Sternstunden und Schandflecke der Kirchengeschichte

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Die erste betrifft die Schaffung von Großklöstern, welche nunmehr als ideal galten. Die zweite Grundentscheidung bestand darin, dass diese Niederlassungen gleichzeitig Kulturklöster sein sollten. Das setzt natürlich materielle und personelle Ressourcen voraus, wie nur Großklöster sie bieten können. Ein dritter Schwerpunkt der anianischen Reform betrifft die Liturgie der Mönchsgemeinschaft, welche in der Abteikirche öffentlich zugänglich sein muss.

Da die einzelnen Konvente nach wie vor voneinander unabhängig waren, kann von einem eigentlichen (Benediktiner-) Orden nur bedingt die Rede sein. Und das ist bis heute so geblieben. Tatsächlich (und rechtlich gesehen) handelt es sich beim ›Benediktinerorden‹ um eine Benediktinische Konföderation, welche aus weltweit rund 20 weitgehend selbstständigen Vereinigungen von benediktinischen Klöstern besteht. Diese Konföderation wurde erst durch Papst Leo XIII. im Jahr 1893 ins Leben gerufen. Geistiger Mittelpunkt ist das Kolleg Sant’Anselmo in Rom, wo der Abtprimas seinen Sitz hat. Dessen Verfügungsgewalt aber ist, im Gegensatz etwa zu jener von Vorstehern anderer Orden, ziemlich eingeschränkt.

Ohne die zahlreichen Klostergründungen in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends – und dies ist nur eines der Verdienste der mittelalterlichen Mönche – wäre die antike Kultur und damit das angesammelte Wissen von Jahrhunderten zum größten Teil verloren gegangen. Dass dies nicht zutraf, verdanken wir unter anderem einem Gelehrten, der ein Werk verfasste, ohne das unsere Wikipedia kaum denkbar wäre.

Isidor von Sevillaoder Der erste »Brockhaus«

Bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts war die Iberische Halbinsel in mehrere blühende römische Provinzen aufgeteilt. Danach ging es mit Hispania rasant bergab. Vandalen, Sueben und Alanen eroberten weite Landesteile – Stichwort Völkerwanderung. Und die beinhaltet nicht nur Totschlag und Plünderungen und Brandschatzung, sondern, längerfristig, auch den Untergang des weströmischen Reiches.

Alles liegt in Trümmern. Wer hundert Rinder besaß, hat jetzt nicht mehr als zwei. Wer hoch zu Pferd geritten ist, muss nun zu Fuß gehen. Felder und Städte haben ihr Gesicht verändert. Das Menschengeschlecht kommt durch Eisen, Feuer, Hunger und alle Arten von Unglücksfällen um. Der Friede ist von der Erde geflohen, das Ende der Zeiten ist angebrochen.

Was den Schluss seiner Darstellung betrifft, hat sich der unbekannte spanische Autor, der diese Zeilen gegen Ende des ausgehenden 5. Jahrhunderts zu Pergament brachte, geirrt. Angebrochen war nicht das Ende der Zeiten, sondern das Ende eines Zeitalters. Und der Beginn einer neuen Ära, die wir heute als Mittelalter bezeichnen.

Aber der Bruch war keineswegs total.

Wohl haben die Eroberungen der ›Barbaren‹ dem fast die ganze damalige Welt umfassenden Römischen Reich politisch ein Ende bereitet. Was uns keineswegs ermächtigt, von einem ›Untergang der antiken Welt‹ zu sprechen. Tatsächlich lebte deren Erbe weiter fort. Gepflegt wurde es an den Kloster- und Domschulen, an denen seit dem 6. Jahrhundert Mönche und Nonnen unterrichteten, sowie im 11. Jahrhundert an der berühmten Rechtsschule von Bologna und an der nicht minder bedeutenden Medizinschule von Salerno. Eine zentrale Rolle für die Vermittlung antiken Gedankenguts spielten auch die Universitäten, die im 12. und im frühen 13. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden schossen (Paris zwischen 1150 und 1170, Oxford 1167, Cambridge 1209, Salamanca 1218, Padua 1222). Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die mächtigen Klöster der ersten Jahrtausendwende, die sich um die Weitergabe der kulturellen Leistungen der Griechen und Römer immense Verdienste erwarben. Und ganz nebenher (und glücklicherweise) auch das antike Wissen um den Weinbau in unsere Zeit hinüberretteten.

Um es kurz zu machen: Es waren durchweg christliche Einrichtungen, welche das kulturelle Erbe der Antike weitervermittelten. Das wiederum war nur möglich, weil sich das Christentum gegen Ende der Völkerwanderungszeit in fast allen dicht besiedelten Gegenden durchzusetzen vermochte – nicht zuletzt dank irischer Wandermönche, die nicht nur gut zu Fuß, sondern auch einigermaßen bibelfest waren.

Spätestens hier stellt sich eine Frage: Worauf konnten all die zahlreichen Vermittler und Vervielfältiger (und Verbesserer?) der antiken Hinterlassenschaft zurückgreifen? Aus welchen Quellen schöpften sie?

Zunächst war es vor allem eine. Eine einzige. Die trägt den Titel Etymologiarum sive originum libri viginti.

Bevor wir einen Blick darauf werfen, was unter diesem rätselhaften Titel abgehandelt wird, scheint es angezeigt, etwas über den Verfasser zu sagen.

Der gehörte zu den meistgelesenen Autoren des Mittelalters. Sein Name: Isidorus Hispalensis, besser bekannt (wenn überhaupt) als Isidor von Sevilla.

Geboren wurde Isidor um 560 in Cartagena, dem letzten von Ostrom beherrschten Bollwerk des oströmischen Kaisers auf der Iberischen Halbinsel. Offenbar schon kurz nach seiner Geburt begaben sich seine Eltern zusammen mit seinen beiden älteren Geschwistern Leander und Florentina nach Sevilla. 428 war diese Stadt von den durchziehenden und marodierenden Vandalen geplündert worden. Inzwischen hatten dort die zugewanderten Westgoten das Sagen. Es war dies die Zeit, als sich auch viele Mönche aus Nordafrika in Sevilla niederließen, die außer ihren Ideen auch ihre Bücher mitbrachten. Was wiederum dazu beitrug, dass sich die Stadt zu einem intellektuellen Zentrum mauserte.

Unter anderem war das Isidors älterem Bruder Leander zu verdanken, dessen Eltern verstarben, als der Jüngste noch im Kindesalter war. Zusammen mit dem Erbe übernahm Leander die Verantwortung für seine beiden Geschwister. Die von ihm angetretene Hinterlassenschaft war so groß, dass er gleich zwei Klöster gründen (und finanzieren) konnte, nämlich ein Frauenkloster, das seiner Schwester Florentina eine Heimstatt bot, und ein Mönchskloster, in das er sich mit seinem jüngeren Bruder zurückzog. Wie weit die vom Älteren übernommene Vaterrolle Isidor geprägt hat, lässt sich nicht feststellen. Unzweifelhaft ist es auch Leanders Verdienst, dass sich der offenbar Lernbegierige zu dem Großschriftsteller des anbrechenden Mittelalters entwickelte. Was Leander seiner Schwester schrieb, mag schon früh auch seinen Bruder Isidor begeistert haben:

Lies eifrig und bete oft. Teile deine Pflichten so ein, dass du nach dem Lesen eine Gebetszeit einschaltest und dich nach dem Beten wiederum der Lektüre widmen kannst. Diese beiden herausragenden Beschäftigungen sind untrennbar miteinander verbunden.

Leider besitzen wir keine konkreten Hinweise, welche Autoren Leander seinen zwei jüngeren Geschwistern empfahl. Vermutlich verwies er sie auf die Werke jener Kirchenväter, die damals gerade von sich reden machten: Augustinus, Ambrosius, Hieronymus, Eirenaios von Lyon … Und natürlich auf die klassischen griechischen und römischen Schriftsteller, mit deren Hinterlassenschaft sich heute jene abquälen, welche dem Zeitgeist tapfer trotzen und vor dem Abitur noch Latein und Griechisch büffeln: Homer und Horaz, Theocritos und Tacitus, Sophokles und Seneca …

584, Isidor war damals gerade 24 Jahre alt, wurde Leander vom Volk dazu gedrängt, den frei gewordenen Bischofsstuhl von Sevilla zu besetzen. Die folgenden Jahre waren geprägt von Auseinandersetzungen mit dem Arianismus, eine theologische Richtung, welche ihren Namen von ihrem Begründer Arius (ca. 260–327 n. Chr.) herleitete. Während das Konzil von Nikaia im Jahr 325 ausdrücklich die Wesensgleichheit von Gott-Vater und Gott-Sohn betont hatte, sah Arius in Jesus ein von Gott aus dem Nichts geschaffenes Wesen, dem eine Mittlerrolle zwischen Gott und der Menschheit zukam. Kurzum, Jesus wäre demnach nicht gottgleich, sondern lediglich gottähnlich. Diese Sicht hatte den Vorteil, dass sie viel leichter zu verstehen war, als die Lehre von einem dreifaltigen Gott. Kein Wunder deshalb, dass der Arianismus sich in weiten Teilen des Reiches durchzusetzen vermochte. Allerdings enthielt auch die arianische Theorie mancherlei Gedankenhürden. Von nichts kommt nichts – so ein schon in der Antike viel zitiertes Axiom. Wie konnte dann ein gottähnliches Wesen »aus dem Nichts« geschaffen werden? Und warum sollte man zu Jesus beten, wenn er doch bloß eine Mittlerinstanz darstellte? War es da nicht besser, sich gleich an Gott zu wenden?

Die plausiblere Theorie erwies sich bei genauem Hinsehen nicht als die bessere. Und so vermochte sich unter der Regierungszeit des Bischofs Leander nach langwierigen Diskussionen und teilweise nicht gerade handgreiflichen, aber doch handfesten Auseinandersetzungen am Ende die Einsicht durchzusetzen, dass es wohl angemessener sei, sich zum dreieinigen Gott zu bekennen, der als Schöpfer, als Mensch gewordener Erlöser und als Geisterfüllender die Gemeinschaft mit den Menschen suchte.

Als Leander um 600 verstarb, waren die Kämpfe gegen den Arianismus gegenstandslos geworden, ganz einfach deshalb, weil es in dieser Hinsicht nichts mehr zu bekämpfen gab.

Isidor war zu diesem Zeitpunkt genau vierzig Jahre alt und von solcher Gelehrtheit, dass man ihn für doppelt so alt hätte halten können. Begreiflich deshalb, dass das Volk den allseits Hochgeschätzten zum Bischof berief.

Sein Bruder hatte ihn schon längst zum Priester geweiht. Bei dessen Hinscheiden stand er bereits seit zehn Jahren als Abt einem Kloster vor. Als solchem lag ihm nicht nur die Glaubensverkündigungam Herzen, sondern (womöglich weit mehr?) die Förderung der Wissenschaften – auch der profanen.

Als Bischof hatte der Neuerwählte die Möglichkeit, sich für das Bildungswesen noch mehr einzusetzen. Ein besonderes Anliegen waren ihm die Schulung des Klerus, der Bau von Schulen und die Gründung von Bibliotheken. Von seiner eigenen Forschungstätigkeit zeugen eine ganze Anzahl von Schriften, die ihm schon zu Lebzeiten den Ruf eines Bestsellerautors eintrugen.

 

Unter anderem verdankt die Nachwelt ihm eine Chronica Majora, eine Größere Chronik, welche den Anspruch erhebt, eine Geschichte der Menschheit darzustellen, angefangen von der Schöpfung bis zum Jahr 615, ferner eine Historia Gothorum, eine Geschichte der Goten und ein Buch mit dem Titel De viris illustribus, Über die bedeutenden Männer, das auf einer gleichnamigen Schrift des Hieronymus beruht und dessen Werk unter besonderer Berücksichtigung spanischer Schriftsteller weiterführt. Und sein Werk mit dem nichtssagenden, ja geradezu banalen Titel Sententiarum Libri Tres (die Drei Bücher der Aussagen), gilt als erstes Handbuch christlicher Lehre und Ethik der römischen Kirche.

Seine Schriftstellerei betrieb der Bischof von Sevilla keineswegs als Hobby. Vielmehr steckte dahinter ein Programm. Und das lässt sich mit einem einzigen Wort umschreiben: Bildung. Am deutlichsten zeigt dies sein Hauptwerk, mittels dessen er es schaffte, den herausragendsten Geistesgrößen des Mittelalters zugezählt zu werden.

Das besagte Buch ist ›lediglich‹ ein Nachschlagewerk; gewissermaßen handelt es sich um den ersten ›Brockhaus‹ der abendländischen Geistesgeschichte.

Der Titel dieses Jahrtausendkompendiums wurde bereits erwähnt: Etymologiarum sive originum libri viginti. Zu Deutsch: Zwanzig Bücher der Etymologien [d. h. über die Bedeutung der Dinge]. Darin versucht der Verfasser das gesamte profane und religiöse Wissen seiner Zeit zu vereinen. Natürlich vermochte er das nicht allein, sondern war von einem ganzen Mitarbeiterstab von Mönchen umgeben. Unter diesen spielte einer von Isidors Schülern, ein gewisser Braulio, eine Schlüsselrolle; er wurde später Erzbischof von Saragossa.

Im Lauf von drei Jahrzehnten wuchs diese erste Realenzyklopädie der Menschheitsgeschichte auf zwanzig Bände an. Im Gegensatz zu unseren heutigen Lexika ist Isidors Mammutwerk nicht alphabetisch, sondern nach Themen geordnet. Es beinhaltet nicht nur den gesamten antiken Bildungskanon, will sagen eine Darstellung der sieben Freien Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie), sondern auch Fragen der Medizin, der Rechtsprechung, der Architektur, der Theologie und der Anthropologie. Darüber hinaus finden sich Abhandlungen über die Weltgeschichte, über Erdkunde, aber auch über Naturphänomene wie Sonnenfinsternisse oder Erdbeben …

Natürlich ist das alles nicht in Isidors Klostergarten gewachsen, sondern zum größten Teil den Werken anderer Schriftsteller entnommen, ein Vorgehen, für das wir heute den Begriff Copy-and-paste verwenden. Aber bevor all die unterschiedlichen Wissensgebiete in ein System und auf die Reihe gebracht werden konnten, musste sich einer mit den Quellen befassen und sich darin auskennen.

Als Isidor 636 verstarb, war sein Werk keineswegs abgeschlossen. Dies auch deshalb, weil der Verfasser im Lauf der Zeit immer wieder zu neuen Erkenntnissen gelangte, die zum Teil erhebliche Korrekturen am bereits Dargelegten erforderten. Oder weil sich aufgrund vorher noch unbekannter Quellen Ergänzungen und Überarbeitungen des bereits Bestehenden aufnötigten. Es war Braulio, der das Jahrtausendwerk schließlich vollendete, nachdem er weitere zwei Jahrzehnte daran gearbeitet hatte. Dank ihm vor allem mauserte sich Isidors Etymologie schließlich zum beliebtesten Handbuch für die Studenten des Mittelalters. Und war so über Jahrhunderte hinweg als Standard-Nachschlagewerk in Gebrauch.

Erstaunen mag der Titel. Als Etymologie bezeichnen wir heute jene Wissenschaft, welche sich mit der Herkunft und Geschichte der Wörter und Begriffe befasst. In älteren Epochen verstand man darunter die Suche nach der ursprünglichen, also »wahren« (griechisch: étymos) Bedeutung eines Wortes und damit der dem Wort selber zugrunde liegenden Wahrheit. Isidor verdanken wir also auch die Einsicht, dass man sich zuerst einmal über die Begriffe verständigen muss, wenn man miteinander redet. Weil man nämlich sonst aneinander vorbeiredet.

Rätselhaft ist, warum ausgerechnet der Bücherfreund und Schriftsteller Isidor seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten im Gespräch als Schutzheiliger fürs Internet ist. Entsprechend seiner Neigung und im Hinblick auf seine Leistung würde er vermutlich lieber die Schutzherrschaft über Wikipedia übernehmen.

Die Leichensynodeoder Schändung der Totenruhe

Auf Hochverrat stand im Rom der Kaiserzeit die Todesstrafe. Nach der Hinrichtung wurde den Schuldigen das Begräbnis verweigert. Etwaige zu ihren Ehren errichtete Standbilder mussten zerstört werden. Den Angehörigen war es verboten, um die Verurteilten zu trauern oder Bildnisse von ihnen aufzubewahren. Alle diese Bestimmungen gipfelten in der damnatio memoriae, der vollständigen Auslöschung des Andenkens. Das bedeutet, dass die Namen der Verfemten – es handelte sich ja fast ausschließlich um illustre Persönlichkeiten – von allen öffentlichen Denkmälern entfernt und aus den Staatsakten getilgt wurden.

Später, als das Christentum dem angeblich zappendusteren Heidentum endgültig den Garaus gemacht und die Kirche die Macht an sich gerissen hatte, gehörte die Rache an den Toten keineswegs der Vergangenheit an. Da die Christgläubigen anfänglich Denkmäler für noch Lebende ablehnten, beinhaltete die von ihnen gepflegte damnatio memoriae naturgemäß die Tilgung des Andenkens. Dabei entwickelten die Kirchenführer zeitweise einen ausgeprägten Sinn für das Schauerliche und Makabere. Das abstoßendste und frevelhafteste Beispiel dafür bildet die berühmte Leichensynode, welche Papst Stephan VI. 897 in Rom inszenierte. Diese hatte jedoch, wie häufig bei scheinbar religiösen Auseinandersetzungen, überhaupt nichts mit dem Glauben, desto mehr aber mit Herrschaftsansprüchen und mit Politik zu tun.

Gegen Ende des 9. Jahrhunderts stritten der Markgraf Berengar von Friaul und der Herzog Guido II. von Spoleto in wüsten Kämpfen um die Herrschaft in Italien. Guido vermochte sich durchzusetzen. Vom Größenwahn gepackt, zwanger Papst Stephan V. 891, ihn zum Kaiser zu krönen. Das führte zu neuen Unruhen, weil Markgraf Berengar weiterhin nach der Krone strebte. Damals fragten sich viele, ob es überhaupt rechtens sei, dass der Papst italienischen Kleinfürsten die Kaiserwürde verlieh. War dieser Rang denn nicht ausschließlich den Nachkommen Karls des Großen vorbehalten, den Leo III. an Weihnachten des Jahres 800 zum Kaiser gekrönt hatte?

Stephan V. stirbt schon im September des Krönungsjahres. Zum Nachfolger gewählt wird Formosus, der 75-jährige Kardinalbischof von Porto. Der aber sympathisiert mit Berengar – und ist im Übrigen der Ansicht, dass die Kaiserkrone eher auf den Kopf des deutschen Königs Arnulf passe. Nach Guidos Tod eilt dessen Sohn Lambert nach Rom, begleitet von seinen Truppen, um vom Papst die Krone zu fordern. Formosus fügt sich dem Druck, ruft dann aber, kaum dass der Neuerkürte Rom verlassen hat, den deutschen König Arnulf zu Hilfe, um gegen die »schlechten Christen« von Spoleto vorzugehen und den arroganten Lambert abzusetzen. Arnulf marschiert gen Rom, Lambert flieht. Es ist dies das erste Mal in der abendländischen Geschichte, dass ein deutsches Heer Rom belagert, weil ein deutscher König sich die Kaiserkrone holen will. Formosus, von den Römern des Verrats bezichtigt und unter Hausarrest gestellt, wird von den deutschen Truppen befreit; zum Dank krönt er Arnulf im April 896 zum Kaiser.

Den neuen Herrscher hält es gerade drei Wochen in Rom, dann schnappt er sich zwei Adelige als Geiseln und bricht nach Spoleto auf, um Lambert zu bekriegen. Doch statt sich auf dem Schlachtfeld zu bewähren, übt sich der zu Ausschweifungen neigende Arnulf lieber in Bettschlachten, holt sich eine venerische Krankheit und zieht nach Regensburgweiter, wo er 899 stirbt.

Formosus indessen ist durch die Förderung des Deutschen bei den Römern in Misskredit geraten; schon einen Monat nach der Krönung, im Mai 896, lassen seine Kräfte nach; eine kurze Krankheit führt zum schnellen Tod. Sein Nachfolger Bonifaz VI. regiert gerade zwei Wochen; dann stirbt er unversehens. Ob er umgebracht wurde, ist umstritten.

Der nächste Papst, Stephan VI., Sohn eines römischen Presbyters und bis dahin Bischof von Anagni, ist eine Kreatur der Spoletaner. Solange Arnulf in Italien weilt, anerkennt ihn Stephan als Herrscher. Kaum jedoch hat der »nordische Barbar« Italien verlassen, schlägt der Papst sich auf die Seite des Schattenkaisers Lambert. Um diesem seine Anhänglichkeit zu beweisen, möglicherweise aber auch aus persönlicher Rachsucht gegenüber seinem Vorgänger Formosus, inszeniert Stephan in der Folge ein abscheuliches Schauspiel. Er beruft eine Synode ein. Kaum dass die Kardinäle, Bischöfe und andere geistliche und weltliche Würdenträger sich eingefunden haben, lässt er die Leiche des Formosus aus der Gruft reißen. Dann wird der bereits in Verwesung übergegangene Körper mit päpstlichen Gewändern bekleidet und im Lateranpalast auf einem Thron festgebunden; der Prozess kann beginnen.

Erster und wichtigster Anklagepunkt bei diesem frevelhaften Totengericht: Formosus wurde gegen das geltende Recht zum Papst gewählt. Wie bereits erwähnt, war dieser, bevor er den Stuhl Petri bestieg, Erzbischof von Porto. Nun erinnerte man sich plötzlich wieder an weit zurückliegende und längst überholte Entscheidungen früherer Kirchenversammlungen, welche verboten, einen Bischofssitz mit einem anderen zu vertauschen. Ebendies aber habe Formosus sich zuschulden kommen lassen, indem er, angeblich aus Ehrgeiz, von Porto nach Rom wechselte – ergo sei seine Wahl null und nichtig. »Weshalb«, so der lebende zu dem schon verwesenden Papst, »hast du aus Ehrsucht den apostolischen Stuhl usurpiert, da du doch Bischof von Porto warst?«

Wohl hat man dem Toten einen Anwalt zugestanden, der für ihn spricht. Aber der übt sich wohlweislich in Zurückhaltung, weil er befürchten muss, dass man sonst auch mit ihm kurzen Prozess macht … In der Folge erklärt die vor der Papstleiche tagende Synode sämtliche von Formosus vollzogenen Weihen und Amtshandlungen – somit auch Arnulfs Krönung – für ungültig. Anschließend unterschreiben die Versammelten ein Absetzungsdekret, während der Henker der Leiche die drei Segensfinger der rechten Hand abhackt. Dann wird der Verurteilte vom Thron gerissen, durch die Straßen Roms geschleift und in den Tiber geworfen.

Stephan bringt die Leichensynode (wie diese ruchlose Versammlung schon bald genannt wird) kein Glück. Da er alle systematisch verfolgt, welche Formosus in ihre Ämter eingesetzt hat, wächst die Zahl seiner Gegner. Diese verehren den Vorgänger wie einen Märtyrer und bald geht die Rede, dass Rom seinen Wohltäter geschändet habe. Die deutschfreundliche Partei gewinnt zunehmend Sympathisanten und wagt den Aufstand. Stephan wird gefangen gesetzt und im Kerker erdrosselt.

Die geschändete Leiche des Formosus hingegen wird später von Fischern aus dem Tiber gezogen und in Alt-Sankt-Peter ehrenvoll beigesetzt. Das Grabmal fiel (wie das so vieler anderer Päpste) im 16. Jahrhundert dem Neubau der Peterskirche zum Opfer. Abgesehen von einem Porträt im Kranz der Papst-Rundbilder, die das Mittelschiff der Basilika San Paolo fuori le Mura zieren, erinnert in Rom kein Monument und keine Inschrift an Formosus.

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