Drei Brüder

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4.
Nordirak / Berlin

»Diyarbakir Tower, German Air Force 340 auf dem Anflug Runway 34.«

»Roger, der Wind ist ruhig, Landegenehmigung erteilt für Runway 34.«

Das Wetter im Landeanflug ist nicht gerade berauschend, und ein bodengestütztes Instrumentenlandesystem gibt es nicht. Doch die bordeigenen Navigationssysteme machen den Airbus A400M autark. Bei dreihundertfünfzig Fuß Wolkenuntergrenze durchstößt der neue militärische Supertransporter die Wolkendecke. Das Brummen der abbremsenden vier Motoren ist laut bis in die Stadt zu hören. Im Abenddunst des 22. Dezembers rollt der erste Airbus A400M mit den charakteristischen achtblättrigen Verstellpropellern auf der 3500 Meter langen Landebahn aus.

»Nehmen Sie den nächsten Exit links und melden Sie den Follow Me in Sicht.«

»Roger, Follow Me in Sicht.«

Dem Personal vom Tower ist dieser Flugzeugtyp als neuer Militärtransporter bekannt. Doch so sehr man durch die Ferngläser schaut, ein Hoheitsabzeichen ist auf dem grauen Rumpf nicht zu sehen.

Die Menschen sind hier Einiges gewöhnt, seitdem die politisch-militärische Situation im benachbarten Irak und Syrien eskaliert. Die Air Base ist voll mit F-16-Jets der türkischen Air Force, Truppentransportern aus den USA, amerikanischen F-15- und F-22-Kampfflugzeugen, sowie etlichen US Army Black-Hawk-Hubschraubern.

Zwei Tornado-Kampfflugzeuge sind eingetroffen. Am Leitwerk das Zeichen des Taktischen Luftwaffengeschwaders 33 in Büchel. Unter dem Rumpf ein dunkler Behälter, kein Treibstoff, keine Waffen. Offensichtlich ein geheimnisvoller Behälter mit Sensoren für taktische Aufklärung. Den Zweck kennt hier keiner. Aber das ist den örtlichen Teppichhändlern auch egal. Diyarbakir gilt bei NATO-Piloten als Mekka für schöne Teppiche, und davon passen einige in die Versorgungstanks der Jets. Die findigen Händler kennen bereits die Flugzeugtypen ihrer militärischen Besucher und packen die Teppiche so, dass sie perfekt in den Versorgungstank geschoben werden können. Sie werden es auch hier versuchen.

Doch die Tornado-Crew hat kein Interesse, über einen heimlichen Teppichtransport auch nur nachzudenken. Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam lotet auf Weisung von ganz oben die mögliche Zusammenarbeit mit der amerikanisch geführten Allianz gegen den Terror aus. Im Gespräch sind die hoch geschätzten Aufklärer- und Jagdbomber vom Typ Tornado für eine Stationierung in Incirlik, nahe der syrischen Grenze.

Die Air Base Diyarbakir gleicht in diesen Monaten einer Festung. Der nun stark eingeschränkte zivile Flugbetrieb findet abgeschottet vom militärischen Bereich statt, in dem auch zwei F-35A Kampfflugzeuge stehen, das künftige Rückgrat der türkischen Luftwaffe.

Nebenan, in der Eine-Million-Einwohner-Stadt über dem Tigris-Ufer, erwacht das abendliche Leben, als hätte es mit dem kriegerischen Treiben in dem fünf Kilometer entfernten Flugplatz nicht das Geringste zu schaffen.

Die Stadt Diyarbakir, im südöstlichen Anatolien, ist ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und ethnischer Gruppen. Hier vermengen sich Türken, Kurden, Iraker, Syrer und Iraner. Der dunkle Basalt der umschließenden hohen Stadtmauer verleiht der Altstadt einen Hauch von Unnahbarkeit. Doch der Schein trügt. In den Basaren, Moscheen und Hinterhöfen der Stadt mischen sich längst Gestalten, die Geschäfte mit allen machen. Türkische Händler mit dem Islamischen Staat, PKK- Kämpfer mit dem Militär, verfeindete Sunniten und Schiiten, internationale Waffenhändler, Jugendliche aus aller Welt, die so schnell wie möglich eine schwarze IS-Uniform anhaben möchten, Mädchen, die einen Gotteskrieger suchen, Schleuser, Journalisten und korrupte Polizisten.

Innerhalb von vierzig Minuten sind die beiden leichten Mehrzweckhubschrauber des Typs H145M entladen. Es sind die ersten zwei der fünfzehn Maschinen, die Eurocopter an den Eliteverband in Calw auslieferte. Die frisch geschulten Piloten sind begeistert. Das Fluggerät ist leicht zu fliegen, ideal für autarke Einsätze und verfügt über volle Nachtsichtfähigkeit. Der Hubschrauber hat ein digitalisiertes Cockpit und einen Vier-Achsen-Autopiloten. Beides nimmt der Zwei-Mann-Crew eine Menge Arbeit ab. Operation Eagle ist der erste heiße Einsatz mit diesem neuen Fluggerät. Für die Männer des KSK ist es wie Weihnachten. Sie müssen nicht auf die amerikanischen Black Hawks zurückgreifen, sondern bleiben unter sich.

In zwei Stunden haben die Logistiker ein Zelt für Kommunikation, Material und Schlafplätze aufgebaut. Die Einsatzleitungen nach Deutschland stehen. Marc versammelt seine Männer.

»Uhrenvergleich: In fünfzehn Sekunden ist es 20:30 Uhr lokaler Zeit. Einsatzbriefing um 23:00 Uhr im Zelt!«

Der türkische Verbindungsoffizier sorgt dafür, dass die Deutschen unter sich bleiben. Sie wollen auch die Basis nicht verlassen. Die Stadt ist nichts für eine Mission, die unter strengster Geheimhaltung läuft. Der Eliteverband hat noch nicht einmal Zivilkleidung dabei. Nach der Operation soll es am nächsten Morgen direkt wieder zurückgehen. Hoffentlich mit den beiden deutschen Geiseln. Hoffentlich in ein schönes Weihnachtsfest.

Brigadegeneral Wolf nimmt Kontakt zum Tactical Air Command der United States Air Force am Platz auf.

Nur wenige Leute bei den Amerikanern wissen, dass die Deutschen in der nächsten Nacht eine Operation Eagle nördlich von Mossul planen. Nur wenige haben an der vorsorglich erbetenen Unterstützung aus der Luft mitgearbeitet: Zwei US Air Force Jets sollen sich für Operation Eagle abrufbereit halten.

Das Projekt wurde auf höchster Ebene zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Verteidigungsministerium und natürlich mit Billigung der jeweiligen politischen Führung koordiniert. Wolfs direkter Ansprechpartner ist ein USAF-General im Command und Control Center in Diyarbakir, der seine Weisung direkt von CENTCOM aus Florida erhält. Die Mission ist bestens vorbereitet, und es spielt für die Durchführung keine Rolle, dass der amerikanische Luftwaffengeneral heute Abend zur türkischen Air Base Incirlik beordert wurde. Die Amerikaner wollen diesen Flugplatz unbedingt als zentrale Basis für den Kampf aus der Luft gegen den IS ausbauen. Doch die Regierung der Türkei lehnte bisher ab. Sie hat Sorge, dass von dort als Nächstes auch eine Bodenoffensive gestartet werden könnte. Das würde die Kurden und deren Autonomiebestrebungen weiter stärken und liegt folglich nicht im politischen Interesse der Türkei, die sich außenpolitisch mit allen Nachbarn überworfen hat und inzwischen auch für die NATO ein Wackelkandidat ist.

Das streng geheime Briefing mit den beiden F-22-Piloten ist für 22:00 Uhr angesetzt. Wolf geht mit Marc in das US Air Force Operation Center. Dort führt der Intelligence Officer, Lieutenant Colonel David Maher, die zwei deutschen Gäste in den Briefing-Raum.

Maher ist ein schlanker Offizier mit Bürstenhaarschnitt und drei Reihen Orden an seinem tadellos gebügelten Khakihemd.

»Gentlemen, ich habe das Vergnügen, Ihnen unsere deutschen Kollegen vorzustellen. Auf unserer Seite die beiden F-22-Piloten Captain Jack Scott und Captain Buddy McAllen.«

Er hat es noch nicht ausgesprochen, da fallen sich Buddy und Marc in die Arme. General Wolf schaut leicht verwundert.

»Sie kennen sich bereits?«

»Yes, Sir«, sagt Buddy in gebrochenem Deutsch, »Marc ist mein Lebensretter, er hat Les Miller und mich aus dem Hindukusch herausgeholt, mit Thomas, und Tim, dem deutschen Taliban. Sind die auch wieder dabei?«

»Was denkst du, Buddy, ohne die beiden gehe ich keinen Schritt! Wie kommst du überhaupt auf dieses geile Flugzeug? Hast du inzwischen alle F-15 deines Geschwaders verschrottet?«

»Ich kam gar nicht dazu! Nachdem die mich wieder zusammengeflickt hatten, kam das Angebot, die F-22 zu fliegen, ich konnte einfach nicht widerstehen.«

»Und was sagt Linda dazu?«

Der lange, blonde Buddy, ebenfalls mit dem typischen USAF-Bürsten-Haarschnitt, zieht ein Foto heraus.

»Wir haben geheiratet. Das ist mein kleiner Sohn.«

Marc sieht genauer hin. Ein typisch amerikanisches, weißes Holzhaus in Leichtbauweise mit zwei Säulen und Vordach am Eingang, gepflegte Einfahrt, US-Flagge, Linda und ein kleiner Bengel mit einem Air-Force-Schiffchen auf dem Kopf und einem Spielflugzeug in der Hand.

»Kann es sein, dass da etwas Zweites im Anmarsch ist?«

Buddy nickt strahlend: »Wieder ein Junge! Strampelt wie der erste. Beide können nicht schnell genug zur Air Force kommen!«

Die anderen US-Offiziere hören belustigt der Unterhaltung zu, während General Wolf sich umschaut.

Faszinierend, denkt er, wie die Amis es auf der ganzen Welt immer wieder schaffen, diese ganz besondere typische US-militärische Atmosphäre in ihrer Infrastruktur hinzubekommen.

Zwei lange Neonlampen beleuchten den metallenen Tisch und die olivfarbenen, harten Stühle. Dahinter gedämpftes Licht, zwei abgewetzte, rissige Sessel, eine Kaffeemaschine mit kleinen, mittleren und großen Plastikbechern, eine Ice-Making-Maschine, ein Automat mit Getränken, ein weiterer mit amerikanischen Süßigkeiten, vier Schachteln Donuts und an der Wand ein aufregendes Pin-up-Girl. Darunter gedruckt: Join the Air Force. Irgendeiner hat ergänzt … and me.

Die Koalition der Amerikaner fliegt seit Monaten Abriegelungseinsätze gegen den IS aus den umliegenden verbündeten Ländern, und endlich auch von türkischen Basen. Luftbetankungseinsätze sind nicht mehr nötig. Sie zerstören Verkehrsknotenpunkte, Aufmarschgebiete und logistische Zentren. Die F-22 wird in diesem Krieg erstmalig im Luft-Boden-Kampf erprobt. Eigentlich werden die Stealth-Eigenschaften für diese Mission nicht benötigt, da der Islamische Staat über kein Radarsystem verfügt, um feindliche Flugzeuge zu erfassen und zu bekämpfen. Doch möchten die Amerikaner für Operation Eagle die F-22 gezielt in der Bekämpfung eines Bodenzieles aus niedriger Höhe einsetzen, aus welchen Gründen auch immer. General Wolf hatte dies begrüßt, denn die Jets wären, anders als die Hubschrauber, in Minutenschnelle vor Ort.

 

»Gentlemen, ich begrüße Sie zum Briefing«, beginnt David. »Zunächst zum Wetter. Wir erwarten BLUE PLUS, also bestes Fliegerwetter mit einer sternenklaren Nacht. In Ihrem Einsatzgebiet erwarten wir keine feindlichen Kräfte. Die IS-Milizen haben sich am Mossul-Staudamm konzentriert. Um ihr Einsatzgebiet Kalak Chyah haben wir in der Luft für unsere Flieger eine Sperrzone von 50 Meilen errichtet. Sie werden also dort ungestört operieren können. Unsere beiden F-22 werden in einer Warteschleife dreißig Meilen nordwestlich von Kalak Chyah zwischen Akre und Musa Laka auf Ihren Abruf warten. Die Formation heißt Helper, der Code für den Abruf aus der Warteschleife Coca Cola. Haben Sie bis dahin Fragen?«

Marc brennt sich Helper und Coca Cola ein. Zwei Wörter für eine Lebensversicherung.

»Jack ist der Mission Commander. Er wird Ihnen jetzt die Frequenzen und das taktische Briefing geben.«

Jack braucht nur eine Minute. Die Gruppe beugt sich danach über die Fotos, die von den Drohnen stammen. Marc schaut zu Jack und Buddy hinüber und zeigt ihnen ein Gebäude: »Das Objekt hier dürft ihr auf keinen Fall angreifen, da sind unsere beiden Geiseln drin!« Er kreist das letzte Gebäude unweit der Straße nach Chra ein.

»Wenn es ein Problem gibt, dann erwarten wir das hier, aus diesen umliegenden Häusern, etwa zweihundertsechzig Meter südlich des Objektes. Kriegt ihr das nachts so präzise hin?«

»Klar kriegen wir das hin! Was unsere Augen nicht schaffen, macht die Technik.«

»Und wie bekommt ihr das alles in Sekunden gebacken?« Buddy greift zu seinem Helm.

»Schau‘ dir dieses Helmvisier an. Es hat einen magnetischen Sensor im Cockpit, der meine Kopfbewegungen registrieren kann und mir alle taktischen Daten ins Visier hineinprojiziert. Ich brauche nur noch in das Ziel schauen, und schon ist der Suchkopf der Waffe darauf ausgerichtet. Einen Daumendruck und die Sache ist abgehakt! Der Helm ist so teuer wie mein schönes neues Haus! Da staunst du, was?«

Sie studieren die Hindernisse in der Umgebung des Objektes und den Warteraum der F-22. Die beiden Stealth-Kampfjets wären innerhalb von drei bis vier Minuten vor Ort.

General Wolf ist zufrieden.

»Danke Gentlemen, also seid am Himmel bereit für einen Abruf um 02:00 Uhr lokaler Zeit. Ich hoffe allerdings, wir brauchen euch nicht!«

»Okay, Sir, hier ist noch der Transponder-Code. Ihr seid damit auf unseren Radarschirmen als Freunde markiert. Good luck, Operation Eagle!«

Abb. 1 Operation Eagle

Buddy schüttelt Marc die Hand, der fragt:

»Wie geht es eigentlich Les, deinem Weapon Systems Operator von der F-15?«

»Er hat den Dienst quittiert, ist jetzt General Manager von vier Hamburger-Restaurants in Dallas!«

Marc lacht laut. Er denkt daran, wie sie das übergewichtige texanische Original aus der Spalte im Hindukusch gezogen haben. Buddy klopft seinem deutschen Lebensretter freundschaftlich auf die Schulter.

»Toll, Marc, toll dass ihr dabei seid. Ich stehe mit meiner F-22 bereit, um meinen drei deutschen Schutzengeln zu helfen.«

Während sie wieder zurück zum Kommandozelt gehen, spricht der General seinen Truppführer an.

»Marc, die vorsorgliche Einplanung der F-22 ist geheime Kommandosache, so geheim, dass nur Sie das hier im Kommando erfahren dürfen.«

Marc stutzt. So etwas gibt es doch nicht!

»Finde ich nicht gut, Herr General. Was ich weiß, muss mein Trupp wissen, wie immer.«

»Das ist mir klar, doch seitens der Amis ist das eine Bedingung für die Luftunterstützung mit den Jets. Außerdem ist die Anforderung hoffentlich nicht nötig.«

»Und was ist, wenn doch, oder wenn ich ausfalle?«

»Ich bin über die Videoschaltung live dabei und würde sofort handeln.«

Marc mag diese Geheimniskrämerei nicht, das ist nicht sein Stil, aber die Sache scheint entschieden.

Im deutschen Zelt warten die Eagles bereits auf die beiden. »Alles kurz zusammenkommen!«, ruft Wolf seinem Kommando zu.

»Take-off morgen mit den beiden Hubschraubern um 21:00 Uhr Lokalzeit. Zwischenlandung in Sirnak Serafettin Elçi Airport zum Auftanken. Der kleine Flugplatz liegt direkt am Dreiländereck Türkei/Syrien/Irak. Er ist in der Nacht geschlossen. Außer dem Tankwagen wird es also keine Zuschauer geben. Während des Tankens verbleiben Sie an Bord. Entfernung vom Zwischenziel zum Einsatzort etwa 70 Minuten Flugzeit. Sie werden die syrische Grenze umfliegen und unterhalb des Gebirgskammes zwischen den Ortschaften Dohuk und Alqosh direkt zum Objekt stoßen. Rettung und Evakuierung der Geiseln exakt 02:00 Uhr. Sobald Feldwebel Nader morgen zurück ist, wird Marc noch einmal alle Einzelheiten durchsprechen. Morgen haben Sie den ganzen Tag Zeit, sich zu akklimatisieren und mental auf den Einsatz vorzubereiten. Die Operation ist erst mit Ankunft in Calw beendet. Bis dahin keine Kommunikation mit Handys. Für heute, gute Nacht, schlafen Sie gut, Männer!«

»Gute Nacht, Herr General!«

Vor dem Einschlafen geht Marc den Einsatz noch einmal durch. Es wird ihm schwerfallen, Thomas und Tim von der möglichen Luftunterstützung nichts zu sagen. Aber Befehl ist Befehl. Außerdem wird man sie ohnehin nicht brauchen.

Marcs Gedanken gehen zu Tim, er müsste jetzt bereits auf dem Rückweg sein. Vor seinem Auge laufen die gemeinsamen Stationen ab, die unglaublichen Strapazen schon bei der Eignungsauswahl, die Schießausbildung im Simulator in Calw, wo Tim aus jeder Lage ins Schwarze traf, das Fallschirmspringen, Abseilen, der Nahkampf, die unvergessliche Ausbildung an Motorrädern, Sturmbooten und Faltkajaks, das Überleben in der Wüste im Süden der USA, im Dschungel, in der Arktis und die Ausbildung als Waffen- und Sprengspezialist.

Wenn sie schwitzend bei fünfzig Grad oder zitternd vor eisiger Kälte zusammengekauert lagen und nichts mehr spürten außer den Atem des Anderen, wenn das Schleppen der vierzig Kilogramm Lasten zur Tortur wurde, wenn Fragen nach dem Sinn des Ganzen aufkamen, dann kannten sie seine Antwort.

Ganz am Anfang hatten sie ihn gefragt, was er eigentlich unter dem Sinn des Ganzen verstand. Marc hatte geantwortet: »Ich mache das, weil wir etwas Besonderes sind, Elitesoldaten – mit Lust auf Leben und dabei ziemlich nah am Tod. Ich weiß selbst, wie schwer es fällt, nicht mit der Außenwelt sprechen zu dürfen. Aber so ist es nun einmal. Unsere Familie ist das Team, wir. Wir drei Brüder. Und es wird uns auch reichen müssen, draußen die stillen Helden genannt zu werden. Unsere Kraft liegt in uns selbst, nicht in der öffentlichen Bestätigung. Unser Band ist die Kameradschaft, nicht die verordnete Kameradschaft des §12 Soldatengesetz. Es ist viel, viel mehr, es ist die gelebte Kameradschaft in unserem Trupp. Meine Philosophie heißt: Einer für alle, alle für einen.«

Er hatte das danach nie wieder gesagt. Musste er auch nicht, denn er lebte sein ganz persönliches Verständnis von Kameradschaft vor.

Thomas liegt neben ihm. Er denkt ebenfalls an seinen Freund Tim und ob das gut geht. Wenn dem Imam da draußen etwas passiert, wäre er verdammt allein … niemand könnte ihm helfen. Warum musste der sich auch nur auf die Späher-Rolle für sein Vaterland einlassen …

Er weiß, wenn sie Tim entlarven und dann mit Sicherheit umlegen würden, wäre auch ein Teil von ihm gestorben. Als er sich aber vorstellt, wie Tim in seinem muslimischen Gewand, womöglich in Pluderhosen mit einem Kampfmesser darunter, im Land seines Propheten Arabisch sprechend auf Aufklärungsmission ist, kann er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Tim, du verkrachter Typ, du wirst es schaffen, dafür wird mein Prophet Jesus sorgen, denkt er, bevor er in einen Tiefschlaf fällt.

Jeder hat so seine Art zu beten.

Als Tim um sechs Uhr morgens eintrifft, will der nur noch schlafen. Drei Tage auf den Beinen, überwiegend per Kleinbus und zu Fuß unterwegs im feindlichen Hinterland waren genug. Er habe sich nur kurz in Kalak Chyah aufgehalten. Seit seinem letzten Aufenthalt habe sich das Leben unter den neuen Besatzern völlig geändert.

Marc sieht, wie todmüde der Mann ist.

»Gibt es irgendetwas, Tim, was unsere Planung umwirft?«

Tim gähnt, bekommt kaum den Mund zu.

»Negativ.«

»Dann penn‘ dich erst einmal aus. Briefing heute Mittag.«

Im Kommandozelt liest General Wolf inzwischen die Meldungen der Nachrichtenagenturen mit dem Schwerpunkt Mossul. Sie sind oft präziser als die Nachrichten aus dem militärischen Apparat, denn auch in den Kampfgebieten halten sich inzwischen etliche Journalisten auf. Wolf fokussiert sich auf die Kernbotschaften:

Die Kurden im Nordirak kämpften bisher bravourös mit Kalaschnikows und ein paar alten Panzerfäusten gegen einen atypischen Gegner … Seitdem sie westliche Ausbildungshilfe von der Bundeswehr und Material wie Feldküchen, Zelte, Funkgeräte, Minensonden, Nachtsichtgeräte, sowie zahlreiche Fahrzeuge vom Typ Dingo und Wolf plus Tanklastzüge erhalten haben, gelingt es mit Hilfe ebenfalls gelieferter G-36 Gewehren, Munition und der ersehnten Milan-Lenkflugkörpern mehr und mehr Gelände vom IS zurückzugewinnen … Gleichzeitig bekämpfen Teile der Peschmerga mit diesen deutschen Waffen Jesiden und lösen dadurch in der deutschen Politik größte Unruhe aus, vor allem, nachdem erbeutete deutsche Waffen bei dem IS gesichtet wurden …

Wolf grinst in sich hinein. Krieg ist eben ein schmutziges Geschäft, besonders dieser, in dem die Kriegsparteien ihre Seiten wechseln wie ein Chamäleon die Farbe.

Er blättert durch Spiegel-Online, dessen Redakteure offensichtlich besonders gut informiert sind:

Der IS ist durch die irakische und syrische Armee in der Zange … Die Luftangriffe der US-geführten Koalition zeigen endlich Wirkung, der Fall von Mossul und Rakka ist nur eine Frage der Zeit … Experten rechnen jedoch mit dem Tod tausender Zivilisten und warnen vor der Verminung zurückgelassener Städte und Orte … Sunniten und Kurden fühlen sich von Bagdad betrogen … Nach der Einnahme der Zentren durch Bagdad beginnt die irakische Vergeltung im Zeichen der Religion … Die Türkei befindet sich in einem politischen Spagat. Sie kämpft gegen die PKK im eigenen Land und versucht an ihren Grenzen das Entstehen eines autonomen Kurdenstaates zu verhindern … Aussichten dafür schlecht … Der Iran macht mit den Russen in Syrien gemeinsame Sache … Saudi-Arabien unterstützt den IS unverändert mit Geld und Waren, sucht Schulterschluss mit Russland und fliegt gleichzeitig in der US-geführten Allianz gegen den IS … Die USA unterstützen die irakische Armee hybrid mit nicht gekennzeichneten Spezialkräften und agieren dabei ähnlich wie Putins getarnte Soldaten beim Einnehmen der Krim … Die US-Spezialkräfte verdanken ihre Erfolge der irakischen Armee … Die Region ist ein einziger terroristischer Hexenkessel, der sich ständig neu erfindet … Eine ganze Generation ist bereits jetzt durch Flucht, Vergewaltigungen und Massaker traumatisiert … Die Annahme, der IS verschwindet mit dem Verlust seines Territoriums, ist falsch. Der IS wird weiterleben, auch wenn sein Territorium verloren ist und seine Führer ausgeschaltet sind.

Wir werden es in Europa erleben, denkt Wolf. Doch jetzt interessiert ihn nur sein Einsatzgebiet. Mossul befindet sich in Auflösung, zeigten die kristallklaren Bilder der deutschen Recce-Tornados. Die Stadt ist weitestgehend zerstört, Hunderttausende fliehen, wenn sie können. Einzelne IS-Kämpfer haben Geiseln als Faustpfand in der Hand und agieren autark.

Was bedeutet all das für die deutschen Geiseln Weier und Fischer? Eine stabile Lage wäre ihm verdammt lieber. Das einzig Gute ist, dass die Türkei den Einsatz vom türkischen Boden aus gestattet hat. Er war sich sicher, dass sie das hinbekommen würde. Diese Frau ist ein Geschenk für Deutschland, denkt er.

Jetzt muss er liefern.

Mittags sitzt das Kommando zusammen. Wolf ist gespannt auf den Bericht seines Agenten.

»Dann schießen Sie mal los, Tim!«

 

»Unser Einsatzgebiet ist ein Schlacht- und Minenfeld. Ich bin einmal fast in einen Luftangriff reingekommen. Von wegen IS-Terror. Geköpft wird auf beiden Seiten! Ich sah aus einem Bus, wie eine kurdische Kämpferin unter dem Gejohle der Menge einem gefangenen IS-Milizionär den Kopf abtrennte. Vorgestern kam ich dann nach Kalak Chyah. Eine Befragung im Dorf erschien mir zu riskant. Die Menschen haben Angst, das Dorf ist offensichtlich komplett in der Hand des IS, zumindest sah ich deren Fahnen an den Minaretten. Ich sah aber keine schwarz gekleideten Kämpfer. Sie sollen am Mossul-Damm zusammengezogen worden sein. Viele im Dorf haben diese dunkelgrünen Outdoor-Jacken, Sandalen und die knöchellangen Hosen der Radikalen.«

»Was gibt es vom Objekt zu berichten?«, fragt der General. »Ich konnte mich nur dreißig Minuten in der Nähe des Objektes aufhalten, und das war nachts bei beschränkter Sicht. Die unmittelbare Gegend ist hügelig und nach Norden hin ohne besondere Infrastruktur. Keine Hindernisse. Das Haus liegt am Ende einer Stichstraße zwischen der Landstraße und dem Fluss. Die etwa dreißig angrenzenden Häuser von Kalak Chyah sind 200 Meter entfernt. Vor dem zweistöckigen Haus steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Zwei Wachen dösen vor sich hin. Das Haus hat in beiden Etagen wahrscheinlich drei bis vier Räume. Im Gebäude unten brannte ein Licht. Ich habe dort die Bewegungen von zwei Personen gesehen. Mehr auch nicht, schon gar nicht habe ich die Geiseln erkannt. Ging leider nicht ohne Nachtsichtfernglas.«

Den Männern ist klar, dass Tim in dieser heiklen Späher-Operation ohne Ausrüstung unterwegs war.

»Hinter dem Haus gibt es in beiden Etagen drei Fenster. Es sieht so aus, als ob ein Graben um das Haus herumführt, bis zur Stichstraße. Falls man Deckung braucht. Das Abseilen kann direkt vor dem Objekt erfolgen. Die Hubschrauber sollten sich am besten seitlich vor unserem Objekt positionieren. Einer mit Blickrichtung zum Objekt, der andere feuerbereit zum Dorf nach Süden. Eigentlich ist alles so, wie wir das auf den Bildern der Drohnen gesehen haben. Sorry, mehr war nicht zu machen. Alles Andere hätte unseren Einsatz gefährdet.«

»Danke, Tim, gut gemacht. Wir haben allerdings erwartet, dass Sie die beiden Geiseln direkt mitbringen.«

»Wollte ich auch, Herr General, aber die haben mit den beiden Wachen so schön Doppelkopf gespielt!«

Die Männer grinsen. Der Imam ist schon ein Knaller. Macht mal kurz vor dem Einsatz noch einen lebensgefährlichen Ausflug.

Der General überlegt. Eine sichere Bestätigung, dass die Geiseln vor Ort sind, konnte Feldwebel Nader auch nicht liefern, aber zumindest einen Anhaltspunkt. Das sollte für die Freigabe des geheimen Einsatzes reichen. Sollte. Und wenn die Geiseln nicht angetroffen werden? Dann hätte man es wenigstens versucht. Wolf will jetzt diesen Einsatz. Der Rest ist Berufsrisiko.

Am 24. Dezember um exakt 21:45 Uhr starten die Rotoren der Helikopter. Die Männer sind angetreten. General Wolf mustert sie in ihren Tarnfleckanzügen, Teflon-Helmen mit Gesichtsvisier, Sprechfunk und Nachtsichtgerät, den hochgezogenen Brillen, Handfeuerwaffen, Sturmgewehren, Blend- und Handgranaten und den Kommunikationsmitteln. Der große Rucksack ist diesmal nicht dabei. Hier geht es um die bestmögliche Beweglichkeit.

Die sieben Eagles stehen aufgereiht. Wolf schaut jedem in die Augen. Niemand weicht seinem durchdringenden Blick aus. Kein Oben-Unten-Blick vom General zum Trooper, kein Kontrollblick. Ein Blick von Soldat zu Soldat, von Mensch zu Mensch. Sie wissen, dass der Boss alles für sie organisiert hat, was menschenmöglich ist. Es gibt nichts, was jetzt noch gesagt werden müsste.

»Herr General, ich melde Einsatzkommando Eagle startbereit!«

»Männer, ich möchte euch und die beiden Geiseln heute Nacht wohlbehalten hier sehen. Good luck! Hauptmann Anderson, übernehmen Sie!«

Während sich die beiden Eurocopter zielstrebig in den nächtlichen Himmel Richtung irakischer Grenze schrauben, geht General Wolf in das Zelt und lässt sich die Leitung zum Krisenkommunikationszentrum des Auswärtigen Amtes in Berlin freischalten.

Nichts spricht gegen einen perfekten Einsatz.

Zur selben Zeit im Auswärtigen Amt, Krisenreaktionszentrum. Bundeskanzlerin Dr. Henriette Behrens will für das Meeting im Krisenkeller nur einen kleinen Kreis haben. Der Leiter Krisenreaktionszentrum, Dr. Hartwig Bloedorn, hat die übliche Tischordnung geändert. Man sitzt heute in einem offenen Halbkreis vor der Videoleinwand. Rechts neben ihr Bundesverteidigungsminister Paul Voss, links Bundesaußenminister Georg von Rüdesheim, auf den Außenstühlen Innenminister Dr. Siegfried Bauer und Ministerialdirigent Dr. Rudolf Kürten mit BKA-Direktor Harry Busch.

Auf den Tischen im Krisenkeller erinnert der Adventskranz mit den vier brennenden Kerzen an die Welt draußen vor dem Krisenkeller. Das Weihnachtsgebäck kommt von Rudis Kellerkindern. Man unterhält sich zwanglos, die Stimmung ist vorsichtig optimistisch. Offensichtlich schlecht bewachte Geiseln, ein deutsches Top-Kommando, zwei Stunden in diesem Keller und dann nach Hause in die Weihnachtsstube. Niemand im Raum rechnet mit Nachrichten, die einen Stopp der Operation Eagle notwendig machen.

Links von der Leinwand hängt die Karte des Einsatzraumes mit Flugweg. Zwei kleine Punkte bewegen sich nach Süden.

»Was ist das?«, fragt die Kanzlerin zum Leiter des Krisenreaktionszentrums hinüber.

»Es sind unsere Hubschrauber. Sie haben soeben die Grenze zum Irak passiert.«

Auf dem Bildschirm flackert es. Brigadegeneral Wolf wird plötzlich sichtbar.

»Guten Abend, Frau Bundeskanzlerin, guten Abend, meine Herren. Schöne Weihnachten! Können Sie mich sehen und hören?«

»Hervorragend, guten Abend, Herr General nach Diyarbakir. Auch Ihnen schöne Weihnachten! Wir sind sehr gespannt.«

Im Folgenden berichtet der General von der problemlosen Anreise, den letzten Aufklärungsinformationen des Agenten, dem Flugweg der Hubschrauber, informiert über das Wetter im Einsatzgebiet, und die Absprachen mit den Amerikanern. Sodann vom geplanten Abseilen und dem Verhalten der Hubschrauberbesatzungen während der Befreiungsphase.

»Das Kommando befindet sich planmäßig auf dem Weg in das Zielgebiet. Wir werden diese Leitung kurz vor der Landung auf die Körperkamera des Truppführers Hauptmann Anderson umschalten. Stellen Sie sich bitte darauf ein, dass die Infrarotkamera auf Restlicht programmiert ist. Sobald eine Lichtquelle dazwischenkommt, werden Sie sehr grelle Bilder sehen. Es wird auch eine Tonübertragung geben. Bitte jedoch keine zu hohen Ansprüche an Bild und Ton. Das ist eine Premiere. Die Eagles sind untereinander mit Funk verbunden, so dass jeder vom anderen weiß. Der Truppführer ist auf gesonderten Kanälen zusätzlich mit mir hier in Diyarbakir und den beiden F-22 verbunden, die bereits auf dem Weg in den Bereitstellungsraum sind. Wir gehen aber nicht davon aus, dass wir sie benötigen. Haben Sie Fragen?«

Die Kanzlerin blickt sich um.

»Keine Fragen aus dieser Runde, Herr General!«

»Gut, dann schlage ich vor, dass wir diese Leitung jetzt trennen und in wenigen Minuten auf die Kamera des Truppführers Marc Anderson aufschalten.«

»Einverstanden, General Wolf!«

Henriette ist froh über diese Pause. Sie braucht die Zeit, um sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Wie mag es Helmut Weier und Josef Fischer gehen? Wie werden sie sich verhalten, wenn gleich ein Donnergetöse um sie herum ist? Wie wird der Kampf mit den Wachen ausgehen? Was passiert, wenn plötzlich doch eine ganze Horde dieser fürchterlichen IS-Kämpfer auftaucht? Werden die Kampfjets in dieser Lage zwischen dem Befreiungskommando und den Dschihadisten unterscheiden können? Bloß keine Situation, wie wir sie bei der Tötung der vielen Zivilisten in Afghanistan hatten, denkt sie, aber wenn die Aktion gut läuft, dann wird das DIE Weihnachtsbotschaft. Und wenn sie scheitert …?