelnde Wissenschaftlichkeit lächerlich mache. Doch am Ende stand gerade auch in ihrer Lehre der ebenso utopische, edle, solidarische Mensch.71 Tatsächlich gebar die gelebte Form des realen Sozialismus von der Sowjetunion bis China und Kambodscha gleich mehrere erschreckende Parallelen zu Utopia: Gemeinwirtschaft und kollektivistische Organisation, Abgrenzung gegen andere Staatsformen, Zwangsumsiedelungen, Zensur, Bestrafung abweichender Individuen, Einheitskleidung.

Selbst die Fantasien von Morus über die goldenen Nachttöpfe haben Eingang in die Glücksverheißungen der Architekten der Russischen Revolution gefunden. Wie heißt es doch bei Lenin: „Wenn wir gesiegt haben, dann werden wir, glaube ich, in den Straßen der größten Städte der Welt öffentliche Bedürfnisanstalten aus Gold bauen.“

Damit sind wir eigentlich schon mitten in der Betrachtung der wichtigsten idealistischen Modelle von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Erfinder wollen ihre Spielarten von „Utopia“ ab dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert realisieren. Dass sich die Träume des Thomas Morus gerade 300 Jahre nach ihrer ersten Publikation so massiv Bahn brechen, hängt aber mit einer Umwälzung der Gesellschaft zusammen, die keinen Stein der alten Ordnung auf dem anderen lässt: der industriellen Revolution.


Das goldene Zeitalter

Was hätte doch das 19. Jahrhundert für ein durch und durch großartiges Zeitalter sein können! Wissenschaft und Technik potenzieren alles bisher Dagewesene: Chemie, Elektrotechnik, Elektrolyse, Motorantrieb, Wärmekraft, Fotografie, Telegrafie, Medizin, Chromosomenlehre, Röntgenstrahlung, Quantenphysik, Statistik – der Fortschritt scheint grenzenlos. Kohlebergbau und Stahlindustrie verbreiten sich über ganz Europa, die Eisenbahn trägt die Moderne in alle Gegenden des Kontinents. Das Schienennetz wird innerhalb dieses Jahrhunderts von 2.000 auf 200.000 Kilometer ausgebaut.72 In den wachsenden Städten erheben sich die Kathedralen ihrer Zeit: Bahnhöfe und Fabrikshallen.

Die Philosophie des neuen Zeitalters macht sich mit Auguste Comtes Positivismus an die Ablöse der Metaphysik durch die Wissenschaften. Marie Jean de Condorcet ruft die „Société Parfaite“ aus. Hegels Weltgeist durchwaltet das menschliche Schaffen und über allem schwebt mäßigend Kants kategorischer Imperativ.

Doch welch hässliche Schatten die schöne neue Welt verdunkeln. Die Bevölkerung wächst sprunghaft an (allein in England verdoppelt sie sich von 1800 bis 1850 auf 21 Millionen), und die erste landwirtschaftliche Industrialisierung treibt die Massen vom Land an die Peripherie der großen Städte und dort direkt ins Elend. Die Arbeiter bekommen von den Fabriksherren nicht viel mehr, als sie zum Überleben in unmenschlicher Schichtarbeit unbedingt brauchen. Dazu erschüttern Krisen und Börsencrashs die Volkswirtschaften – im Schnitt alle zehn Jahre. Frankreich zählt in diesem Jahrhundert 15 Bankkrisen, Großbritannien insgesamt neun. Insgesamt 34-mal müssen sich im 19. Jahrhundert europäische Staaten für zahlungsunfähig erklären.73

Zusammenbrüche ganzer Industriezweige, Bankrotte, Betriebsstilllegungen und Massenarbeitslosigkeit sind die Folgen. Die unerträglichen Lebensumstände der Arbeiterschaft führen in ganz Europa immer wieder zu lokalen Aufständen, Streiks und blutigen Revolten. Deutschland wird von 26 großen Arbeitskämpfen heimgesucht. Nach einem Aufstand der schlesischen Weber mit hunderten Verletzten und dutzenden Toten fasst Heinrich Heine die Stimmung seiner Zeit in bittere Reime.74

Im düstern Auge keine Träne

Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:

„Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,

Wir weben hinein den dreifachen Fluch!

Wir weben! Wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben,

Zu dem wir gebetet mit kindlichem Glauben;

Wir haben vergebens gehofft und geharrt,

Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt.

Wir weben! Wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,

Den unser Elend nicht konnte erweichen,

Der uns den letzten Groschen erpresst,

Und uns wie Hunde erschießen lässt!

Wir weben! Wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,

Wo nur gedeihen Lüg und Schande,

Wo nur Verwesung und Totengeruch –

Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch!

Wir weben! Wir weben!“

In Frankreich ist Lyon Schauplatz mehrerer blutiger Aufstände der Seidenweber. Ihre Löhne waren innerhalb weniger Jahre um mehr als 90 Prozent gefallen. Wie in Deutschland werden die Revolten von der Armee niedergeschlagen, insgesamt 1.200 Arbeiter kommen dabei ums Leben, mehr als zehntausend enden nach einem Monsterprozess in Paris auf Galeeren oder werden deportiert.75

In Großbritannien schließlich, dem Musterland der industriellen Revolution, kommt es zu insgesamt 15 umfassenden Aufständen, von denen die „Swing Riots“ in Berkshire, Buckinghamshire, Dorset, Wiltshire und Hampshire in die Geschichte eingehen – weniger aufgrund ihrer Anliegen als vielmehr wegen der Brutalität, mit der sie unterdrückt werden. Mehrere hundert Aufständische werden abgeurteilt und nach Australien gebracht oder gehängt.

An den Zuständen ändern die Unruhen zunächst wenig bis gar nichts. Hier ein Auszug aus einer Protestschrift des englischen Sozialreformers John Fielden76 zur Lage der Kinderarbeit in der Textilindustrie: „Es war das Interesse dieser Unternehmer, die Kinder aufs Äußerste abzuarbeiten, denn ihre Zahlung stand im Verhältnis zu ihrem Produktquantum, das aus dem Kind erpresst werden konnte. Sie wurden zu Tode gehetzt durch Arbeitsexzesse […] sie wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raffinement von Grausamkeit.“

Der Ökonom und Kunsthistoriker John Ruskin (1819 – 1900) prangert die Perversion des Fortschritts an: „Unsere Städte sind voller Spinnmaschinen, aber die Menschen haben keine Kleidung. Wir haben jedes Blatt unseres Waldes mit Kohlestaub bedeckt, aber die Menschen sterben vor Kälte.“ Die Kunst des Reichtums karikiert er als „Kunst zu bewerkstelligen, dass unsere Mitmenschen weniger haben als wir, genau ausgedrückt ist es: die Kunst, das höchste Maß von Ungleichheit zu unseren Gunsten zu schaffen“.77 Nur um den Zeitgeist der damals herrschenden Elite zu erläutern, soll hier ein ungenierter Verteidiger des Systems zitiert werden, der schottische Industrielle und Polizeistratege Patrick Colquhoun (1745 – 1820): „Armut ist ein sehr wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der Gesellschaft, ohne den Nationen und Gemeinschaften nicht zivilisiert existieren könnten. […] Sie ist die Quelle von Reichtum, da ohne Armut keine Arbeit existieren würde und ohne Arbeit gäbe es keine Reichtümer, keinen Komfort und keinen Wohlstand für jene, die den Reichtum besitzen.“78

 

Die Verhältnisse in den Vorstädten und abseits der Paläste und Banken sind es, die nun Intellektuelle in ganz Europa zum Widerstand anstacheln. Einige von ihnen entwerfen umfassende neue Gesellschaftsmodelle. Marx hat diese Kollegen herablassend als „utopische Sozialisten“ bezeichnet, weshalb sie ins linksextreme Eck gerückt wurden. Der Name ist jedoch irreführend. Für den einen oder anderen Hauptvertreter dieser Richtung gelten nämlich bei aller Wertschätzung des kollektiven Schaffens durchaus die Prinzipien der Individual- und Leistungsgesellschaft. Der Kampf, den sie führen, lautet auch nicht „Kapitalist gegen Proletarier“ wie im Kommunismus, sondern „arbeitender Mensch gegen Faulenzer“.

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