Öffentliches Wirtschaftsrecht

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[106]

Zu diesem Konzept näher Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 94 ff. Der Begriff geht zurück auf Forsthoff, Deutsches Recht 1935, S. 331 ff; ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959.

[107]

Zu dieser Forderung schon Fleiner, Institutionen, 8. Aufl. 1928, S. 325. Dieses Ziel prägte die Definition der Daseinsvorsorge bei Forsthoff, Verwaltungsrecht I, 1950, S. 264 f; s. auch ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, 1959, S. 12. S. zum Konzept der Daseinsvorsorge ausf Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 94 ff.

[108]

S. schon zu den Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Verwaltungsprivatrecht und fiskalischem Handeln am Beispiel der Auftragsvergabe Ruthig, NZBau 2005, 497, 498 f.

[109]

Dazu, dass Art. 14 AEUV selbst aber keine eigenständige Kompetenzgrundlage für die Gemeinschaft darstellt s. Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 16 EGV Rn 8; Nettesheim, EWS 2002, 253 (254); Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 268 (289). Vgl zur Aufwertung des Art. 14 AEUV Jung, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 14 AEUV Rn 29.

[110]

S. die Mitteilung der Kommission vom 20.9.2000, KOM (2000) 580 eng., ABl. EG 2001 Nr C 17 S. 7.

[111]

S. Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, S. 70.

[112]

S. beispielhaft zu diesem Rückzug des Staates aus der Erfüllungsverantwortung Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 70 ff; s. auch Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 337; Kämmerer, NVwZ 2004, 28.

[113]

S. näher unter Rn 1029 ff; ausf zur Rechtslage außerhalb des europäischen Vergaberechts Ruthig, NZBau 2005, 497, 501 f mwN.

[114]

S. auch Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 3 Rn 46 ff.

[115]

So aber Rittner/Dreher, § 1 Rn 39.

[116]

GSOGB, NJW 1990, 1527; s auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn 104; Ruthig, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 40 Rn 11 mwN.

[117]

S. auch Bröcker, in: Claussen, Bank- und Börsenrecht § 6 Rn 2.

[118]

Vgl näher Ruthig, in: FS Hufen (2015), 625 ff.

[119]

Masing, Die Verwaltung 2003, 1, 31.

[120]

Säcker, in: Säcker, TKG, Einl I Rn 4 ff.

[121]

Für einen solchen allerdings Rittner/Dreher, § 29 Rn 10 ff. Von diesen wird zwischen Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht unterschieden, dh den „mehr oder weniger weitgehenden gewerberechtlichen Bestimmungen zur Abwehr spezieller Gefahren“.

[122]

BT-Drucks. 13/3609, S. 34.

[123]

Dazu näher Ruthig, in: Kopp/Schenke, VwGO, § 40 Rn 30a; vgl den Überblick potentieller Fallgruppen bei Guillard, GRUR 2018, 791.

[124]

Dafür BGHZ 188, 326; GRUR-RR 2012, 157; NJW 2016, 3176.

[125]

BGHZ 173, 188 Rn 35 – Jugendgefährdende Medien bei eBay; BGH, GRUR 2009, 845 Rn 41 – Internet-Videorecorder.

[126]

Siehe dazu BGH, GRUR 1996, 786, 788; GRUR 1995, 601, 603; 1982, 615, 617.

[127]

Vgl BGH, GRUR 2010, 754 zu Medizinprodukten.

[128]

Vgl zu Werbebeschränkungen für Anwälte, BGH, NJW-RR 2018, 1086 Rn 20.

[129]

BGHZ 177, 150. Die Privaten sind dabei „Teilnehmer“ am Vergaberechtsverstoß der öffentlichen Auftraggeber.

[130]

Da in den wenigsten Fällen in der Erteilung eines Zuschlags eine Wettbewerbshandlung des Auftraggebers gesehen werden kann, lässt sich ein Unterlassungsanspruch gegen den Auftraggeber nur selten auf die Vorschriften des UWG stützen. Ausnahmsweise kann dies einmal der Fall sein, wenn Auftraggeber und Auftragnehmer kollusiv zusammenwirken oder der Auftraggeber eingegangene Angebote vorzeitig einsieht, um einem favorisierten Bewerber zusätzliche Informationen zukommen zu lassen.

[131]

OLG Frankfurt, NJW-RR 2005, 1130.

[132]

OLG Frankfurt, NJW-RR 2005, 1130, vgl auch Köhler, GRUR-RR 2006, 33, 36; Scherer, WRP 2006, 401. S. aber auch schon OLG München, GewArch. 1995, 488 m. zust. Anm. Honig, WRP 1995, 871.

[133]

Zu § 34 Abs. 4 GewO BGH, GRUR 2009, 886; zu § 55 GewO OLG Schleswig v. 24.4.2012 – 6 U 6/11.

[134]

Vgl zuletzt die Rechtsstreitigkeiten um die Zulässigkeit der Geschäftsmodelle von Uber, etwa BGH, GewArch. 2019, 157. Auch die Vorlageentscheidungen des EuGH zu Uber und Airbnb gehen auf wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten zurück.

[135]

OLG Nürnberg GRUR-RR 2007, 45, 47; s. auch Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 29. Aufl. 2011, § 5 Rn 11.79.

[136]

S. dazu schon Bernreuther, GewArch. 2001, 184.

[137]

S. zu § 1 UWG aF bereits Ruthig, in: Gounalakis, Electronic Business, § 14 Rn 49. Ein Wettbewerbsverstoß scheitert in solchen Fällen häufig daran, dass angesichts des Streits um die Anwendbarkeit der GewO die Vorwerfbarkeit fehlt, s. LG Hamburg, MMR 1999, 678, 680; Welser, ZUM 2000, 672, 674.

[138]

BGH, NJW 1986, 2360.

[139]

OLG Koblenz, NJW-RR 1994, 493 zu einem Gesellschaftsvertrag zur Umgehung der handwerksrechtlichen Eintragungserfordernisse; OLG Hamm, NJW 1986, 2440: Geldzahlung für die Beschaffung eines Strohmanns für eine Gaststättenkonzession.

[140]

Zum Schutzgesetzcharakter des § 32 Abs. 1 KWG trotz der Regelung des § 4 Abs. 4 FinDAG s. BGH, NJW 2005, 2703; NJW-RR 2006, 1713; VersR 2010, 910; NJW-RR 2011, 347. Grundlegend BGHZ 125, 366, 379; generell die Schutzgesetzqualität verneinend Fischer, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, Einf Rn 67; Canaris, FS Larenz (1983), S 27, 44. Gegen den Schutzgesetzcharakter des Verbotes der Vermittlung von Darlehensverträgen im Reisegewerbe (§ 56 Abs. 1 Nr 6 GewO) BGHZ 93, 264.

[141]

BGHZ 88, 240; ausf Armbrüster, in: MünchKomm (BGB), § 134 Rn 88 ff.

[142]

Gesetz v. 23.7.2004 (BGBl. I S. 1842); dazu Armbrüster, in: MünchKomm (BGB), § 134 Rn 77.

[143]

BGHZ 131, 385, 389 f.

[144]

Hier die Nichtigkeit bejahend OLG Stuttgart, WM 1989, 1723, 1724 für das ohne Erlaubnis betriebene Einlagengeschäft; verneinend VGH Kassel, WM 2009, 1889; OLG Karlsruhe, VersR 2007, 1514 sowie die überwiegende Kommentarliteratur zu § 32 KWG, s. Fischer, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG, § 32 Rn 16, § 37 Rn 10a; offengelassen bei BGH, NJW 2005, 1784, 1785; BVerwG, BKR 2011, 108. S. auch Armbrüster, in: MünchKomm (BGB), § 134 Rn 69; Tettinger, DStR 2006, 903. Wie die verwaltungsgerichtlichen Fälle zeigen, wird die Frage der Nichtigkeit wiederum für das Bankaufsichtsrecht relevant: Während die Instanzgerichte die Verhältnismäßigkeit einer Anordnung nach § 37 KWG davon abhängig gemacht hatten, dass die zivilrechtlichen Verträge jedenfalls teilnichtig seien, trennte BVerwG, BKR 2011, 208 zwischen der öffentlichrechtlichen Rückzahlungsverpflichtung und den zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen. S. dazu näher Mai, BKR 2011, 199.

 

[145]

BGH, NJW 1990, 1356 zu einem Kreditgewährungsverbot nach § 46 Abs. 1 KWG.

[146]

Weitergehend Bullinger, DVBl 2003, 1355: „Erprobungsraum für ein modernisiertes Verwaltungsrecht“; krit Burgi, NJW 2006, 2439; Masing, AöR 128 (2003), 558 ff.

[147]

Masing, Die Verwaltung 2003, 1; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 3, Rn 49 ff; Trute, FS Brohm (2002), 169 ff; ders., FG BVerwG (2003), S. 857; ders., FS Selmer (2004), 565.

[148]

Schmidt-Aßmann, NVwZ 2007, 40.

[149]

Hösch, GewArch. 2002, 257; Merten, GewArch. 2006, 55.

[150]

Zu dieser Steuerungsfunktion von Handlungsformen und Verwaltungsverfahren Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 297 ff.

[151]

Zum Begriff s. Ruthig, NZBau 2005, 497, 502. Er dient der Unterscheidung von der (außer bei Sonderzuweisungen über den Rechtweg entscheidenden) formellen Publifizierung.

[152]

Vgl Kahl, FS Zezschwitz (2005), 151; Ziekow/Siegel, ZfBR 2004, 30. Zum nicht europäisierten Vergaberecht s. Ruthig, NZBau 2005, 497.

[153]

Vgl insbes K. Schmidt, FS Selmer (2004), 499 mwN.

§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen

§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen

Inhaltsverzeichnis

I. Grundlagen

II. Die Grundfreiheiten

III. Sekundäres und tertiäres Unionsrecht

IV. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechtlicher Schutz wirtschaftlicher Betätigung

V. Gesetzgebungskompetenzen

VI. Organisation der Wirtschaftsverwaltung

§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › I. Grundlagen

I. Grundlagen

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Die wirtschaftliche Betätigung ist nicht nur von fundamentaler gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, sondern auch die Lebensgrundlage für einen großen Teil der Bevölkerung. Schon deswegen ist sie der Gegenstand rechtlicher Regelungen. Gleichzeitig ist kaum ein Rechtsgebiet so sehr konkretisiertes Verfassungs- und Unionsrecht wie das öffentliche Wirtschaftsrecht. Auch wenn beide keine bestimmte Wirtschaftsordnung vorschreiben (s. bereits oben Rn 3 f), determinieren neben den Grundrechten vor allem europäische Grundfreiheiten die Auslegung und Anwendung wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Normen. Hinzugetreten sind die europäischen Grundrechte. Unionale und nationale Maßstäbe sind dabei auf komplexe Art und Weise miteinander verzahnt. Immer häufiger treffen sie nicht mehr auf nationale Rechtsvorschriften, sondern auf harmonisiertes Recht. Schon vor 30 Jahren stammten angeblich ca. 80% der für die Wirtschaft bedeutsamen Normen aus Brüssel[1] und machte die Umsetzung europäischer Vorgaben die Hälfte der gesamten Gesetzgebungstätigkeit der Mitgliedstaaten aus[2]. Dabei bewegt sich das Binnenmarktrecht zwischen „zwei tektonischen Platten: einerseits den Marktfreiheiten und andererseits dem Bestreben der Mitgliedstaaten, Interessen nicht wirtschaftlicher Art selbst zu regeln“[3].

Nach Art. 288 AEUV erlassen die Gemeinschaftsorgane Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen und Empfehlungen, von denen Verordnungen und die zunächst häufiger anzutreffenden Richtlinien die Normen des Unionsrechts darstellen. Die Richtlinien verfolgten zunächst vor allem das Prinzip einer (materiellen) Rechtsharmonisierung und füllten so häufig die Lücken, die das Primärrecht durch die Nichtanwendbarkeit nationaler Vorschriften schuf. Heute beruht in Teilen des europäischen Wirtschaftsrechts, vor allem im richtliniengeprägten Regulierungsrecht, also insbes Telekommunikations-, Energie- und Kapitalmarktrecht, das gesamte Rechtsregime auf unionalen Vorgaben. Im Bereich der reglementierten Berufe ließ sich eine solche umfassende Rechtsharmonisierung nicht erreichen, so dass sich das Unionsrecht zunächst auf die Frage einer Anerkennung ausländischer Abschlüsse konzentrierte, bevor es zunehmend das Herkunftslandprinzip favorisierte. Diese Entwicklung manifestiert sich insbesondere in der Berufsanerkennungs- und der DienstleistungsRL, die vor allem das Handwerks- und das Gewerberecht massiv umgestaltet (vgl Rn 237 ff; Rn 477 f), aber in ihrer Relevanz für Inlandssachverhalte erst noch ausgelotet werden muss. Zusätzlich mahnte die Kommission seit längerem eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung an. In ihrer Mitteilung vom 28.10.2015 sah die Kommission die Notwendigkeit, den Mitgliedstaaten zusätzlich ein Raster an die Hand zu geben, das sie bei der Überprüfung bestehender oder dem Erlass neuer Berufsreglementierungen anzuwenden hätten[4]. Hierauf hat der EU-Gesetzgeber mit der VerhältnismäßigkeitsRL (RL 2018/958/EU) reagiert, die von den Mitgliedstaaten bis zum 30.7.2020 in nationales Recht umzusetzen ist[5]. Sie erfasst sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die in den Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsrichtlinie fallen und den Zugang oder die Ausübung eines Berufs beschränken (Art. 2 Abs. 1 VerhältnismäßigkeitsRL). Zugleich werden die zunehmend strengeren Anforderungen des EuGH an die von den Mitgliedstaaten anzuführenden Beweismittel aufgegriffen[6]. Zunehmend wird die Richtlinie auf europäischer Ebene durch Verordnungen abgelöst. Beispiele liefert insbes das Finanzmarkt(aufsichts)recht (vgl Rn 191 ff). Eine Harmonisierung der Rechtsanwendungspraxis ist auf der Grundlage unterschiedlicher nationaler Regelungsregime aber nur begrenzt zu verwirklichen. Daher spielt – nicht zuletzt in der Bankenunion – das Eigenverwaltungsrecht eine immer bedeutsamere Rolle. Mit der EZB übernimmt erstmals eine europäische Regulierungsagentur Aufgaben in einem Kernbereich des öffentlichen Wirtschaftsrechts.

1. Entwicklungsphasen

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Hinsichtlich der Einflüsse von nationalen Grundrechten und unionalen Grundfreiheiten und Grundrechten auf das öffentliche Wirtschaftsrecht lassen sich seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes drei Phasen unterscheiden[7]. Zunächst stand die Verfassungskonkretisierung im Verwaltungsrecht im Vordergrund, die mit einer Liberalisierung des Gewerberechts und zudem einer Expansion subjektiver Rechte einherging[8]. Bereichsspezifische Sachkundenachweise, etwa für den Einzelhandel, wurden anhand von Art. 12 GG auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft[9]. Mit dem Abbau staatlicher Bedürfnisprüfungen bei der Berufszulassung begann das Bundesverwaltungsgericht im Gaststättenrecht[10] schon vor dem bundesverfassungsgerichtlichen „Apothekenurteil“[11]. Die zweite Phase war von der Europäisierung des öffentlichen Wirtschaftsrechts geprägt. Insoweit wirkten zunächst die Grundfreiheiten deregulierend, indem der EuGH Vorschriften des nationalen (öffentlichen) Wirtschaftsrechts als Eingriff qualifizierte und diese Eingriffe nur selten für gerechtfertigt hielt. Mit der zunehmenden Anerkennung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe hat sich dies allerdings relativiert. Das Nebeneinander von Grundfreiheiten und Verfassungsrecht führt zu einer Konvergenz der Prüfungsmaßstäbe (s. vor allem das Kohärenzgebot am Beispiel der Bekämpfung des Glücksspiels, Rn 126, 175 ff)[12].

Da das Unionsrecht in Deutschland auf ein weitgehend liberales Wirtschaftsverständnis traf, waren die Konflikte eher punktuell. Besonders eindrucksvoll ließen sie sich im Handwerksrecht verfolgen, in dem sich lange das „zünftige“ Denken gehalten hatte[13]. Ausgelöst wurde die Liberalisierung des Handwerksrechts durch das Unionsrecht. Dies betraf zunächst grenzüberschreitende Sachverhalte, wie Fall 3a (Rn 45) veranschaulicht. Während das BVerfG im Anschluss an seine ausführliche und sorgfältig begründete Entscheidung von 1960 über Jahrzehnte das Erfordernis der Meisterprüfung für die selbstständige Handwerksausübung als grundrechtskonform erachtete[14], sah der EuGH darin einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten (s. im Einzelnen Rn 125)[15]. Mit der Handwerksnovelle 2004 vollzog der nationale Gesetzgeber einen Paradigmenwechsel (ausf Rn 125, 465 ff). Aber auch das BVerfG änderte seine Auffassung und stützte sich dabei ausdrücklich darauf, dass angesichts der europäischen Entwicklung die nationalen Vorschriften zur Erreichung des (verfassungsrechtlich an sich legitimen) Zieles nicht mehr geeignet seien (s. dazu Rn 125)[16]. In der Zwischenzeit werden viele Sachverhalte vom Sekundärrecht erfasst, für deren Auslegung jedoch regelmäßig die vom EuGH entwickelten Standards herangezogen werden können, die die Richtlinien häufig konkretisieren und um prozedurale Bestimmungen ergänzen (s. zur „grundfreiheits- und grundrechtskonformen Auslegung“ von Sekundärrecht Rn 96). Allerdings werden diese Grundsätze über die Richtlinien auf reine Inlandssachverhalte erstreckt; insbesondere die für das öffentliche Wirtschaftsrecht zentrale DienstleistungsRL verlangt keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt (s. Rn 53).

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Die dritte Phase lässt sich als Renaissance der Grundrechte umschreiben. Aufgrund der unionsrechtlich angestoßenen Deregulierung kam es zunächst zu „neuen“ Berufen (vgl zum Telekommunikationsrecht Rn 20, 546) und gleichzeitig zu neuen Anwendungsfeldern für das nationale Verfassungsrecht im Zusammenhang mit der Ausgestaltung unionaler Gestaltungsspielräume (vgl zB zur Vereinbarkeit der Versteigerung von Funkfrequenzen mit Art. 12 GG Rn 562). Allerdings hat das Unionsrecht, nicht nur vor dem Hintergrund der Finanzkrise, seinen Regelungsansatz verändert. Überall da wo das Sekundärrecht nicht mehr Märkte liberalisiert und damit die Grundfreiheiten konkretisiert, sondern die wirtschaftliche Betätigung mit ordnungsrechtlichen Maßstäben gestaltet, stellt sich die Frage nach dem „höherrangigen“ Recht, das auch die Grenzen des unionalen Gesetzgebers markiert. Dazu gehören neben den Grundfreiheiten die Grundrechte. Spätestens mit dem Inkrafttreten der GRCh dominieren aber auch insoweit die unionalen Maßstäbe. Allerdings fungieren Grundfreiheiten und (europäische und nationale) Grundrechte in den meisten Fällen als Auslegungsmaßstab, damit wird gerade das öffentliche Wirtschaftsrecht zum „konkretisierten“ Primär- und Verfassungsrecht.

 

Seit langem gilt dies insbes für die Berufsfreiheit. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vorschrift, die die Berufstätigkeit erlaubnispflichtig macht, vor, folgt aus Art. 12 GG ein Anspruch auf Genehmigungserteilung. Ferner sind die Tatbestandsmerkmale berufsbeschränkender Vorschriften im Lichte dieser Grundrechte auszulegen. So ist nach der Rechtsprechung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ein Element des gewerberechtlichen Unzuverlässigkeitsbegriffs (dazu Rn 251 ff), der unter Beachtung des Grundrechts der Berufsfreiheit auszulegen ist[17]. Entsprechendes gilt zB beim Einschreiten gegen (formell) illegal betriebenes Gewerbe (s. Rn 318). Soweit die nationalen Grundrechte verdrängt werden, lassen sich diese Ansätze auf das Unionsrecht übertragen. Die Union verfügt mittlerweile über einen auch in seiner Durchsetzung vorbildlichen Grundrechtsschutz. Auch die GRCh garantiert, durchaus orientiert an der Konzeption des Grundgesetzes, Berufsfreiheit (Art. 15 GRCh)[18], unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRCh)[19] und das Eigentum (Art. 17 GRCh). Diese Gewährleistungen treten jedoch hinter den Grundfreiheiten als Ausdruck der „besonderen Berufsfreiheit“ der Marktbürger zurück[20], sodass sie im öffentlichen Wirtschaftsrecht kaum eine Rolle spielen. Gleichwohl übernehmen die Grundrechte, vor allem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und das Grundrecht auf Datenschutz (Art. 8 GRCh) und sowie insbes das europäische Gebot effektiven Rechtsschutzes[21] zunehmend die lückenschließende Funktion, die traditionell dem nationalen Verfassungsrecht zukommt. Eindrucksvoll etabliert sich der EuGH als „Grundrechtsgericht“[22], das europäische Grundrechtsstandards nicht nur international, sondern gerade auch im Verhältnis zum Sekundärrecht durchsetzt. In der Konsequenz europäischer Grundrechte nimmt aber auch die Bedeutung der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 47 GRCh zu, der der EuGH in jüngeren Entscheidungen ebenfalls weitreichende, teilweise über Art. 19 Abs. 4 GG hinausreichende Anforderungen entnimmt[23], die nicht nur das Gerichtsverfahren betreffen, sondern zB auch einen Anspruch auf Entscheidung durch unabhängige Gerichte gewähren[24], bis hin zu einem Anspruch auf wirksame Vollstreckungsmöglichkeiten[25]. Dies hat aber auch für den indirekten Vollzug eine weitere Hochzonung der „verfassungsrechtlichen“ Maßstäbe auf die unionale Ebene zur Folge und stellt damit zugleich die Frage nach der Bedeutung nationaler Verfassungsgerichte neu. Das BVerfG hat diese Herausforderung in der aktuellen, geradezu „revolutionären“ Rechtsprechung des 1. Senats aufgenommen (dazu Rn 42 ff).