Öffentliches Wirtschaftsrecht

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b) Teilnahme am Wirtschaftsleben

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Nach der Rechtsprechung des EuGH fallen sämtliche wirtschaftlichen, dh entgeltlichen Tätigkeiten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Allerdings wird dieses Merkmal weit verstanden, so dass es den Anwendungsbereich kaum beschränkt. Ganz im Gegenteil hat der EuGH den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten erheblich über das Wirtschaftsrecht im engeren Sinne hinaus ausgedehnt[77].

Die Teilnahme am Wirtschaftsleben geht über den Anwendungsbereich des deutschen Gewerberechts (s. dazu Rn 213 ff) hinaus. Nach Art. 57 Abs. 1 lit. d AEUV fallen zB auch freiberufliche Tätigkeiten, zB von Apothekern, Ärzten und Rechtsanwälten unter die Dienstleistungsfreiheit. Die Qualifikation als Teilnahme am Wirtschaftsleben gilt unabhängig davon, wie ein Mitgliedstaat diese Bereiche regelt. Grundsätzlich sind auch Spielbanken, Sportwetten, Lotterien und ähnliche Veranstaltungen Bestandteil des Wirtschaftslebens, selbst wenn eine solche Veranstaltung von vornherein nur der öffentlichen Hand erlaubt ist (Staatsmonopol) oder dem Staat jedenfalls ein (beträchtlicher) Teil des Erlöses zufließt[78]. Entsprechendes gilt für die Prostitution, sofern sie in einem Mitgliedstaat zumindest partiell legal ausgeübt werden kann bzw staatlich reglementiert wird[79] (s. aber zur Berücksichtigung der nationalen Ordnungsinteressen unten Rn 67).

c) Grenzüberschreitender Bezug

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Da die Beseitigung der Hindernisse für den freien Verkehr von Waren, Personen und Kapital der Verwirklichung des Binnenmarktes dient, greifen die Grundfreiheiten nur dann, wenn der Sachverhalt einen Bezug zum Binnenmarkt hat, also grenzüberschreitende Sachverhalte erfasst[80]. Daran fehlt es, wenn ein Staat nur das Verhalten seiner eigenen Bürger regelt (zu den Konsequenzen einer damit uU verbundenen Inländerdiskriminierung s. Rn 151). In neueren Entscheidungen wurde der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten allerdings dadurch erheblich ausgedehnt, dass der EuGH uU einen hypothetischen grenzüberschreitenden Bezug genügen lässt[81]. Durch die damit verbundene Anwendung der Grundfreiheiten auf Sachverhalte ohne konkrete Beteiligung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wird die Zahl der verbleibenden ausschließlich innerstaatlichen Sachverhalte erheblich eingeschränkt. Dies folgt vor allem aus dem Umstand, dass sekundärrechtliche Konkretisierungen der Grundfreiheiten auf rein innerstaatliche Fälle erstreckt werden. So verlangt insbesondere die DienstleistungsRL (RL 2006/123/EG) keinen grenzüberschreitenden Bezug[82].

d) Bereichsausnahmen für die öffentliche Gewalt

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Nach Art. 51 AEUV sind die Niederlassungsfreiheit und über den Verweis in Art. 62 AEUV auch die Dienstleistungsfreiheit nicht anwendbar, wenn es sich bei der fraglichen Tätigkeit um die Ausübung öffentlicher Gewalt handelt; auch im Sekundärrecht – etwa für den Anwendungsbereich des Vergaberechts – wird die Bereichsausnahme relevant. Es handelt sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der als Ausnahme von den Grundfreiheiten eng auszulegen ist[83]. Allerdings hat der EuGH bisher keine wirkliche Definition geliefert, so dass sich um die Anwendung regelmäßig Kontroversen entzünden. Eindeutige Fälle der Ausübung von öffentlicher Gewalt in diesem Sinne sind Justiz, Polizei und Militär. Zur öffentlichen Gewalt gehört aber auch die staatliche Wirtschaftsaufsicht.

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Problematisch wird die Bereichsausnahme immer dann, wenn Private in die Aufgabenerfüllung einbezogen werden. Nach dem EuGH werden allein solche Tätigkeiten erfasst, „die, in sich selbst betrachtet, eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt darstellen“[84]. Bei der Einschaltung Privater wird die fragliche Tätigkeit entweder als abtrennbar von der öffentlichen Gewalt oder, weil ihr untergeordnet, gar nicht unter den Tatbestand gefasst[85] oder die Berufung auf den Staatsangehörigkeitsvorbehalt als unverhältnismäßig angesehen, weil eine staatliche Kontrolle über die Privaten ausreichend (und regelmäßig aus anderen Gründen geboten) ist.

Bisher hat der EuGH daher in keinem einzigen Fall die Bereichsausnahme durchgreifen lassen: Die Tätigkeit der Rechtsanwälte und Notare fällt trotz des Bezuges zur Justiz schon gar nicht unter die Bereichsausnahme[86]. Erst recht stellt die Tätigkeit privater Sicherheitsunternehmen[87] keine öffentliche Gewalt dar. Kfz-Überwachung[88] und Versicherungsaufsicht[89] lassen sich dagegen als öffentliche Gewalt interpretieren. Dennoch greift im Ergebnis die Bereichsausnahme nicht. Bei der Übertragung der Kfz-Überwachung auf (beliehene) Private oder deren Einschaltung in die Versicherungsaufsicht genügt eine Überwachung dieser Tätigkeit durch den Staat. Sämtlichen Versuchen, diesen materiellen Begriff der öffentlichen Gewalt durch einen formellen Begriff zu ersetzen und an die Frage der Beleihung bzw die Befugnis zum Erlass von Verwaltungsakten anzuknüpfen, hat der EuGH zu Recht eine klare Absage erteilt[90].

2. Die Prüfung der Grundfreiheiten

a) Adressaten der Grundfreiheiten

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Ähnlich wie die Grundrechte sind die Grundfreiheiten grundsätzlich staatsgerichtet, wobei es aus Sicht der Union auf die Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Mitgliedstaaten nicht ankommen kann. Sie gelten für die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen (Länder und Gemeinden) auch dann, wenn sie in den Formen des Privatrechts handeln[91] und auch für die Tätigkeit öffentlicher Unternehmen[92]. Die Verbindung zwischen privatrechtlicher Organisationsform und staatlichem Einfluss rechtfertigt ihre Bindung an die Grundfreiheiten, schließt aber umgekehrt nicht aus, dass sie sich selbst gegenüber staatlichen Maßnahmen auf diese berufen können (s. näher Rn 731)[93]. An die Grundfreiheiten gebunden sind aber auch öffentlichrechtlich organisierte Formen der Selbstverwaltung wie die Kammern sowie Private bei einer Indienstnahme für staatliche Zwecke über die klassischen Formen der Beleihung hinaus, etwa für die Tätigkeit von Zertifizierungsstellen[94].

Ob es auch darüberhinaus eine unmittelbare Bindung Privater an die Grundfreiheiten (sog. unmittelbare Drittwirkung) geben kann, ist noch nicht abschließend geklärt. Der EuGH hat mehrfach eine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten angenommen, um Einzelne vor der Macht privater Verbände zu schützen, die durch ihre besondere Stellung Bereiche des Wirtschaftslebens autonom regeln[95]. Dogmatisch ist diese Konstruktion nicht verallgemeinerungsfähig[96]. Allerdings bleibt abzuwarten, inwieweit die Rechtsprechung zu den europäischen Grundrechten auch die Grundfreiheitendogmatik beeinflusst[97].

b) Schutzbereich und Eingriff

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Erfassen die Grundfreiheiten einen Sachverhalt (zu den allgemeinen Anforderungen an die Eröffnung des Anwendungsbereiches Rn 52 ff, zu den im Einzeln geschützten Sachverhalten unten Rn 71 ff), stellt sich die Frage, inwieweit sie einer Vorschrift des nationalen öffentlichen Wirtschaftsrechts entgegenstehen. Trotz der unterschiedlichen Formulierung geht man von einer einheitlichen Struktur der Grundfreiheiten aus[98]. Dabei lassen sich wie in der deutschen Grundrechtsdogmatik Schutzbereich, Eingriff (Beschränkung) und Rechtfertigung unterscheiden.

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Als Eingriffsformen sind die (offene oder versteckte) Diskriminierung und die Maßnahmen gleicher Wirkung anerkannt. Neben der selten gewordenen offenen Diskriminierung, bei der Vorschriften unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, gibt es vor allem Fälle der versteckten (faktischen bzw mittelbaren) Diskriminierung, die zwar nicht ausdrücklich Binnenmarktsachverhalte regeln, aber in ihren Auswirkungen EU-Ausländer typischerweise stärker betreffen als Inländer[99]. Da die meisten Vorschriften nicht zwischen In- und Ausländern differenzieren, handelt es sich idR um Maßnahmen gleicher Wirkung. Dieses Kriterium hat der EuGH am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit entwickelt, aber mittlerweile auf die anderen Grundfreiheiten übertragen[100]. Verboten ist danach jede Maßnahme, die geeignet ist, „innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“ (sog. Dassonville-Formel)[101]. Damit hat der EuGH die zunächst als Diskriminierungsverbote verstandenen Grundfreiheiten zu allgemeinen Beschränkungsverboten weiterentwickelt.

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Die Eingriffsmodalitäten sind irrelevant. Die Mitgliedstaaten sollen sich weder durch die Wahl der Handlungsform noch durch die Qualifikation der Maßnahme als privatrechtlich ihren unionsrechtlichen Pflichten entziehen können (zur Frage der Adressateneigenschaft s. oben Rn 56).

 

Beispielsweise maß der EuGH eine staatliche Werbekampagne als Maßnahme gleicher Wirkung an den Grundfreiheiten (▸ Klausurenkurs Fall Nr 3)[102]. Äußerungen eines Beamten sind dem Staat zurechenbar, wenn die Empfänger dieser Äußerungen den Umständen nach annehmen dürfen, dass sich der Beamte mit Amtsautorität äußert[103].

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Angesichts seines weiten Eingriffsbegriffes hat sich der EuGH mit der sog. Keck-Rechtsprechung zunächst bei der Warenverkehrsfreiheit um eine Begrenzung des Schutzbereiches bemüht. Danach fallen „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ dann nicht in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben und außerdem den Absatz in- und ausländischer Waren in rechtlich wie tatsächlich gleicher Weise berühren[104].

Eine klare Definition existiert nicht, wohl aber eine umfangreiche Kasuistik. Neben den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften[105] sind als öffentlichrechtliche Vorschriften das Ladenöffnungsrecht und Sonntagsverkaufsverbot zu nennen (s. unten Rn 82); Entsprechendes gilt für Verkaufsbeschränkungen, zB die Apothekenpflichtigkeit bestimmter Arzneimittel[106] sowie produktbezogene Werbeverbote, etwa für alkoholische Getränke[107] oder Arzneimittel. Inwieweit sich diese zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten Grundsätze auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit übertragen lassen, wird kontrovers beurteilt. Obschon der EuGH dies nur für die Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich bejaht hat[108], dürfte sich der Grundsatz auf die anderen Grundfreiheiten anwenden lassen, soweit es sich um nichtdiskriminierende und marktverhaltensbezogene Vorschriften handelt[109]. Allerdings steht die Keck-Rechtsprechung seit ihren Anfängen in der Kritik, auch durch einzelne Generalanwälte[110], ohne dass der EuGH sie trotz scheinbarer Tendenzen in dieser Richtung bisher aufgegeben hätte. Auf der Grundlage des „Drei-Stufen-Tests“, die nach dem Vorbild des Kartellrechts nach der Spürbarkeit von Handelsbeeinträchtigungen fragt, hat sich die Lösung nicht unbedingt vereinfacht[111]. Eine erhebliche Einschränkung ihres Anwendungsbereichs folgt allerdings aus der Erstreckung des Sekundärrechts auf Inlandssachverhalte, wie sie der EuGH annimmt. Damit gerät sogar das einzelhandelsbezogene Bauplanungsrecht in den Anwendungsbereich der DienstleistungsRL[112].

c) Die Rechtfertigung von Beschränkungen

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Liegt eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vor, so ist zunächst zu prüfen, inwieweit diese durch die geschriebenen Schrankenregelungen des AEUV gerechtfertigt werden kann. Hierzu gehören Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Sie spielen aus verschiedenen Gründen im öffentlichen Wirtschaftsrecht kaum eine Rolle. Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz vor Bedrohungen und Gefahren für die Existenz des Staates in seinen Grundlagen und Einrichtungen, greift also zB im Zusammenhang mit der Sicherstellung der Energieversorgung[113], nicht aber bei typischen Maßnahmen der Wirtschaftsaufsicht. Außerdem sind die entsprechenden Bestimmungen grundsätzlich eng auszulegen. Die öffentliche Ordnung wird deswegen nicht als weiter ordre public-Vorbehalt verstanden, sondern für solche Gründe, die „herkömmlich als wesentliches Interesse des Staates“ angesehen werden; sie ist nur dann betroffen, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt[114].

Der unionsrechtliche Begriff[115] verlangt die Abwehr konkreter, von dem Betroffenen ausgehender Gefahren[116]. So ließe sich zB die Unterbindung der Gewerbeausübung auf der Grundlage einer Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten auf die öffentliche Ordnung stützen[117]. Da Anzeige- und Genehmigungserfordernisse wie in Fall 3b (Rn 45) aber lediglich der Abwehr abstrakter Gefahren dienen, lassen sie sich nicht auf die öffentliche Ordnung stützen. Ferner muss ein Mitgliedstaat entsprechende Sachverhalte von Inländern ebenfalls mit empfindlichen Sanktionen ahnden, so dass Sondervorschriften für Ausländer im Ergebnis ausscheiden. Auf diese Rechtfertigungsgründe lassen sich aber auch unterschiedslos wirkende Maßnahmen nur ausnahmsweise stützen (s. aber Rn 50 zur Brennerblockade und Rn 68 zum deutschen Verbot von Laserdromen).

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Um den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht zu stark einzuschränken, hat der EuGH die strengen geschriebenen Rechtfertigungsgründe durch die flexibleren „zwingenden Erfordernisse“ als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe ergänzt[118]. Ausgangspunkt war die Cassis-Entscheidung[119]. In der Rechtssache Gebhard hat der EuGH diesen Prüfungsaufbau für die Einschränkungen von Grundfreiheiten zusammengefasst[120]:


Die Maßnahme muss in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, es darf sich also weder um eine offene noch eine versteckte Diskriminierung handeln.
Für eine Maßnahme gleicher Wirkung müssen zwingende Gründe des Allgemeinwohls vorliegen, was immer dann zu bejahen ist, wenn die Maßnahme unionsrechtlich anerkannten Belangen zu dienen bestimmt ist (sog. Cassis-Formel).
Die Maßnahme muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten.
Die Maßnahme darf nicht über das hinausgehen, was zur Zweckerreichung erforderlich ist.

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Bereits die Formulierung der Cassis-Entscheidung ließ erkennen, dass es keinen abschließenden Katalog der Rechtfertigungsgründe gibt. Sie speisen sich im Ergebnis aus drei Quellen: Zum einen beziehen sie ihre Legitimation aus der Anerkennung in den Unionspolitiken und dem sonstigen Primärrecht, zum zweiten aus der Anerkennung im Sekundärrecht und außerdem in gewissem Umfang aus dem nationalen Recht (s. auch Art. 6 Abs. 3 EUV zur Rücksicht auf die besonderen Traditionen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen). Mit Ausnahme wirtschaftlich protektionistischer Zielsetzungen können daher sehr unterschiedliche Allgemeinwohlbelange verfolgt werden; selbst die Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung von Grundfreiheiten kann als Rechtfertigungsgrund genügen[121].

Primärrechtlich anerkannte Belange, die einen Eingriff in die Grundfreiheiten rechtfertigen können, sind daher beispielsweise der Verbraucherschutz (Art. 12, 169 AEUV) und der Umweltschutz (vgl Art. 11, 114 Abs. 4 AEUV)[122], Ziele der Kulturpolitik (Art. 167 AEUV)[123] und die Gewährleistung der Daseinsvorsorge[124]. Der EuGH hat insbes Art. 106 Abs. 2 AEUV auch bei der Prüfung der Grundfreiheiten als Rechtfertigungsgrund herangezogen[125]. Auch sekundärrechtlich anerkannte Gemeinwohlbelange können als Rechtfertigungsgrund fungieren[126]. Vor allem dort, wo sekundärrechtliche Regelungen fehlen[127], hat der EuGH aber auch auf nationale Beweggründe abgestellt, etwa die Bekämpfung des Glücksspiels und die dahinter stehenden sittlichen, religiösen und kulturellen Erwägungen des einzelnen Mitgliedstaats (ausf dazu unten Rn 67 ff). Allerdings können nur solche Gründe Beschränkungen rechtfertigen, als den europäischen Grundrechten Genüge getan wird[128].

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Als Korrektiv zur großzügigen Anerkennung von Rechtfertigungsgründen fungiert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[129]. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, insbesondere von Residenz-, Erlaubnis- und Registrierungspflichten, bezieht der EuGH die Regelungen des Herkunftslandes ein und gelangt so zu einem Verbot der Doppelkontrolle[130]: Entweder genügt bereits eine (als gleichwertig anzusehende) Herkunftslandaufsicht, oder es sind jedenfalls materiell ausländische Befähigungsnachweise etc anzuerkennen. Die meisten Fälle werden mittlerweile allerdings von der Dienstleistungs- bzw der Berufsanerkennungsrichtlinie erfasst, deren Regelungen aber auf den vom EuGH entwickelten Prinzipien beruhen[131] (zu Ausnahmen s. unten Rn 238).

Eine entscheidende Funktion der die Grundfreiheiten konkretisierenden Richtlinien, insbesondere der Berufsanerkennungs- und DienstleistungsRL, aber auch der neuen VerhältnismäßigkeitsRL (s. schon Rn 38) besteht zunächst in der Systematisierung dieser Anforderungen. Unverhältnismäßige Maßnahmen werden zu „schwarzen Listen“ zusammengefasst, es wird aber auch das Verhältnis zwischen präventiven und nachträglichen Kontrollen abweichend von den gewerberechtlichen Maßstäben konkretisiert; Art. 9 Abs. 1 lit c unterwirft etwa die präventive Zuverlässigkeitsprüfung einem erheblichen Rechtfertigungsdruck[132]. Kritisch sieht der EuGH insbesondere Werbeverbote[133] und staatliche Preisregulierungen[134]. Es ist außerdem geklärt, dass die Anforderungen dieser Richtlinien nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden können, der Unionsgesetzgeber also mit anderen Worten berechtigt ist, die mitgliedstaatlichen Spielräume stärker zu beschneiden als dies am Maßstab der Grundfreiheiten der Fall ist[135]. Damit könnten sich die primär- und sekundärrechtlichen Maßstäbe auseinander entwickeln; allerdings kann man dies auch als „judicial self restraint“ interpretieren: der EuGH hält sich aus Respekt vor den Entscheidungsspielräumen der Mitgliedstaaten (zu diesen näher Rn 67) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker zurück, als dies der EU-Gesetzgeber zu machen hat.

d) Das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten (Konkurrenzen)

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Außer für das Verhältnis von Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit (s. dazu Rn 72) gibt es für das Verhältnis der Grundfreiheiten zueinander keine feste Regel. Dies gilt auch für das Verhältnis von Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit[136], obwohl dies die Formulierung des Art. 57 Abs. 2 AEUV nahelegen könnte. Soweit mehrere Grundfreiheiten einschlägig, aber die Einzelelemente des zu prüfenden Sachverhaltes zu einem untrennbaren Ganzen verbunden sind, stellt der EuGH auf den Schwerpunkt ab. Lassen sich die beiden Teile voneinander abschichten, werden die einzelnen Teile getrennt geprüft. Angesichts der starken Konvergenzen zwischen den Prüfungsmaßstäben (s. bereits Rn 57 ff) hat dies in den meisten Fällen kaum Konsequenzen für das Ergebnis. Bedeutsam wird es freilich wegen der Beschränkung der aktiven Dienstleistungsfreiheit auf Unionsbürger und vor allem wegen der Erstreckung der Kapitalverkehrsfreiheit auf Drittstaatssachverhalte (s. zur Abgrenzung der Kapitalverkehrsfreiheit von den anderen Grundfreiheiten Rn 87 f). Im Anwendungsbereich des Sekundärrechts, insbesondere bei der DienstleistungsRL, die der EuGH ja auch auf reine Inlandssachverhalte erstreckt (s. schon Rn 53), geht der EuGH allerdings von deren Anwendbarkeit auch dann aus, wenn der Schwerpunkt eigentlich bei einer anderen Grundfreiheit liegt[137].

 

66

In Fall 5 (Rn 47) ist mit der Lieferung der Ausrüstung sowohl die Dienstleistungs- wie die Warenverkehrsfreiheit betroffen. Da die Einfuhr der Waren nur eine zwangsläufige Folge der von der P erbrachten Dienstleistung ist, tritt bei einem Franchisevertrag die Warenverkehrsfreiheit gegenüber der Dienstleistungsfreiheit als zweitrangig zurück[138]. Entsprechend dient auch die Versendung von Werbematerial oder Unterlagen durch einen ausländischen Dienstleistungsanbieter der Durchführung einer Dienstleistung und wird ausschließlich anhand der Dienstleistungsfreiheit geprüft[139]. Die bloße Einfuhr von Geld- oder Spielautomaten wird demgegenüber nur an der Warenverkehrsfreiheit geprüft, selbst wenn die Einfuhr zum Zweck der Erbringung einer Dienstleistung geschieht[140]. Andererseits prüft der EuGH eine nationale Bestimmung nur anhand der Dienstleistungsfreiheit, wenn die Einfuhrbeschränkung sich auf die für eine bestimmte Spielart entwickelte Ausrüstung bezieht und sich so als zwangsläufige Folge des Verbots dieser Spielvariante darstellt[141]. Allgemein sind Bestimmungen, welche den Vertrieb von Waren beschränken, dann an der Warenverkehrsfreiheit zu messen, wenn die Dienstleistung einen untergeordneten Aspekt darstellt[142]. Abweichend von der Schwerpunktformel hat der EuGH im Anwendungsbereich der DienstleistungsRL (auch) den Warenabsatz als Dienstleistung qualifiziert (s Rn 65).