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Die SoKo KILO MIKE stand auf. Es passierte nicht jeden Tag, dass der Polizeipräsident Hendrik Mann vorbeikam. »Guten Morgen, meine Damen und Herren! Danke, dass Sie alle so intensiv arbeiten, um einen Fall zu lösen, der die Republik bewegt. Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen. Wie ist der Sachstand, Joe?«

Joe Weber, der Leiter der SoKo übernahm.

»Ich begrüße zunächst die Kollegen vom Bundeskriminalamt. Wir haben über einhundert Hinweise aus der Bevölkerung bekommen. Die meisten zu dem veröffentlichten Fahndungsfoto und zum verlustigen Teddybären.«

Auf dem Bildschirm Fotos von dem in der Öffentlichkeit bereits titulierten Kapuzenmann und dem Teddybären. Jelke hatte von diesem Bärchen glücklicherweise ein privates Foto zur Verfügung stellen können.

»Bisher leider kein einziger Hinweis, der zu einer brauchbaren Spur führen könnte. Im Kinderwagen fanden wir Blut. Es ist aber gesichert, dass dieses nicht das Blut von Pia ist, sondern das der Mutter. Der oder die Täterin hatte offensichtlich Blut an der Hand, vermutlich am Handschuh, als das Kind aus dem Kinderwagen genommen wurde. Das Baby war mit einer Decke geschützt, die ebenso fehlt.«

»Wie könnte sich die Täterperson mit dem Baby entfernt haben, Joe?«

»Vermutlich nicht zurück durch den kleinen Park, dann hätten wir ein Kamerabild, sondern eher direkt zur Straße in ein bereitstehendes Auto. Da ein Bezug zu Ali Naz vorliegt, haben wir uns auch auf Fluchtmöglichkeiten ins Ausland konzentriert. Es gibt weder einen Hinweis für eine Flucht auf dem Wasser- noch über den Luftweg. Wir halten es für wahrscheinlicher, dass die Täterperson sich im regionalen Umfeld befindet oder sich über die Straße ins benachbarte Ausland abgesetzt hat.«

»Danke, Joe. Herr Anderson hatte durch seine Arbeit vielfältige Berührungspunkte zur islamistischen Szene. Wie sind hier die Ergebnisse?«

»Das BKA hat uns eine aktuelle Liste über alle bekannten Rückkehrer des sogenannten Islamischen Staates gegeben. Die Datenauswertung ist noch nicht abgeschlossen. Vier Tage vor der Tat wurde diese irakische Frau nach der vollständigen Verbüßung einer vierjährigen Haftstrafe aus der JVA entlassen. Sie gilt als nicht resozialisiert, bereut nichts und wird als Gefährderin eingestuft. Auch hier kein Treffer mit den Spuren am Tatort. Außerdem hat die Frau ein hieb-und stichfestes Alibi.«

Während Joe Weber vortrug, wurde ihm von einem BKA-Beamten ein Zettel gereicht. Er atmete erleichtert durch.

»Offensichtlich gibt es einen ersten konkreten Hinweis. Von einem ausländischen Nachrichtendienst wurde eine Nachricht mit dem Text abgefangen. Ich lese vor: »Perfekt. Phase zwei wird vorbereitet. Allah umarmt dich.«

Die Nachricht wurde aus dem Libanon an einen unbekannten Empfänger abgesendet.«

Er las Datum und Uhrzeit vor.

»Moment mal!«, sagte Ganter Holms. Er sah in seinen Kalender: »Das war doch zum Zeitpunkt der Trauerfeier in der Kirche!«

»Na prima«, meinte Joe Weber, »dann nehmen wir uns doch einmal alle Besucher der Trauerfeier vor. Haben wir davon Bildmaterial?«

»Ja«, meinte eine Beamtin, »ich hatte den Auftrag, alle Personen nach Beendigung des Gottesdienstes zu filmen. Das Material ist noch nicht ausgewertet.«

»Dann aber bitte mit Vollgas!«, sagte Joe Weber, »und außerdem eine Überprüfung aller Personen, die im unmittelbaren persönlichen Umfeld zu Marc Anderson stehen, also auch sein Team.«


Marc strich liebevoll über das Urnengrab, nahm etwas Erde in die Hand und lies sie langsam durch die Finger gleiten. Wieder und wieder rieselte die Erde durch seine Finger. Er versuchte, zu ihr dort in dem Grab eine Beziehung aufzubauen. Doch wie er sich auch anstrengte, anders als in der Leichenhalle gelang es nicht. Sie war nicht in diesem Grab, sie war in der kleinen Metalldose vor seinen Beinen. Trotzdem konnte er sich von dem Erdhaufen mit dem schlichten Holzkreuz, auf dem ihr Name eingebrannt war, nicht lösen. Er fixierte das Kreuz.

So wie die ihn beobachtende Person ihn fixierte.

Marc nahm die Dose in die Hände.

Ich werde mit dir überall dort hinfahren, wo wir waren … überall werde ich etwas Asche verstreuen und …

Seine Gedanken verloren sich und sein Kopf sackte erneut nach unten. Er stammelte »Marie«, wollte weinen, aber es kamen keine Tränen mehr.

Hinter den Bäumen trat die Person langsam vor, das Messer fest in der Hand, die Augen wie ein Laserstrahl auf den Hinterkopf des Opfers gerichtet.

Doch langsam löste sich die Hand vom Messer.

… Du bist noch nicht dran, Marc Anderson … leider … Aber auf dich wartet die Hölle auf Erden … Dein Tod wird schlimmer sein, als du es dir je vorstellen könntest … Bis dahin werden wir dein ständiger Begleiter sein …


»Hat euch mein Bild vom Teddybären weitergebracht?«, fragte Jelke. Ganter schüttelte verneinend den Kopf. Er blieb schweigsam, denn mit der Weisung seines Vorgesetzten musste jeder aus dem persönlichen Umfeld von Marc Anderson überprüft werden. Dazu gehörte, und Holms fand den Schluss geradezu entsetzlich, auch Jelke, Karina Maries beste Freundin und Patentante von Pia. Er hasste Ermittlungsarbeit, wenn es mehr um Aktivismus als um Sinnhaftigkeit ging. Es würde wieder eine reine Formsache sein, dann war Jelke abgehakt, so wie auch Marcs Leute, da war er sicher.

»Wie schätzt du seine psychische Situation ein?«, fragte er. »Ich bin mir nicht sicher, Ganter«, antwortete sie und nahm einen Schluck Cappuccino.

Ganter, in seinem gelben Kaschmirpullover, schwarzen Jeans und legerem Schal, sah man hier im gut besuchten Elbterrassen-Café nicht an, dass er ein ermittelnder Kriminalbeamter war. Vielleicht hatte er sich aber auch nur für Jelke so herausgeputzt, die in ihrem blauen Blazer mit einem weiß-blauen Halstuch und den kleinen diamantenen Ohrringen unter ihrer als Zopf gebundenen, blonden Haarpracht bezaubernd aussah.

»Bisher ist das gezeigte Verhalten noch nachvollziehbar«, sagte sie, »aber wenn man Marc so kennt wie ich, dann macht das doch große Sorgen. Er ist komplett anders, vollkommen aus der Bahn geworfen. Alles, was ihn ausmachte, scheint fort zu sein.«

»Meinst du, dass er traumatisiert ist?«

»Natürlich ist er das. Frage ist nur, wie stark und wie lange das anhält. Wir haben in der Krisenintervention üblicherweise mit dem Typ I – Monotrauma zu tun, das heißt, wir behandeln die Folgen einer kurzzeitigen und einmaligen Einwirkung und hoffen, dass durch unser Wirken Symptome wie Angst, Traurigkeit, wiederkehrende Bilder und Schlafstörungen, vorbeigehen.«

»Nun ‘mal langsam, Jelke. Es sind gerade zehn Tage vergangen. Er kommt schon wieder.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Normalerweise halten die Symptome in einer akuten Belastungssituation etwa ein bis zu drei Wochen an und klingen dann allmählich ab. Wenn das sechs Wochen oder länger dauert und sich die Symptome immer noch nicht reduzieren, ist das eine gravierende Trauma-Folgestörung im Sinne einer Erkrankung. Das muss man ernst nehmen, Ganter. Verschleppte und nicht behandelte Symptome könnten ihn grundlegend verändern.«

»Gibt es denn dafür Anzeichen?«, fragte Holms.

»Mir fällt auf, dass er nicht mehr weint. Aber er weint unaufhörlich nach innen. Kennst du so etwas, wenn einer leidet, sich abkapselt und unendlich traurig ist? Marc ist von Grund auf lebensfroh und kommunikativ. Deswegen mache ich mir Sorgen über den weiteren Verlauf.«

»Du meinst, das könnte auf eine posttraumatische Belastungsstörung hinauslaufen?«

»Ich fürchte ja. Eine PTBS ist nicht auszuschließen. Damit wäre er ein Typ II-Trauma-Fall, aus dem man ohne professionelle Hilfe nicht herauskommt. Aber ich bin keine Psychotherapeutin, ich kann das nicht beurteilen. Vielleicht höre ich unnötige Alarmglocken. Ich weiß nur, dass Marc mir unendlich leid tut, und ich merke, dass ich emotional doch stärker im Fall bin, als ich dachte. Die Organisation der Beerdigung hat mich abgelenkt, aber jetzt geht es mir auch nicht gut.«

Ganter hatte das kommen sehen. Es konnte einfach nicht funktionieren, schon gar nicht bei Jelke.

»Wirst du ihn weiter als Notfallseelsorgerin begleiten? Das wirst du nicht, oder doch?«

»Nein Ganter, erstens ist das nicht unser Job, wir sind nur für die Erstintervention da, außerdem habe ich mich entschieden, ihm privat zur Seite zu stehen, damit er die Kurve bekommt. Ich bin das meiner Freundin schuldig. Das lässt sich mit einem weiteren Notfallseelsorgeeinsatz nicht vereinbaren. Geht gar nicht, will ich auch nicht. Ich würde unverzeihliche Fehler in der Beratung machen.«

Die Terrasse war inzwischen bis auf den letzten Platz besetzt. Ganter drehte sich aus alter Gewohnheit um. Er sah im Augenwinkel etwas weiter entfernt einen Mann mit einer Kamera.

»Lass’ uns zahlen, Jelke. Es kann sein, dass wir die Medien am Hals haben. Die Meute ist auf der Jagd nach einer Story.« Sie nickte, blickte sich nach einer Weile dorthin um, wohin Ganter geschaut hatte. Da war nichts zu sehen.

Ganter zahlte und registrierte ebenfalls, dass die Person verschwunden war.

»Vielleicht galt es nicht mir. Pass’ du bitte auch gut auf, Jelke. Du bist seit der Sache mit dem Kinderwagen in der Kirche stadtbekannt.«

 

»Ich weiß«, sagte sie. »Das ist auch ein weiterer Grund, warum ich mir keinen Notfallseelsorge-Einsatz mehr bei Marc leisten kann. Wir arbeiten still und gehen am liebsten anonym aus dem Einsatz heraus.«

»Gute Entscheidung, Jelke. Zurück zu Marc Anderson. Vielleicht kann man ihm etwas Gutes tun. Wir kooperieren mit einer Psychotherapeutin aus Norderstedt. Nicht mit irgendeiner, sie ist besonders. Sie fliegt, schießt und ist sportlich. Wir haben sie über ein Schießtraining kennengelernt und sie hat sich in Abwehrtechniken ausbilden lassen.«

»Etwas ungewöhnlich für eine Psychologin«, meinte Jelke.

»Wohl wahr. Erst später haben wir erfahren, was sie beruflich macht und ihr eine Zusammenarbeit angeboten. Wir haben sie mehrmals beim Täter-Profiling dazu geholt, soll heißen, sie steht bei uns auf der Notfallliste für akute Einsätze. Diese Frau weiß also, wie Menschen in Ausnahmesituationen ticken.«

»Aber ihr habt doch eure eigene Psychologin bei der Polizei.« »Haben wir: Kollegin Anita Volpert. Sie ist gerade mit der Ausbildung fertig und froh, dass es Daniela gibt. Sie hat ihr einige Fälle übergeben. Alle von der Psychotherapeutin betreuten Kollegen sind wieder im Dienst.«

»Das scheint ja eine Wunderwaffe zu sein. Weißt du, wie sie arbeitet?«

»Sie therapiert systemisch, schaut also primär auf das Jetzt, soll heißen: auf das akute Problem. Und sie arbeitet wohl auch mit Hypnose.«

»Das klingt spannend. Könnte zu Marc passen. Schickst du mir bitte ihre Adresse?«

»Nicht nötig.«

Er kramte in seinem Portemonnaie und gab ihr eine Visitenkarte.

»Danke, Ganter, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder?«

»Mit Sicherheit, liebe Jelke.« Er gab ihr einen Wangenkuss und sprang in den Wagen. Sie blickte ihm überrascht nach. Das hatte er noch nie getan. Es war ihr überhaupt nicht unangenehm.

Als sie ihre Wagentür aufmachte, sah sie auf der anderen Straßenseite eine Person mit einer Kamera auf sie gerichtet.


Das Tunnelversteck der Feinde Israels in der Bekaa-Ebene inmitten des Dreiländerecks Libanon, Syrien und Israel hätte nicht besser sein können. Gesichert als militärisches Sperrgebiet der Hisbollah, nach oben getarnt und durch die berühmten Tempelanlagen geschützt, die seit 1984 als Weltkulturerbe der UNESCO gelten. Denn sie enthielten mit dem Jupiterheiligtum, dem bis auf das Dach fast vollständig erhaltenen Bacchustempel und dem Rundtempel mit seiner einmaligen Formgebung einige der größten und am besten erhaltenen Bauten der römischen Kaiserzeit. Niemand würde es wagen, das Hauptquartier von Talimaan zu bombardieren, sollte es jemals entdeckt werden. Diese Möglichkeit gäbe es nur durch Verrat.

Die von den zweitausend Jahre alten Steinen tief beeindruckten Touristen hatten keine Ahnung, dass sie über eine High-Tech-Kommandozentrale liefen.

Talimaan war an einem wichtigen Meilenstein seiner neuen Karriere angelangt. Er erwartete den Hamas-Kommandanten Generalmajor Nour Majed Metzbah aus dem Gazastreifen mit einer Delegation von vier hochrangigen Offizieren zu einem strategischen Gespräch. Wenn es erfolgreich verlaufen würde, wäre der Traum, den Erzfeind Israel zu vernichten, in greifbare Nähe gerückt.

Metzbah war mit seinen Männern vom wiederhergestellten internationalen Flughafen Jassir Arafat gekommen, der vom Golfstaat Katar errichtet worden war, nachdem sich die Fatah und Hamas endlich darüber geeinigt hatten. Doch sie waren nicht nach Beirut geflogen, sondern auf einen Privatflughafen nach Jordanien, in die Nähe der syrischen Grenze. Dafür hatten sie Kommunikationskanäle benutzt, die nach dem Verbot der Hamas durch Jordanien nie versiegt waren. Vielleicht auch, weil Jordanien dieses Verbot nachträglich als Fehler erkannt hatte.

Am Flughafen, der aus nicht mehr als einer eintausendsechshundert Meter langen Piste, einem eher provisorischen militärischen Tower und einer heruntergekommenen Baracke bestand, warteten zwei Toyota-Hi-Lux-Pick-Ups, unter deren Hardtops genügend Waffen verborgen waren, um sich notfalls den Weg freizuschießen. Doch das sollte sich als unnötig erweisen. Unter Umgehung der Fernstraße M5 waren sie über Umwege und ohne Probleme in einer Tagesfahrt zur Bekaa-Ebene gelangt.

Die Hamas hatte den Transit präzise vorbereitet. So passierte die Delegation die syrischen Kontrollposten ohne Probleme. An der Grenze zum Libanon wurde sie von Hisbollah-Soldaten oberflächlich geprüft. Diese Soldaten gehörten bereits der neuen Untergrundbewegung an. Die Delegation wechselte die Fahrzeuge und fuhr mit Armeefahrzeugen, nun unter dem Schutz von Talimaan, in die Nähe von Baalbek.

Sie hatten im militärischen Sperrgebiet zwei Sicherheitsringe passieren müssen. Der letzte war ein durch Bäume getarnter Tunneleingang, an dem sechs vermummte Soldaten standen, die ihnen bedeuteten, alle Waffen abzulegen. Das geschah höflich und war auch von der Delegation im Grunde so erwartet worden.

In dem etwa acht Meter hohen Tunnel, der breit genug war, dass ihn Fahrzeuge durchqueren konnten, fuhren sie ohne jegliche Begleitung auf einer Schiene mit einem E-Transporter etwa zwei Kilometer in ein spärlich beleuchtetes unterirdisches Tunnelsystem hinein, das eine Selbstorientierung vollkommen ausschloss.

Wären nicht die Falltüren gewesen, die sich gespenstisch nach oben bewegten, sobald der Transporter in die Nähe kam, hätte man glauben können, sie wären in einem verlassenen, verstaubten Bergwerk, zumal ab und zu Ratten vorbeihuschten, die anscheinend von diesem Teil der Anlage Besitz ergriffen hatten.

Vor der letzten Tür standen zwei Wachen, die außer Salutieren und dem Öffnen einer großen metallenen Flügeltür scheinbar keine Funktion hatten. Die Tür zierte ein abgewandeltes Emblem der Hisbollah mit den goldenen Initialen »A.N.«

Sie stiegen aus, gingen durch die Tür, und das Team stand unvermittelt in einer Kommandozentrale, ausgestattet mit einem riesigen Lagetisch, an dem Soldaten an Computern und in den Tisch eingelassenen Touch-Screen-Monitoren arbeiteten und sie kaum beachteten. Ein Bildschirm zeigte ihr fahrendes Fahrzeug in einer Aufzeichnung. Auf anderen Screens Bilder von strategischen Orten in Beirut, der Grenze nach Israel und Syrien, von Flug- und Seehäfen und von einem militärischen Ausbildungslager. Auf einem Vier-Quadranten-Monitor wechselten Bilder von Technikern, die an einer Rakete arbeiteten.

Metzbah versuchte sich ein Bild über die Zielsetzung der Informationen zu machen, doch die war nicht zu erkennen. Oberflächlich sah es wie die Vorbereitung eines Angriffes auf kritische Infrastrukturen im Libanon aus.

Er war von der Technik dieses hochmodernen Einsatz- und Führungszentrums verblüfft, das dem Situation Room, dem Lagezentrum im Weißen Haus, alle Ehre gemacht hätte.

Sie hatten das Lagezentrum fast durchschritten, als er noch kurz CNN-Bilder vom US-Präsidenten Summerhill im Oval Office zusammen mit Tochter und Enkelkindern registrierte. Metzbah kannte die Gesichter seit der versuchten Entführung auf dem Atlantik. Klar, wen er gleich treffen würde.

Die Gruppe wurde von einem Offizier übernommen, der sich als persönlicher Assistent von Talimaan vorstellte. Sie verließen die Führungszentrale und gelangten in einen neuen Raum.

Talimaan, der den gesamten Weg der Delegation auf Monitoren verfolgt hatte, erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Er trug eine dünne schwarze Aba, ein Übergewand, das vom Hals bis zu den Füßen reichte und ihm eine religiöse Aura verlieh. Hinter ihm ragten zwei riesige Standfahnen in den Raum.

Generalmajor Metzbah war einen Augenblick versucht, seinen Blick abzuwenden, aber das wäre unhöflich gewesen. So sah er fest in das vermutlich entstellte Gesicht eines Mannes, das einseitig durch ein Tuch verhüllt war, dessen Mund nur durch einen Schlitz zu sehen war und der majestätisch mit einer Hand vor dem Herzen vor ihm stand. Einen Augenblick musterten sich beide regungslos.

»Sei gegrüßt, Bruder. Ich hoffe, ihr hattet eine unbeschwerte Anreise.«

Metzbahs Gesicht durchzog ein leises, befreites Lächeln. Die Mission in die Höhle des Löwen war brandgefährlich. Aber er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, in eine Falle zu geraten. Dafür waren die gemeinsame Interessenslage und die intensive Vorbereitung dieses Treffens zu groß.

Von diesem Talimaan ging tatsächlich eine Strahlkraft aus, die bis in den Gazastreifen vorgedrungen war. Metzbah konnte diese Aura noch nicht deuten. War es die vermutete Verkrüppelung, das schlichte Gewand ohne jeglichen Uniformbezug oder die fast geräuschlose Arbeitsatmosphäre in dieser hochmodernen unterirdischen Festungsanlage?

Die Delegation nahm an einem reichlich mit Essen gedeckten Tisch Platz. Soldaten servierten diskret aus dem Hintergrund. Man startete mit den üblichen Floskeln, bis Metzbahs Miene ernst wurde.

»Ich sehe, du hast dich gut eingerichtet, Talimaan. Wir wollen keine langen Vorreden. Meine Führung hat mich autorisiert, mit dir, deinem Wunsche entsprechend, über die Möglichkeiten einer sehr intensiven Zusammenarbeit zwischen Hamas und Hisbollah zu sprechen. Zunächst bitten wir dich, uns einen umfassenden Bericht über deine Stärke und Pläne zu geben.«

Talimaan, der bis dahin keine drei Sätze gesprochen hatte, schwieg auch jetzt. Er drückte auf einen Handsender. Ein Offizier kam aus dem Lagezentrum, verbeugte sich kurz, ein Vorhang vor einem riesigen Monitor öffnete sich und der Offizier zeigte ein komplettes Truppen-Lagebild. Aufnahmen von iranischen und russischen Panzern, von iranischen Raad-3 Raketen mit Reichweiten bis zu 400 Kilometern sowie Batterien mit sowjetischen Mehrfachraketenwerfern im Einsatz. Talimaan sah das Erstaunen in den Gesichtern der Hamas-Delegation und ergriff jetzt direkt das Wort:

»Seit dem Kurswechsel im Iran haben sich bereits über sechzig Prozent der Hisbollah vom Iran losgelöst, der für unsere Brüder und Schwestern längst keine Islamische Republik mehr ist, sondern ein dekadenter westlicher Ableger der Feinde Allahs. Wir sind inzwischen über dreißigtausend Kämpfer, haben politische und militärische Schlüsselpositionen in Beirut und Damaskus besetzt und werden hier im Dreiländereck eine neue Islamische Republik gründen.«

Das saß. Die Besucher hatten davon gehört, aber jetzt war es im O-Ton.

»Doch ich möchte euch noch ein paar Daten mit auf den Weg geben. Wie ihr wisst, zählte die Hisbollah schon vor meinem Erscheinen zu den am besten ausgerüsteten Armeen in der Welt. Wenn die gesamte Hisbollah gänzlich zu uns übergelaufen ist, und das sehe ich kurzfristig, besitzen wir ein Arsenal von über 140.000 Raketen und Flugkörpern, darunter über eintausend C-802 Marschflugkörper, die alle wichtigen Objekte in Israel vernichten werden. Sie fliegen unter Schallgeschwindigkeit, können nicht gestört werden und haben eine Treffergenauigkeit von 98 Prozent. Doch das ist nicht alles. Seht hier!«

Es folgten Bilder von einer Fabrik mit chemischen Kampfstoffen, ein Ausbildungslager mit Soldaten in ABC-Schutzausrüstung sowie ein Feldflugplatz mit Kampfhubschraubern.

Metzbah war beeindruckt. »Und habt ihr wirklich die Fähigkeit zur Herstellung von nicht-konventionellen Waffen? Das wäre allerdings eine Sensation.«

»Biologisch nein, zu kompliziert in der Herstellung und Lagerung, aber wir arbeiten daran. Chemische Waffen, ja. Wir verfügen dank Syrien über ein ausgefeiltes Arsenal chemischer Kampfstoffe. Atomar ebenfalls ja. Wir können die Raad 3-Raketen wahlweise mit chemischen Kampfstoffen und atomaren Einsatzmitteln bestücken …«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »und auch diese hier.«

General Metzbah richtete sich plötzlich auf. Er konnte es kaum glauben. Auf dem Bildschirm erschien eine Batterie mit iranischen Shahab 3-Raketen, ganz offensichtlich im Besitz von Talimaans Milizen. Jetzt konnte er auch die TRG-Fahnen auf den Bildern deuten, wie die hier im Raum. Talimaans Revolutionäre Garden. Er hatte offensichtlich vor, die Hisbollah-Kämpfer auf seine Person einzuschwören.

Metzbahs Gedanken rasten. War Talimaan klug oder größenwahnsinnig? Oder beides? Der Mann hielt sich zweifelsfrei für unsterblich. Nun gut, das war seine Sache. Am Ende würde ihrer aller Sieg zählen. Metzbah war hier, um herauszufinden, ob man auf den starken Talimaan setzen konnte.

»Liebe Brüder«, erklärte Talimaan pathetisch, »ihr seht die Shahab-Raketen mit Atomsprengköpfen ausgerüstet. Flugzeit direkt in das Herz von Israel in weniger als zehn Minuten. Diese Hisbollah-Raketen sind der Grund, warum die USA und Israel so nervös sind und massiv in ihre Luftverteidigung mit Arrow 3-Raketen investieren. Aber ich sage euch, sie hinken längst hinterher!«

 

»Warum bist du dir so sicher, Talimaan? Dieses Gebiet ist voller israelischer Spione. Sollte Israel auch nur den Hauch einer existentiellen Gefahr spüren, werden sie euch mit einem Erstschlag vernichten.«

»Das wird nicht geschehen, Bruder. Sie trauen der Hisbollah keinen Erstschlag zu. Wir ihr wisst, hatte die Hisbollah trotz der enormen Stärke nie den politischen Willen, vernichtend zuzuschlagen, weder proaktiv noch reaktiv. Die Israelis wissen das, und so schießt man ein bisschen hin und zurück. Reine Drohgebärden, keine Strategie!

Ich aber werde meine neue Stärke nutzen und wie ein Blitz aus dem Dunklen kommen. Mein militärisches Konzept ist an russischen Plänen zur Besetzung des Baltikums angelehnt. Nur mit dem Unterschied, dass wir Israel in wenigen Stunden in Schutt und Asche legen. Der Feind wird das Heulen unserer Raketen hören, und bevor er reagieren kann, ist er neutralisiert! Denkt an Hiroshima! Wer durch die Detonation nicht umkam, starb durch die Druckwelle, das Feuer und die radioaktive Verstrahlung. Alles Leben wird auf einen Schlag ausgelöscht, und das Land weit über unser aller Leben hinaus unbewohnbar sein!«

General Metzbah hielt diese Strategie für selbstmörderisch. Hier würde es noch erheblichen Klärungsbedarf geben, aber zunächst beließ er es bei der Frage: »Was denkst du, werden die Amerikaner danach anstellen, Talimaan?«

»Die USA und besonders der friedliebende Präsident Summerhill werden keinen Zweitschlag von ihren Flugzeugträgern und U-Booten riskieren, denn sie kennen die nuklearen Fähigkeiten der Hisbollah. Nach unserem Sieg kennen sie auch mich. Die Amerikaner werden einfach verschwinden. Allahu Akbar!«

Metzbah kannte die Stärke der Hisbollah, aber jetzt war er doch überrascht, wie weit Talimaan die Waffen in seine Garden integriert hatte, und wie weit er vorgedacht hatte. Talimaan personifizierte eine religiös motivierte Mission gegen den Erzfeind Israel mit der Präzision eines Generalstabschefs. Das hatte es so noch nie gegeben. Nie zuvor erschien General Metzbah der Sieg über das verhasste Israel so nah.

Er war mit seiner Voraufklärung zufrieden. Die Informationen erschienen glaubhaft und überzeugend. Wenn Talimaan ein kritisches Problem hatte, dann war es der Zeitfaktor. Er musste handeln, bevor die Israelis das Ausmaß der Gefahr erkannten.

»Ich sehe, wie stark du bist, aber warum brauchst du uns, die Hamas, Bruder?«

Talimaan ließ zunächst einen weiteren Gang Essen und Getränke servieren.

Sie kamen nun zum Kern des Treffens.

»Ich finde, dass ihr schon zu lange Jahre im Gazastreifen isoliert seid. Eure Kriege waren trotz eurer heroischen Taten erfolglos. Ihr werdet wirtschaftlich von Israel kleingehalten, könnt euch nicht bewegen und schießt Pfeile, deren Spitzen stumpf sind.«

»So kann man es sagen«, bestätigte General Metzbah.

»Wir möchten euch helfen, und ihr könnt uns helfen, denn wir haben dasselbe Ziel«, setzte Talimaan fort, »ihr könnt endlich euer freies Palästina haben, indem wir uns erst militärisch und dann politisch verbünden, zu einer neuen Islamischen Republik.«

»Trotzdem habe ich nicht verstanden, warum du die Hamas militärisch benötigst.«

»Sehr einfach. Wenn du gestattest, möchte ich dir das in drei Punkten erläutern. Erstens, eure Teilnahme erlaubt mir einen Zwei-Fronten Angriff. Ihr habt ein ausgefeiltes Tunnelsystem, aus dem ihr eure Raketenwerfer herausholen könnt und zur vereinbarten Zeit zuschlagt. Dadurch werden die Israelis abgelenkt. Sie werden denken, es sei wie immer. Kurz darauf kommen wir aus der Luft und rücken mit Panzern nach. Zeitgleich schlagen eure großartigen Quassãm-Brigaden zu.«

Eine Karte zeigte in groben Linien den Aufmarschplan auf einer Zeitachse von maximal zwölf Stunden. Talimaan sah zufrieden die begeisterte Reaktion bei seinen Gästen.

»Zu Punkt zwei. Ich sehe mit Freude, dass ihr euch mit der Fatah ausgesöhnt habt, die wiederum über die kampfstarken Al-Aksa-Brigaden verfügt. Sie werden uns militärisch sehr nützen und zugleich auch ein starkes politisches Signal nach außen in unserem gemeinsamen Kampf gegen Israel senden. Brüder, ich sage euch: Israel wird im Verbund von Hisbollah, Hamas und Fatah erdrückt! Der Albtraum unseres Feindes wird wahr!«

Die Delegation hing jetzt an den Lippen Talimaans. Was für ein Konzept! Was für eine militärische Macht! Was für ein Führer!

»Punkt drei, und der ist politischer Natur: Ihr werdet finanziell diskret aber stark von Katar unterstützt, eine Verbindung, die auch wir uns für unser Vorhaben wünschen. Der Emir ist weltpolitisch so wichtig, dass er sogar von den USA hofiert wird. Aber er ist klug, und er weiß deswegen, wer die wahren Freunde sind. Eine neue, länderübergreifende Islamische Republik dürfte auch in seinem Interesse liegen. Unser Sieg wird die zerstrittene Allianz der arabischen Liga vollkommen verändern. Syrien, Jordanien und der Libanon werden angstvoll stillhalten, wie auch Ägypten. Dann werden sie sich uns zuwenden. Selbst der Iran wird nicht gegen seine ehemaligen Kämpfer vorgehen. Alte Streitigkeiten im Nahen und Mittleren Osten werden erledigt sein. Die Landkarte vor unserer Haustür wird so schnell verändert werden, dass die Staaten keine andere Chance haben, als einzuschwenken.«

General Metzbah schien von der Realisierung einer so großen neuen Islamischen Republik noch nicht überzeugt, wie er auch die Rolle Talimaans nicht einschätzen konnte, der offensichtlich die Position des geistigen Führers dieser Islamischen Republik anstrebte. Diese war nicht das Ziel der Hamas. Der ging es um ein freies Palästina.

»Was ist an deinem Konzept anders als bei dem des Islamischen Staates?«

Talimaan hatte diese Frage erwartet.

»Wir sind kein menschenverachtender Scharia-Staat. Wir wollen eine Islamische Republik, in der es keine unterdrückten Palästinenser und Araber geben wird, gleich welcher Herkunft. Wir wollen am Ende Versöhnung, doch das wird nur über die völlige Vernichtung Israels gelingen.«

General Metzbah verschränkte die Arme und schloss die Augen. Er stand vor einer Weichenstellung, denn er hatte seiner Führung in Katar eine Empfehlung von historischer Bedeutung zu überbringen, sofern die Voraussetzungen dafür gegeben waren. Das schien bis auf zwei Punkte der Fall zu sein.

»Du weißt, Talimaan, dass du mit deinem großen Vorhaben, das Allah unterstützen möge, ein hohes Risiko fährst und wir alle mit dir untergehen könnten, wenn es misslingt?«

»Ich sehe deine Zweifel und darf unterstellen, dass die Hamas nicht zu mir kommt, um einfach Ja zu sagen. Das ist legitim, und ich würde ebenso vorsichtig sein. Es steht in der Tat viel auf dem Spiel. Was erwartest du von mir außer meinem Wort, dass ich ein freies Palästina garantiere?«

»Wir erwarten erstens, dass du die Finger von deinen Atomraketen lässt, denn sie würden auch uns und die Fatah für alle Zeiten ausradieren.«

»Völlig klar, mein lieber General Metzbah. Die Raketen sind in erster Linie als Abschreckung gedacht und sodann Zweitschlagraketen für den Fall, dass wir selbst durch einen Erstschlag vernichtet werden sollen.«

»Nun, das klang in deinem Vortrag schon etwas anders. Können wir uns darauf verlassen, dass ein Krieg gegen Israel ausschließlich konventionell geführt wird?«

»Das ist bei Allah zugesagt, General Metzbah! Wie auch alle Mitspieler in meiner Zentrale sitzen und mitentscheiden werden.«

»Gut, dann klingt das Konzept überzeugend. Unsere gemeinsame konventionelle Kampfkraft ist völlig ausreichend.«

»Und unser Kampfwille ist stark wie nie«, ergänzte Talimaan.

Metzbah sah Talimaan prüfend an. Jetzt ging es um den Erfolg oder Misserfolg des Besuches.

»Zweitens erwarten wir von dir eine kleine Geste, Talimaan. Wir wollen sicher sein, dass wir uns auf dich verlassen können. Wie du weißt, wird die Hamas neben Israel auch von etlichen anderen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft, neuerdings auch von Deutschland. Unsere Kämpfer sind nach einigen Anschlägen in deutschen Gefängnissen. Deutschland gehört zu den Ländern, die nach den USA die meisten Waffen nach Israel liefern. Die Deutschen liefern U-Boote und bauen Drohnen mit unserem Erzfeind, die wiederum gegen uns eingesetzt werden. Das gefällt uns schon lange nicht mehr! Wir wollen Deutschland davon abhalten, Israel künftig mit Rüstungsgütern zu unterstützen.«

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