Drei Brüder

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Paul merkt, dass sich Henriettes Gedanken überschlagen. Jetzt könnte sie die Operation noch stoppen. Nichts würde nach außen dringen. Er schaut auf ihre Hände und erkennt darin den Brief der Ehefrauen der Geiseln, in dem sie die Kanzlerin anflehen, ihre Männer zu retten.

Damit ist Pauls stille Frage beantwortet, ob Henriette den Einsatzbefehl aufheben wird. Er nickt ihr ermutigend zu.

Währenddessen sind die Soldaten bereits tief im Nordirak. Im Hubschrauber ist dieser typische Geruch von Öl und Treibstoff. Die Vibrationen im Eurocopter sind angenehm gering. Die Soldaten sind es anders, sind es laut, eng, alt gewöhnt. Das hier ist fast wie in einem fliegenden Wohnzimmer. Unter ihnen vereinzelte Lichter. Natürlich wird man sie hören. Auf die Pulsfrequenz der Drei hat das keinen Einfluss, aber die Spannung wächst. Endlich wieder ein heißer Einsatz. Endlich der Kanzlerin live zeigen, wofür man da ist, wie es abläuft. Der ultimative Höhepunkt für einen KSK-Soldaten. Marc versucht diese zusätzliche Belastung auszublenden. Hoffentlich werden wir nicht schon beim Abseilen abgeknallt, denkt er. Wir müssen sie vorher ausschalten.

Er schaut auf Thomas und Tim, signalisiert mit seiner Hand fünf Minuten bis zum Abseilen und winkt sie zu sich.

Die drei Brüder knien sich auf den Boden, fassen sich um die Schultern und schreien in den Hubschrauberlärm: »Einer für alle, alle für einen!«

Walter und Henry drehen sich kurz um und geben mit Daumen hoch ein Gut-Glück-Zeichen. Die Hubschrauber-Crews sind jetzt die Lebensversicherung der drei Soldaten.

Vier Minuten. Marc aktiviert die Videokamera.

Im Krisenkeller erscheint das Bild aus dem Hubschrauber. Man sieht zwei Soldaten, dann den Rücken der beiden Piloten. Leiser, verzerrter Motorenlärm, der Kameraton ist schlecht.

Das Objektiv wandert über die im Kunstlicht grünen, ernsten Gesichter von Thomas und Tim, weiter durch das Fenster in die nur von einem schmalen Mond etwas erhellte Nacht. Schemenhaft sieht man den anderen Hubschrauber. Sämtliche Außenlichter sind ausgeschaltet. Es sieht entspannt aus, wie bei einer Übung.

»Eagle One an Eagle Commander – Online – Over.«

»Roger Eagle One – Bild steht – Good luck – Out.«

Drei Minuten.

Paul beugt sich zur Kanzlerin hinüber und flüstert.

»Sie nutzen das Gelände und fliegen jetzt in niedriger Höhe, weil wir sicher sind, dass der IS nicht mit ihnen rechnet. Auch wenn er sie hören würde, er hat keine Boden-Luft-Raketen. Wir sind gleich da …«

Die Kanzlerin nickt, sie ist völlig gebannt. Fast ist es, als säße sie mit im Hubschrauber und könnte den Atem der Männer spüren.

Der Co-Pilot, Oberleutnant Henry Kirch, zeigt mit Daumen und Zeigefinger zwei Minuten an.

Die seitlichen Türen von Eagle Alpha werden geöffnet. Die Balken zum Abseilen ausgefahren.

Marc schaut angestrengt aus der geöffneten linken Tür und beugt sich weiter nach vorn. Die Straße zum Dorf!

Eine Minute.

Er sieht die Umgebung des Objektes bereits schemenhaft im Mondlicht.

Er vergleicht das Bild in seinem Kopf mit dem Haus da unten. Sie sind richtig.

Dreißig Sekunden bis zum Abseilen!

Eagle Alpha fliegt, einen Baum als Deckung nehmend, an. Eagle Bravo bleibt seitlich versetzt. Marc, Thomas und Tim, das G36K im Anschlag, haben das Objekt deutlich im Visier. Wo sind die Wachen? No contact!

Plötzlich kurze, grelle Feuerblitze vom Gebäude. Die drei Brüder schauen direkt ins Mündungsfeuer. Fast gleichzeitig ziehen sie durch. Unten erstirbt das Feuer. Prüfender Blick auf Öldruck, Leistung, Treibstoff. Intensives Riechen. Kein Brandgeruch. In den Cockpits alles normal. Situation im Griff. On Time. On Target.

Abseilen!

Marc, Thomas, Tim unten.

Sturmgewehre im Anschlag …

Ein Blick zum Gebäude, nichts Auffälliges …

Im fahlen Mondlicht erkennbar: der Tisch mit den Stühlen … zwei Männer blutüberströmt am Boden. Daneben zwei Kalaschnikows. Kurzer Check, Tim sichert, Marc beugt sich runter.

»Zwei Tangos vor dem Objekt ausgeschaltet. Im Dorf alles ruhig«, gibt Marc durch.

Hubschrauber im Rücken setzen sicher auf. Thomas bewegt sich zu seiner besprochenen Deckung. Marc will Bestätigung. »Eagle Alpha – Position bestätigen!«

»In Position!«

»Eagle Bravo?«

»In Position!«

»Eagle Two?«

»In Position!«

»Okay, es geht jetzt rein!«

Die Hubschrauber-Crews und Thomas sehen, wie Marc das taktische Zeichen gibt. Tim tritt ihm die Tür auf. Dann verlieren sie den Blickkontakt zu den beiden.

Marc stürmt voran in den Raum, Tim hinter ihm her, nach allen Seiten sichernd. Das Licht an den zwei Sturmgewehren streicht über den Boden, die Wände.

In Berlin fegen hastige, ruckartige Bilder über den Bildschirm.

»Raum eins leer – kein Kontakt.«

Sie rennen in den nächsten Raum.

Blick links, rechts … keine Möbel … das Fenster eingeschlagen … Fäkalien auf dem Boden. Marc versucht nur kurz zu atmen. Blickt zu Tim. Es stinkt grässlich.

»Raum zwei leer – kein Kontakt.«

Nächster Raum.

Tür mit dem Fuß auf … sichern … der größte Raum. Leer. Nur ein verschmutzter Teppich … bestialischer Gestank! Keine Geiseln, keine Tangos. Marc reagiert gewohnt ruhig.

»Raum drei leer – kein Kontakt.«

Marc weist mit dem Gewehr nach oben.

Beide stürmen die Treppe hoch. Oben stehen alle Türen offen. Doch die drei Räume sind leer.

Sie schauen sich kopfschüttelnd an. War es das?

In Berlin sehen sie das fragende Gesicht von Tim Nader und hören dann Marc: »Es gibt keine Geiseln, das Gebäude ist leer. Abbruch!«

Die Hektik auf dem Bildschirm ist vorbei. Dafür Hektik im Krisenkeller. Harry Busch ist aufgesprungen.

»Das ist doch nicht möglich! Was ist das denn? Das gibt es doch nicht!«

Niemand hat den BKA-Mann jemals so aufgelöst gesehen. Doch das fällt jetzt kaum auf. Alle reden durcheinander, schauen sich fragend bis hilflos an, blicken immer wieder auf den Schirm, sehen zu, wie Marc und Tim sich in den langen Flur der oberen Etage zurückziehen. Durch Marcs Kamera kann man nur die kahlen, verdreckten Wände erkennen, doch dann sehen sie, wie er Tim das Zeichen gibt, zu verharren.

Marc rührt sich nicht. Worauf wartet er? Nur der General spürt förmlich durch die Leitung, dass Eagle One eine Gefahr wittert.

Eagle One muss nichts sagen. Wie er innehält, sich bewegt, sagt dem General alles.

Aus dem Funkgerät kommt nur leises Knacken, von draußen der gedämpfte Lärm der Rotoren.

Drei Minuten sind um.

Im Krisenkeller fühlen sie sich an wie zehn. Soll es das wirklich gewesen sein?

Dann spricht Marc leise ins Mikro, aber laut genug, dass es in allen sechs Eagle-Kopfhörern, in Diyarbakir und im Krisenkeller in Berlin zu hören ist:

»Hier stinkt was ganz gewaltig! Zwei Tangos bewachen kein leeres Gebäude. Das ist für uns inszeniert!«

Was meint er damit, fragt sich der Innenminister, dass die Dschihadisten mit den Geiseln über alle Berge sind? Und wenn auch, dann haben wir es jedenfalls versucht. Das hätte seine GSG 9 auch gestemmt. Doch er behält seine Gedanken für sich.

Die beiden Soldaten drehen sich noch einmal wie in Zeitlupe herum, einhundertachtzig Grad nach links, nach rechts. Sie wollen sicher sein, dass nichts übersehen wurde. Aber hier ist nichts, gar nichts! Ein verdammtes, verlassenes, stinkendes, unbewohntes, teilzerstörtes Objekt, abseits vom nächsten Dorf, mit den zwei getöteten Wachen davor. Noch nicht einmal der kleinste Hinweis auf festgehaltene Geiseln.

In Berlin sitzt die Gruppe nun wie ermattet. Henriette ist irgendwie erleichtert, dass nichts passiert ist.

Vielleicht finden sie die Geiseln ja noch draußen, denkt sie.

Plötzlich sieht sie, wie der Lichtstrahl von Marcs Gewehr am Ende des langen Flurs etwas erfasst. Was war das? Mit jedem Schritt von Marc wird dieses Etwas größer. Dann steht es übergroß auf dem Bildschirm.

Henriette erstarrt.

Es ist jenes Foto der lächelnden Bundeskanzlerin aus dem Video der Terroristen.

Darauf mit dicken, roten Buchstaben:

Das Leben von deutschen Geiseln ist mir nichts wert!

Marc reagiert augenblicklich. Ruhig, kurz, knapp.

»Eagle Force, raus hier! Rückzug!«

Henriette legt entsetzt die Hände vor das Gesicht, als wolle sie das Bild, ihr Konterfei in diesem Gespensterhaus, nicht zulassen. Sie spricht, für die anderen nicht hörbar, wie in einem leisen Gebet: »Mein Gott … was passiert jetzt? Die Männer sollen sofort zurückfliegen!«

In diesem Augenblick bricht vor dem Haus ein infernalischer Krach los.

»Schweres Feuer aus dem Dorf«, schreit Thomas aus seiner Stellung, »Eagle Bravo – Feuer frei!«

Die Bordwaffen des Hubschraubers von Fritz Jung und Willi Fröhlich hämmern sofort los. Fast gleichzeitig kracht eine Granate vor dem Gebäude ein.

Thomas versucht aus seiner Deckung hinter dem Wall die Lage zu erfassen: Marc und Tim im Gebäude, Eagle Bravo feuernd aus allen Rohren, in direkter Schusslinie zum Dorf. Eagle Alpha steht leicht versteckt.

Dann sieht er den Abschuss. Aus dem Dorf rast das Geschoss einer Panzerfaust zielsicher auf den feuernden Hubschrauber zu.

»Eagle Bravo – raus, raus, raus!«

Doch es ist zu spät. Das Geschoss kracht in den Eurocopter von Fritz und Willi, verwandelt den Rumpf in einen explodierenden Feuerball. Der tote Rest des Hubschraubers bäumt sich wie wild auf, der drehende Rotor fliegt nach hinten weg, unter ihm explodiert der Rumpf, einmal, zweimal, dann ein riesiger Knall.

 

Die bisher dunkle, gespenstische Szenerie ist schlagartig hell erleuchtet, explodierende Munition, Metallteile fliegen herum, krachen in das Gebäude, zischen an Thomas vorbei. Marc weiß nicht, was genau sich draußen abspielt, aber hier kommt die Eagle Force ohne Hilfe nicht mehr raus. Er zögert keine weitere Sekunde:

»Eagle One For Helper – Coca Cola – Coca Cola!«

Tim versteht nicht, warum Marc Coca Cola schreit, was das bedeutet.

»Luftunterstützung«, ruft Marc seinem Freund zu, der ihn mit aufgerissenen Augen anstarrt.

Geschosse krachen in der unteren Etage ein.

Das Haus scheint zu beben.

Der kleine Tim reißt Marc zum rückwärtigen Fenster.

Beide hechten mit einem einzigen Sprung aus dem zweiten Stock in das Dunkel der Nacht und knallen hart auf den Boden. Ein tiefer Schmerz im Knöchel lässt Marc aufstöhnen. Auch das noch! Tim lotst Marc zielsicher in einen Graben und presst seinen verletzten Bruder an die Erde.

Jetzt sehen sie das Wrack von Eagle Bravo in Flammen, unterbrochen von heftigen, kleineren Explosionen.

Marc fühlt, wie sich Eiseskälte vom Rücken in seinen Nacken zieht.

Sie sitzen in der Falle.

Was ist das hier für eine gottverdammte Scheiße! Seine Gedanken überschlagen sich. An den brennenden Helikopter zu kommen geht nicht … zu viele Geschosse … wäre Selbstmord … vielleicht haben die Jungs es ja doch noch geschafft, da rauszukommen …

Er schreit durch den Krach in das Mikro:

»Eagle Bravo – melden!«

Keine Antwort.

»Eagle Bravo – melden!«

Tim schüttelt den Kopf, zeigt Marc mit einem Daumen-runter-Handzeichen, was der nicht glauben will: Junge, da ist nichts mehr zu machen.

Marc keucht vor Schmerz, zwingt sich zur Ruhe.

Eagle Alpha steht unbeschadet etwas entfernt, mit laufendem Rotor, von den Häusern nicht einzusehen. Marc denkt einen Moment daran, die Videoleitung zum Krisenreaktionszentrum abzuschalten.

Nein, das werde ich nicht machen, entscheidet er. Sollen die verdammt noch einmal sehen, in was für einer Lage wir sind!

»Eagle Alpha, Status!«

Sofort die laute, fast schreiende Antwort:

»Wir sind okay. Sollen wir rüber zu Eagle Bravo?«

»Negativ, bleibt wo ihr seid!«

Walter und Henry im Hubschrauber wissen, dass Fritz und Willi keine Chance hatten. Sie wollen trotzdem rüber. Sich vergewissern.

»Was machen wir, Walter?«

»Wir machen, was Marc sagt! Nimm du die linke Tür und sichere nach hinten, ich sichere die Kameraden!«

Die Einschläge aus den Waffen der Dschihadisten krachen direkt vor Tim und Marc ins Gebäude, Maschinengewehrfeuer zersägt die Wände. Selbst ihr Graben hinter dem Haus ist jetzt nicht mehr sicher. Marc sieht, wie Eagle Alpha aus allen Rohren schießt. Sie müssen hier weg, rüber zu Thomas! »Tim, ich zuerst! Gib mir Feuerschutz! Dann kommst du auf meinen Befehl nach, wir geben dir Feuerschutz!«

Tim nickt bestätigend und gibt durch: »Achtung, Marc kommt rüber zu Thomas!«

Eagle Alpha stoppt sofort das Feuer.

Einen Moment lang ist Ruhe. Nur der Lärm der rotierenden Rotorblätter durchdringt die Nacht. Es ist, als hätte jemand plötzlich eine weihnachtliche Waffenruhe befohlen.

Marc vergisst den schmerzenden Knöchel, steigt hoch und hechtet in Richtung der geschützten Position von Thomas.

Im selben Augenblick fetzen aus den Häusern erneut die Garben aus den Maschinengewehren, doch jetzt durchsetzt mit Leuchtmunition. Die Dschihadisten schießen sich ein! Marc feuert im Laufen, Tim und Thomas geben Feuerschutz. Hälfte der Strecke … heftiger Schlag … brutal in der linken Wade … zu stark! Marc lässt sich zu Boden fallen, genau in der Feuerlinie der aus den Häusern ratternden Maschinengewehre. Von dort rennt jetzt mit Geschrei eine Horde wild schießender Dschihadisten auf ihn zu. Deren Ziel ist klar: Ein Hubschrauber erledigt, ein Gottloser am Boden, den Rest erledigen.

Im Krisenkeller Berlin überschlagen sich die hektischen Bilder des brennenden Hubschraubers und der Eagle-Männer, die jetzt verzweifelt um ihr Überleben kämpfen. Die Bilder fliegen in alle Richtungen, übertragen die hastigen Bewegungen des Truppführers in aussichtsloser Lage. Der Verteidigungsminister ist aufgesprungen, streckt die Hände nach vorn, als wolle er Marc hoch helfen. Der ruft:

»Marc an alle, schießt über mich weg, rein in den Sauhaufen!« Augenblicklich bricht eine Serie von Salven los. Die ersten Angreifer fallen. Dann kracht unweit neben Marc eine Panzerfaust ein. Die Erde spritzt ihm ins Gesicht, die Druckwelle reißt ihm den Kopf regelrecht zur Seite. Auf einmal sind alle Geräusche wie weggefiltert. Vor seinen Augen ein Schleier, in seinem Ohr ein Pfeifen.

Bin ich jetzt tot? Was ist los? Es ist so ruhig? Nein, mein Bein schmerzt, also lebe ich …

Schwach hört er in seinem Kopfhörer, wie Thomas ruft: »Ich hole dich, Marc! Hörst du, ich hole dich!«

Er schüttelt sich.

»Negativ, bleib wo du bist!« Es reicht, wenn ich hier im Kugelhagel verrecke, denkt er bei sich, Thomas wird ohnehin übernehmen …

Langsam tastet er mit seiner Hand ans linke Bein, drückt fest zu. Es reagiert nicht mehr. Das Bein ist wie weg, aber es ist noch da. Marc robbt sich mit seinem Gewehr Zentimeter für Zentimeter nach vorn.

Über ihm der pfeifende Kugelhagel. Er zwingt sich ganz flach am Boden zu bleiben.

Drei Meter vor ihm erkennt er eine deutliche Erhebung.

Muss ich erreichen, dahinter etwas Deckung … ich will … verdammt, ich will dahin!

»Tango von links«, schreit Thomas und feuert.

Marc wirft sich herum und feuert noch in der Drehbewegung aus seinem Sturmgewehr auf den ihn anspringenden Angreifer. Der getroffene Dschihadist fällt direkt auf Marcs Gewehr, begräbt ihn halb unter sich.

Marc nimmt den Gestank des Mannes nicht wahr, er sieht in der Faust des Mannes einen Gegenstand. Handgranate! Marc zieht mit der linken Hand sein Messer und sticht sofort zu, direkt in die Halsschlagader.

Über sich ein kurzes, fast explosionsartiges Gurgeln. Das Blut des Dschihadisten schießt in einem Schwall aus seinem Hals und spritzt Marc direkt ins Gesicht.

Er wischt sich die Augen frei, schiebt ihn zur Seite, schnappt sich die noch gesicherte Handgranate, dann dessen Kalaschnikow, robbt mit beiden Gewehren weiter, flach am Boden, arbeitet sich mit beiden Armen und dem rechten funktionierenden Bein vorwärts. Hinter ihm und seitlich schlagen krachend die Geschosse ein.

In Berlin sehen sie jetzt nur noch verschwommene Bilder und flackernde Blitze. Deutlich ist das Stöhnen von Marc Anderson zu hören. Sein blutverschmiertes Gesicht sehen sie nicht.

Noch ein Meter. Ein Meter, der über Leben und Tod entscheidet. Es muss blitzschnell gehen.

Marc vergisst jeglichen Schmerz, atmet tief durch, springt ab und landet mit einem gewaltigen Satz bei Thomas hinter der kleinen schützenden Erhebung.

»Bist du okay, Marc? … Scheiße, wie siehst du denn aus … wie aus dem Schlachthof … lass‘ mal sehen … dein Gesicht ist okay … dein Bein sieht nicht gut aus … alter Schwede … ich binde es ab.«

Das geht mit wenigen Handgriffen.

Marc lässt es zu … Sauerstoff … zur Ruhe kommen … was jetzt?

Der Verteidigungsminister sitzt wieder, atmet tief durch. Gott sei Dank, Anderson ist drüben, fährt es ihm durch den Kopf.

Marc schaut zu den Häusern. Sein Nachtsichtglas ist nicht mehr über den Augen. Aber Schatten von IS-Kämpfern sind überall.

»Tom, wenn die Kerle auch von hinten kommen, dann sitzen wir in der perfekten Falle!«

Im brennenden Hubschrauberwrack explodiert in kurzen Abständen immer noch Munition mit lautem Getöse und gefährdet Eagle Alpha jetzt durch Querschläger. Jeden Moment kann die nächste Panzerfaust abgefeuert werden. Doch eine Flucht mit dem Hubschrauber ist im Moment völlig ausgeschlossen.

Marc blickt zum Gebäude, hinter dem Tim im Graben liegt. Dort krachen vermehrt Einschläge ein. Auch Tim ist jetzt in akuter Gefahr.

Wo verdammt bleiben die Jets?

»EAGLE ONE FOR HELPER – I REPEAT – COCA COLA IMMEDIATELY!«

»Roger Eagle One – On the way!«

Thomas stutzt, versteht die Kommunikation nicht, blickt Marc an, doch der schreit gegen den Krach ins Mikro: »Tim, rüber zu uns, wir geben dir Feuerschutz!«

Keine Antwort.

»Eagle Three«, befiehlt Marc noch einmal, »rüber zu uns!« Die beiden Männer hinter der Erhebung warten auf eine Antwort.

»Mach du«, sagt Marc, »mein Funk ist vielleicht defekt.« Thomas ruft Tim.

»Tim, rüber zu uns!«

Nichts.

Sie schauen sich ungläubig an, befürchten das Schlimmste. Nicht auch noch Tim!

Aus dem Dorf kommt jetzt die zweite Welle von Angreifern auf sie zugestürmt. Marc erkennt durch sein Nachtsichtgerät nach schneller Schätzung etwa zwanzig Kämpfer.

In Berlin werden die grünen Gestalten sichtbar – und das Geschrei hörbar. »Allahu Akbar!«

Die Kämpfer sind noch knapp einhundert Meter von Marc und Thomas entfernt.

Es gibt keine Chance zu schießen, ohne selbst draufzugehen, es sind zu viele.

»Das riecht nach Nahkampf, Bruder«, sagt Marc leise. Und dann in sein Mikro: »Eagle Alpha – nehmt sie aufs Korn!« Der Hubschrauberpilot Walter und sein Co Henry zielen ganze Salven in die Gruppe hinein. Einige fallen, aber längst nicht alle.

Thomas und Marc feuern jetzt ebenfalls über ihre Deckung.

Doch die Kämpfer kommen näher.

»Verschossen! Kein Magazin mehr!«, schreit Thomas.

»Nimm meines!«

Marc greift sich die erbeutete Kalaschnikow. Bereit, danach die Pistole zu nehmen.

Das Wunder geschieht. Die IS-Männer verlangsamen und ziehen sich zurück. Der Angriff scheint vorerst gestoppt. Doch die Kerle werden jeden Augenblick in einer dritten Welle kommen. Und Tim fehlt!

Wo verdammt ist Tim?

»Tim, zu uns!«

Keine Antwort.

»Tom, du musst zu ihm, ich pack‘ das nicht mehr.«

Thomas bestätigt, will gerade los, da kommt die nächste Welle von Angreifern.

Jetzt sind es mindestens fünfzig Dschihadisten.

Marc drückt Thomas runter. »Hier bleiben, Thomas!«

»Eagle One an Eagle Alpha, wir sind leergeschossen. Nur noch Pistolen!«

Doch auch Eagle Alpha muss jetzt das Feuern einstellen. Marc und Thomas liegen genau in der Feuerlinie zu den Angreifern, die fast auf dreißig Meter herangekommen sind. An Marc und Thomas pfeifen deren Salven vorbei.

Sie schauen sich an, kurz und intensiv, wissen, was das jetzt bedeutet. Zwei Männer mit Handfeuerwaffen gegen eine Horde schwerbewaffneter Wahnsinniger.

Die beiden Brüder wissen, dass das ihre letzte Kampfhandlung sein wird.

Zeitenwende.

Das Ende aller Pläne.

Situation annehmen.

Aber nicht kampflos sterben.

Nach der Pistole kommt das Messer.

Und die verbliebene Handgranate.

Nichts muss mehr gesagt werden.

Zwei Brüder in ihrem letzten, gemeinsamen Kampf.

»Eagle Alpha von Eagle One, Heimweg sofort, ohne uns!«

Im Hubschrauber blicken sich Henry und Walter an. Beide schütteln verneinend mit dem Kopf. Henry drückt den Sendeknopf: »Einer für alle, alle für einen – Eagle Alpha out!«

Marc wird wütend, will gerade den Befehl wiederholen.

In diesem Augenblick kommen die Jets.

Thomas schaut fassungslos auf Marc, wie auf einen Erlöser.

Der erste F-22-Raptor, mit dem Piloten Jack Scott, fegt über die Dschihadisten und die erste Häuserreihe. Kaum haben die präzisionsgesteuerten GBU-32 JDAM-Bomben ihre verheerende Wirkung entfaltet, da rast Buddy McAllen in der zweiten F-22 heran.

»Ich werde wahnsinnig!«, schreit Walter in Eagle Alpha, »ihr seid Engel!«

In Berlin hören sie den Krach der Jets, sehen sie die brennende Häuserzeile …

»Rückzug! Rückzug! Eagle Bravo Piloten bergen!«, schreit Marc.

Plötzlich sieht er, wie Tim geschmeidig um sich feuernd aus dem Graben springt und in Richtung des ausbrennenden Hubschraubers rennt.

Marc schüttelt seine Angst um den Bruder weg.

Erleichterung! Gott sei Dank, Tim lebt!

»Helper Flight – Second pass«, ertönt es in Marcs Ohr.

»Eagle Force, Achtung, die Jets kommen noch einmal. Tim Deckung!«

Die Männer hören den ersten Kampfjet in hundert Metern Höhe mit ohrenbetäubendem Lärm zum zweiten Mal auf sich zurasen. Sie sehen die Bomben fallen. Explosionen und Schreie aus dem Dorf.

 

Jack Scott steigt mit infernalischem Krach steil in den schwarzen Himmel. Der Nachbrenner leuchtet wie eine rasende Fackel und erlischt plötzlich.

Dann Buddy im Anflug.

Als er die Männer passiert, zischt aus dem Dorf eine Rakete direkt auf ihn zu. Buddy reißt die F-22 hoch und hart zur Seite. Zu spät. Sekunden später detoniert der Kampfjet.

»Scheiße«, schreit Marc, »Buddy ist getroffen!«

Jack Scott – hoch über Eagle Force – sieht aus dem Augenwinkel die explodierende Maschine seines Freundes. Er zieht seinen Jet hoch auf fünftausend Meter. Verdammt, das gibt’s doch nicht! Womit haben diese Drecksäcke auf Buddy gefeuert? Er zwingt sich zur Ruhe.

Unter sich sieht er den Feuerball vom Aufschlag der F-22. Jack fliegt eine 90-Grad-Steilkurve und versucht in der Dunkelheit einen Fallschirm auszumachen.

Nichts!

Er checkt das Radar.

Leer.

Sein Flügelmann Buddy McAllen fehlt.

»Helper Two from Helper One – Over!«

Funkstille auf der Frequenz.

»Helper Two from Helper One – Over!«

Jack muss nicht noch einmal rufen. Es ist eindeutig. Buddy wurde abgeschossen.

Er alarmiert sein Tactical Command Center und gibt den Code für ein abgeschossenes Flugzeug, die Koordinaten und die Zeit durch.

Im Command Center wollen sie es nicht glauben, sind von der Fähigkeit des IS, Luftziele abzuschießen, völlig überrascht. Bis eben gehörte der Himmel noch den eigenen Flugzeugen. Sie fürchten jetzt um die Sicherheit von Jack Scott und ordern ihn mit dem RTB-Befehl zurück.

»Zurück zur Basis sofort – Ich wiederhole – Sofort zurück zur Basis.«

Gleichzeitig werden in Diyarbakir die Combat Search And Rescue Spezialkräfte zur Rettung eines abgeschossenen Piloten alarmiert. Die erfolgreichste Rettungskette der Welt für abgestürzte Piloten im Feindesland läuft an. Der Kampf um die Zeit beginnt.

Wer wird zuerst bei Buddy sein? Die Retter oder der IS?

Jack weiß, was Buddy droht, wenn der IS ihn hat. Er will es sich nicht vorstellen, und doch sieht er das Bild vor sich, wie sein Rottenflieger Buddy vor laufender Kamera gequält und verbrannt wird. Er kippt seine F-22 auf die Seite und schaut noch einmal auf das Inferno unter sich. Die Nacht am Boden ist zum Tag geworden.

Nichts, was ich jetzt noch tun könnte, denkt er und beruhigt sich … hoffentlich hängt Buddy sicher am Schirm und verkriecht sich … Buddy hat praktische Erfahrungen, wie das hinter den eigenen Linien ist … in Afghanistan hat er es auch geschafft … alle meine guten Strahlen zu dir da unten … Er zieht das Flugzeug steil auf 10.000 Meter Höhe und beschleunigt auf Überschallgeschwindigkeit in Richtung Diyarbakir. Hoffentlich konnten wir wenigstens den Germans da unten helfen … what a Christmas …

Der ausbrennende Eurocopter steht etwa dreißig Meter von Eagle Alpha. Aus dem Dorf wird nicht mehr geschossen. Marc gibt durch:

»Eagle Alpha fertig machen zum Abflug. Wir bergen die Kameraden!«

Als die drei Brüder am Wrack eintreffen, bietet sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Die Piloten hängen verkohlt in den Sitzen. Der Copilot, Willi Fröhlich, klebt geradezu festgeschweißt an der Waffe.

»Wie sieht es aus?«, fragt Walter aus Eagle Alpha mit leiser Stimme, als wüsste er die Antwort.

»Beide tot.«

Kurzes Schweigen.

»So eine verfluchte, verdammte Scheiße! Beeilt euch! Es kann jederzeit wieder losgehen!«

Im Krisenraum Berlin sind alle aufgesprungen. Sie können die flackernden, unheilvollen Bilder nicht mehr ertragen. Zum Schluss war der Übertragungston ausgefallen. Die Videosequenzen wurden zu einer gespenstisch stummen Apokalypse.

Marcs Kamera zeigt nun unbarmherzig die beiden Leichen, die aufgerissenen Augen von Thomas, und das von Dreck und Splittern gezeichnete Gesicht von Tim. Sie sehen, wie Thomas dem toten Fritz Jung den Kopfhörer abnimmt, mit seinem Messer die Sicherheitsgurte durchschneidet, während der Kameramann Marc mit dem Feuerlöscher kleine Brände im Wrack bekämpft.

»Beeilung, Beeilung, es kann jederzeit wieder knallen!«, ruft Eagle Alpha erneut.

Die Drei arbeiten methodisch, trotz des Schocks.

Jung und Fröhlich tot … nicht denken … Gefühle wegstecken … Wut wegstecken … nicht ausrasten … Profi bleiben … mechanisch handeln. Du bist Elitesoldat. Du bist KSK!

Doch Marcs Hände zittern.

Der Krisenstab sieht das nicht, sieht aber voller Grauen, wie Thomas und Tim die beiden verkohlten Leichen aus den Sitzen zerren.

Dann fährt die Kamera über die verstreuten toten Körper auf dem Gelände. Das Grauen will kein Ende nehmen. Sie sehen, wie die verbrannten Leichen in den Hubschrauber gezerrt werden, den hastigen Start und Marcs letzten Kamerablick auf das Inferno.

Henriette hat den anderen längst den Rücken zugewandt. Sie atmet schwer, ringt nach Luft.

In Diyarbakir steht der General starr am Monitor. Mehrmals war er kurz davor, reinzurufen. Aber es gab nichts zu sagen. Marc Anderson hatte in aussichtsloser Situation alles richtig gemacht. Der General musste zulassen, was geschah. Er konnte nichts ändern an dem entsetzlichen Ausgang der Operation Eagle.

»Helper One from Eagle One«, ruft Marc. Er will sich kurz bedanken und nach der zweiten F-22 mit dem Piloten Buddy fragen. Doch Jack Scott meldet sich nicht mehr.

Der Äther über dem Nordirak ist leer, als wäre nie etwas gewesen.

Marc schaltet auf die Frequenz von Brigadegeneral Wolf.

»Eagle One für Eagle Commander. Lagebericht. Geiseln nicht angetroffen. Eagle Bravo mit Besatzung durch Feindbeschuss verloren. Oberleutnante Jung und Fröhlich tot bei uns in Eagle Alpha. Helper Two wurde abgeschossen. Gebiet ist voller Tangos. Keine Chance nach dem Piloten zu suchen. Eagle One verletzt. Sind auf dem Rückflug. Over.«

»Roger Eagle One, wir haben euch auf dem Radar. Kamera abschalten. Kommt sicher zurück, Männer! Over and Out.«

In Berlin wird der Bildschirm dunkel. Der Ton erlischt. Man schaut sich an. Es ist, als sei einfach nur ein schlimmer Film zu Ende gegangen. Jeder im Raum weiß, Deutschland hat jetzt ein Problem. Besonders die Bundeskanzlerin.

Während Eagle Alpha unbeleuchtet und die wenigen Ortschaften vermeidend Richtung Diyarbakir fliegt, schneidet Thomas Marcs Hose auf und legt das Bein jetzt ganz frei. Es blutet kräftig. Thomas überlegt einen Augenblick, ob er Marc eine Infusion geben soll. Er schaut genauer.

»Du hast mehr Glück als Verstand, Marc Blitzkrieg, ein netter Streifschuss, zwei Zentimeter am Ischias-Nerv vorbei.« Und während er seinen Freund verarztet: »Was war denn das für eine Scheiße?«

»Du sagst es … lasst uns die Auswertung zu Hause machen. Nur Eines vorab«, er wendet sich an Tim, »hör‘ mal Kleiner, warum hast du meinen Befehl, aus dem Graben zu springen, nicht sofort befolgt?«

»Ich sah die Flugzeuge kommen, eine bessere Deckung als den Graben gab es in dem Augenblick nicht!«

Marc nickt.

»Verstehe, hatte mir das schon gedacht, aber eine Meldung wäre hilfreich gewesen, Tim. Thomas wollte dich im Kugelhagel gerade holen.«

»Mein Fehler, Marc. Sorry, ich war unter Beschuss und habe dann einfach gebannt auf die Weihnachtsüberraschung geschaut. Ich konnte es nicht glauben, was da angerast kam!« »Habt ihr gesehen, ob sich Buddy rausgeschossen hat?«

»Marc, du meinst nicht etwa unseren Buddy, den aus Afghanistan?«, fragt Tim verblüfft.

»Genau den«, bestätigt Marc.

»Das sind ja einige Neuigkeiten in dieser Operation«, reagiert Tim etwas eisig, »so etwas kennen wir hier eigentlich nicht.« »Es gibt Gründe für diese Geheimhaltung im Trupp, ich musste es auch schlucken, erzähle ich euch später. Also habt ihr den Ausschuss von Buddy gesehen?«

Thomas und Tim schütteln verneinend mit dem Kopf. Sie fühlen sich trotz der rettenden Jets verschaukelt. Der Bruder wird diese Frage noch beantworten müssen.

Der Hubschrauber fliegt in sicherer Höhe. Schnell, ruhig, als wäre alles normal, wie auf dem Hinflug.

Doch nichts ist normal.

Die Piloten Walter und Henry schauen starr nach vorn.

Konzentrieren sich auf die Instrumente, blicken nicht nach rechts raus. Denn draußen blinkt nicht mehr das vertraute Licht von Jung und Fröhlich. Sie fliegen einen Leichenwagen.

Marc blickt auf die beiden verkohlten Körper und wieder auf die stumpfen, müden, verschmutzten Gesichter seiner beiden Brüder.

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