Drei Brüder

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»Einverstanden, fädeln Sie das ein.«

Henriette betritt wieder einmal Neuland in ihrem Amt. Aber diesmal lastet die Verantwortung schwer. Sie fühlt sich, als hätte sie nach dem festgestellten Eintritt des Verteidigungsfalles jetzt als oberster Dienstherr die Befehls- und Kommandogewalt inne. Und irgendwie ist es ja auch so in dieser Lage. Sie muss das Leben von zwei deutschen Geiseln schützen. Das geht nur militärisch.

Die Bundeskanzlerin holt tief Luft. Dann spricht sie langsam und bestimmt:

»Befehl für die Operation Eagle ist erteilt! Ich werde mir heute noch die politische Genehmigung aus der Türkei einholen. Sie, Herr General Wolf, sind mir für die Vorbereitung und Durchführung persönlich verantwortlich. Sollten sich inakzeptable Unsicherheiten ergeben, blasen wir ab! Wann ist dafür der letztmögliche Zeitpunkt?«

»Bis eine Minute vor der Landung am Objekt, also 25. Dezember, 01:59 Uhr. Bis dahin kann ich noch einen Rückzug befehlen.«

»Können wir die Operation über Video in das Lagezentrum übertragen?«

Die Teilnehmer der Lage sind verblüfft. Eine Videoübertragung von einem Einsatz deutscher Spezialkräfte auf dem Territorium eines anderen Staates, das ist Neuland im Krisenkeller.

»Das kriegen wir hin, auch nachts um zwei Uhr. Die Bilder werden grün sein, aber erkennbar«, bestätigt Wolf. Er hat das für sich bereits mehrmals praktiziert, warum soll es nicht auch mit Schaltung nach Berlin funktionieren. Seine Leute brauchen dafür nur einen sicheren Datenweg.

»… und wir werden dafür sorgen, dass die Bilder hier ankommen, Frau Bundeskanzlerin«, ergänzt geflissentlich Bloedorn.

»Gut, meine Herren, sofern nichts dazwischen kommt, sehen wir uns hier im kleinen Kreis am 24. Dezember, 23:30 Uhr, wieder. Ich weiß, was ich Ihnen hier zumute. Doch ich meine, dass wir unsere Elitesoldaten Heiligabend und über die Weihnachtstage nicht allein lassen sollten. Wenn jemand nicht hier sein kann, habe ich dafür volles Verständnis. Sprachregelung nach außen weiterhin: Die Bundesregierung ist in ihrer Politik nicht erpressbar. Ich danke Ihnen für die hervorragende Unterrichtung. Viel Glück bei der Vorbereitung!«

19:00 Uhr. Die Sitzung ist beendet. Rudi geht sofort in sein Zimmer, er hat eine schwierige seelsorgerische Mission vor sich. Er muss mit den Ehefrauen der Geiseln reden, so reden, dass nichts verraten wird, aber sie dennoch beruhigt sind. Die Quadratur des Kreises.

Bevor die Bundeskanzlerin abfährt, winkt sie den Verteidigungsminister zu sich.

»Wirst du das schaffen, Paul?«

»Wir kriegen das hin, Henriette. Es gibt bei diesen Aktionen keine Garantien. Du weißt das, aber wir sind zuversichtlich, dass wir die beiden Geiseln rausbekommen!«

»Ich hoffe das, sonst Gnade dir Gott. Dann bis nachher. Ich versuche 20:00 Uhr.«

»Bis nachher.«


Als der gepanzerte schwarze Audi A8 mit der Bundeskanzlerin auf dem Rücksitz auf das kleine Hexenhaus mit Walmdach und Butzenscheiben in Berlin-Dahlem zurollt, ist es längst dunkel. Die skandinavische Kaltfront hat Berlin erreicht. Der erste Schnee in diesem Jahr bleibt wie feine, zarte Watte auf den Ästen der Bäume liegen und verwandelt Stadt und Land in eine Märchenlandschaft funkelnder Weihnachtslichter.

Die vorausfahrenden Personenschützer geben über Funk das Okay an den Fahrer. Die Strecke ist »sauber«, die Lage ist ruhig, keine Besonderheiten. Noch haben die Personenschützer keine Weisung für die höchste Sicherheitsstufe 1+ erhalten. Henriette hatte die Termine des restlichen Tages so kurz wie möglich gehalten, sie möchte nach diesem Höllenarbeitstag endlich für sich sein – oder besser gesagt, bei ihm.

Dieser Mann war das Unglaublichste, was ihr nach drei Jahren Ehe und einer unkomplizierten Scheidung widerfahren war. Es war diese eine Besprechung in ihrem Kanzler-Büro, als er auf eine Frage nicht antwortete. Er sah sie einfach mit seinen stahlblauen Augen an. Seine rechte Augenbraue bewegte sich leicht nach oben, und bei ihr brannte sich sein jungenhaftes Lächeln geradezu ein. Der Kerl antwortet einfach nicht, was bildet der sich ein? Nach zehn Sekunden hatte sie ihre Frage vergessen. So etwas kam bei Henriette, der Klugen und Beherrschten, so gut wie nie vor. Sie wusste nicht genau, was passiert war. Aber das Ergebnis war eine innere Vibration verbunden mit großer Neugierde. Noch am selben Abend gingen sie zusammen essen und dann zu ihm.

Danach wollten beide diese Treffen nicht mehr missen, wissend, dass es ein Spiel mit ungewissem Ausgang war. Warum, denkt sie, fasziniert mich dieser Mann unverändert … mit Paul in seinem Hexenhaus zusammen zu sein, bedeutet sprechen, sich fallen lassen dürfen, in der absoluten Gewissheit, dass er sich als Minister keine Rechte herausnehmen wird … grenzenloses Vertrauen, etwas, was im politischen Berlin verloren gegangen ist … vielleicht nie da war …

Sie zieht ihr Blackberry aus der Tasche und sieht sich ein Foto von ihm an, lächelt über sein schütter werdendes, blondes Haar, seinen Bauchansatz und die heimliche Eitelkeit eines Mannes, der in die Jahre kommt. Du musst doch nichts verbergen … gerade du … du hast für einen Mann eine geradezu unglaubliche Empathie … kannst unterscheiden zwischen dem, was geht, und was nicht möglich ist … bei allem, was du machst, bleibst du derselbe … auch in der Kabinettsrunde … vielleicht passen wir deswegen so gut zusammen …

Sie betrachtet noch schnell ein aktuelles Bild ihres Kabinetts. Ein Abbild der Gesellschaft. Überwiegend Männer, große und kleine, dünne und dicke. Sieben Frauen, fünf unscheinbare und zwei attraktive. Sie studiert die Gesichter, deren persönliche Agenda sie geschickt verborgen halten, auch die aus den eigenen Reihen. Die Minister sind vorsichtig bei ihr. Sehr vorsichtig. Sie wissen, dass die Kanzlerin absolute Kabinettsdisziplin erwartet. Wer einmal öffentlich Illoyalität zeigt, ist gefährdet. Bei Henriette gibt es nur eine einzige Wiedergutmachungschance. Kabinettsdisziplin … die Hofschranzen habe ich gleich zu Anfang entfernt, doch die vielen Ja-Sager … unerträglich … Paul ist der beste Verteidigungsminister, den ich mir wünschen kann … er scheint überhaupt der Erste zu sein, der diesen unkontrollierbaren Apparat in den Griff bekommt … misslungene kostspielige Rüstungsprojekte der Vorgänger … zunehmende Auslandsverpflichtungen … desolate Einsatzbereitschaft … Generäle und Staatssekretäre, die nur darauf warten, dass er einen Fehler macht … wieso hat Paul trotzdem eine gute Presse, fragt sie sich, als sich das Auto langsam seinem Haus nähert. Ich werde ihn fragen, wie er das hinbekommt, in diesem Moloch mit Schleudersitz gut zu sein, und trotzdem diese unglaubliche Gelassenheit zu bewahren.

Sie biegen in seine Straße ein.

Das Amt, so spürt sie, war für ihn kein Karriereschritt, sondern ein Weg zu sich selbst. Vielleicht mag sie ihn deswegen. Und wohl auch weil er, wie sie, die philosophischen Schriften des Stoikers Marc Aurel liebt. Beide sind verantwortungsvolle Bewahrer, stets das Gemeinwohl im Auge, vor allem sind sie keine Spieler.

Sie schaltet ihr Handy aus. Die Nation muss heute ein paar Stunden ohne mich auskommen … ich brauche nach dieser Krisensitzung eine Tankstelle, und die heißt Paul …

Als sie sich vorstellt, wie es gleich laufen würde, lacht sie leise. Natürlich werden sie über den KSK-Einsatz sprechen. Aber ich möchte heute Abend nicht mehr eingeschnürt sein, einfach mal wieder Frau sein …

Sie freut sich diebisch darauf, damit auch zu spielen, wissend, dass ihre Beziehung sofort zu Ende ist, wenn sie ein Thema im politischen Berlin wird. Ihre prickelnde und längst nicht ausgelebte Beziehung war bisher geheim geblieben. Das musste so bleiben. Sie blickt auf die Personenschützer, die ersten in der Reihe möglicher Wissensträger, und weiß, dass die niemals auch nur ahnen dürfen, was sie mit dem Verteidigungsminister jenseits des Amtes wirklich verbindet.

Das Eingangstor öffnet sich. Paul steht dort und blickt auf ihr Auto. Er hat sein Jackett gegen einen schwarzen Kaschmirpullover über einem roten Polohemd getauscht.

»Seien Sie herzlich willkommen Frau Behrens, Henriette Behrens.«

»Was soll denn diese Begrüßung?«

»Schau dir doch mal dein Nummernschild an, James!«

Henriette dreht sich zum Fahrzeug und schüttelt den Kopf.

»Herrgott, haben die mir wieder eine 007 drauf geklemmt! Mit dem Ding war ich gerade noch in Brüssel, übrigens zur Freude der anderen Regierungschefs.«

Die schwere weiße Sicherheitstür gleitet ins Schloss. Er hilft ihr aus dem Mantel. Mit einem Schlag fallen der Dienst und der Stress der Krisensitzung von ihr ab.

Sie gehen die leicht knarrende Holztreppe mit dem wunderbar geschwungenen Treppenlauf hoch in seinen Wohnraum.

Ich liebe dieses Haus, keine Bunkeratmosphäre, kein Bauhausstil, keine sterilen Vorzeigemöbel, eben diese warmen Farben und der harzige Geruch des Brennholzes, denkt Henriette.

Sie lässt sich sofort auf den karminroten Ohrensessel der Werkstattmanufaktur fallen, streift die Schuhe herunter und legt die Füße auf die Fußbank und schließt die Augen.

Paul ist nebenan in der Küche, fragt nicht, lässt sie einfach sein.

Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie auf dem kleinen Kapitäns-Schreibtisch die Bilder seiner blassen blonden Frau, seiner beiden erwachsenen Söhne und seiner beiden Enkelkinder.

Paul war schon Witwer, bevor sie ihn ins Kabinett holte. Er hatte ihr nur wenig über den langsamen Leukämie-Tod seiner Frau erzählt. Es muss wohl eine gute Ehe gewesen sein. Paul meinte, danach hätte er sich verändert. Er sei etwas introvertierter geworden. Er käme mit Hilfe seiner Zugehfrau ganz gut allein zurecht. Was er nicht mag, sind die wiederholten Berichte in den Gazetten-Blättern, die ihn zum begehrtesten Single im politischen Berlin machen.

 

Ihr Blick streift weiter über die weißen, bis zur Decke führenden Regalbretter. Oben sind die vielen Bücher nur mit einer eingehängten Leiter zu erreichen. Sie stehen nicht wie die Zinnsoldaten, sondern liegen zwischendurch in angenehmer Unordnung. Das Regal lebt.

Zwischen den Büchern Erinnerungen von Reisen. Darunter eine kleine Elefantenherde, Erdmännchen, Giraffen und Zebras mit einem Bild, das ihn mit Safari-Hut vor der Hütte einer Himba-Frau zeigt. Sie muss über Pauls kleinen Zoo schmunzeln. Andere haben Papageien oder Singvögel im Käfig. Paul hat seine Erdmännchen.

Die Heizkörper sind mit weißen Gitterelementen verkleidet und bilden mit dem Bücherregal und den weißen Sprossen der Fenster eine dezente, harmonische Einheit. In jeder Ecke leuchtet eine Stehlampe, alle mit unterschiedlichen, warmen Farben. Vor dem Kamin sein geliebter Schaukelstuhl, zwei Leder-Sitzkissen und ein halbleeres Glas mit Rotwein. In einer Ecke ein Gitarrenkasten und ein Notenständer. Die anderen Zimmer kennt sie nicht, und sie fragt sich, wie schon öfter, wie wohl sein Schlafzimmer eingerichtet ist. Spartanisch oder in dem Ambiente dieser Wohlfühl-Oase?

Sie rutscht den Ohrensessel herunter, legt den Kopf zurück, streicht sich mit beiden Händen über die Schläfen und die Haare, legt die Arme auf die Lehnen, öffnet die Hände und schließt erneut die Augen.

Sie genießt es, hier zu sein und wieder diese wunderbar knisternde Grundspannung zu spüren, von der sie beide nicht wissen, wohin sie treibt. Heute ist ihr nach vielen, warmen Strahlen.

Paul schaut aus der Küche zu ihr hinüber.

Er kennt diesen Moment. Henriette tankt auf, auf ihre Weise.

Er versucht, so leise wie möglich zu sein, als er mit ihrem Lieblingsdessert kommt und es zu ihr auf den hölzernen Beistelltisch stellt: Schokoladeneis mit Schokoladensoße, Schokoladenstreuseln und Sahne. Ihre Augen sind noch geschlossen. Henriette entspannt total.

Sie fühlt, wie sich seine Hände auf ihren Kopf legen und die Fingerspitzen hinter ihren Ohren langsam zu ihrem Nacken wandern. Er sagt nichts, aber sie sieht seine liebevollen Lachfältchen auch so. Seine Strahlen durchziehen ihren Körper wie unendlich feine Wärmefäden, dringen über den Bauch bis zu den Zehen. Sie lässt es zu, spürt, dass sie es will. Sie atmet tief durch, hebt ihre Arme zu ihm, sucht seine Hände und legt sie auf ihre Brüste. Er fühlt ihren schnellen Herzschlag. Sie öffnet die Augen und will seinen Kopf zu sich ziehen.

Da fällt ihr Blick auf den Schreibtischstuhl. Sie zuckt jäh auf! Ein Aktenrücken mit roten Großbuchstaben schaut sie an wie eine hässliche Drohung: OPERATION EAGLE – TOP SECRET.

Flash! Dieses übergroße Geiselfoto von heute im Lagezentrum mit zwei angstverzerrten Gesichtern, die geschändet werden von einem, der ihr Bild auf dem Rücken trägt. Sie schüttelt sich, als wolle sie dadurch das verfluchte Bild loswerden.

Augenblicklich spürt Paul ihre Verkrampfung.

»Was passiert gerade bei dir?«, fragt er, als er von ihr lässt.

Sie richtet sich langsam im Sessel auf und zeigt auf den Aktenordner. Paul begreift.

Henriette ist wieder im Krisenkeller.

»Erzähl‘ mir von diesen Jungs. Können die das wirklich?«

»Ich habe keine Zweifel. Wolf hat die Besten zusammengeholt.«

»Was heißt das, Paul?«

Paul nimmt vorsichtig ihre Füße hoch, setzt sich vor ihr auf den Fußhocker des Ohrensessels, legt ihre Beine behutsam auf seine Oberschenkel und reicht ihr das Eis.

»Die eigentliche Befreiung machen wir mit drei kampferprobten Elitesoldaten. Sie kennen sich lange. Der Truppführer, Hauptmann Marc Anderson, noch keine dreißig, hat verschiedene Male Terroristen in Afghanistan, im Irak und in Algerien gestellt und einige Geiselbefreiungen hinter den Linien durchgezogen. Einmal war er vierzehn Tage verschollen und tauchte dann plötzlich wieder auf. Er ist so eine Art Mehrzweckwaffe, extrem schnell im Kopf und arbeitet am liebsten autark. Wir wollten ihn vor einigen Monaten aus der Einsatzkompanie herausnehmen und langfristig aufbauen. Er hat jedoch die Generalstabsausbildung und die Beförderung zum Major abgelehnt. Anderson will bei seinen Jungs bleiben.«

»Ich vermute, die anderen beiden sind seine Jungs?«

»Richtig, der nächste Mann an seiner Seite ist Hauptfeldwebel Thomas Heinrich, sechsundzwanzig Jahre, Experte für Sprengstoff und Nahkampf.

Er verehrt Marc.«

»Und Nummer Drei?«

»Feldwebel Tim Nader, dasselbe Alter, Deutsch-Libanese, Muslim. Übrigens der einzige Muslim im KSK. Ein hervorragender Einzelkämpfer und ein Sprachgenie. Kommt aus einer muslimischen Hamburger Tee-Dynastie. Ohne ihn könnten wir EAGLE gar nicht durchziehen. Alle drei haben sich irgendwann und irgendwo einmal gegenseitig das Leben gerettet. Sie kennen sich untereinander besser als manch lange verheiratetes Ehepaar. Sie vertrauen einander blind.«

»Jemand verheiratet?«

»Marc Anderson hat sich nach zwei Jahren Ehe scheiden lassen. Tim und Thomas haben es gar nicht erst versucht. In der Kompanie ist praktisch keiner mehr verheiratet. Das Band der Familie haben sie gegen das Band der KSK-Brüder eingetauscht. Wolf sagte mir, Marc, Thomas und Tim seien so etwas wie drei ganz besondere Brüder mit einer sehr starken emotionalen Bindung.«

»Warum zerbrechen diese Familien? Ist Calw etwa familienfeindlich?«

Paul greift zu der kleinen Karaffe auf dem Beistelltisch und gießt etwas Rumtopf auf ihr Eis.

»Danke, Paul, hm, der schmeckt ja irrsinnig gut. Wenn wir beide gefeuert werden, verkaufen wir deinen wunderbaren Rumtopf auf dem Gendarmenmarkt.«

Paul lacht lauthals, als er sich das vorstellt, wie er das Eis macht und sie verkauft. Sie, die Ex-Kanzlerin, würde selbst das bringen!

»Ach, Henriette, die sozialen Probleme in den Spezialkräften bei Heer und Marine sind ein Dauerthema. Du musst dir sie so vorstellen: Diese Ausnahmesoldaten dürfen ihren Familien nicht sagen, wohin sie gehen, was sie gemacht haben, und woher sie kommen. Da sie aber sprechen müssen, reden sie mit ihren Brüdern in der Kaserne, in ihrer Festung.«

»Warum machen diese Kerle das? Sind das infantile Rambos, die, wie sagt man das heute, es geil finden, jemanden wegzupusten?«

»Klar, dass sich diese Männer beweisen wollen. Sie gehen permanent an ihre physischen und psychischen Grenzen. Aber Rambos, nein Henriette, die wollen wir nicht. Die lässt Wolf erst gar nicht zu. Wir wollen schon Aggressionen, aber wir nehmen nur Männer, die ihre Aggressionen kontrollieren können. Und diese drei Ausnahme-Männer sind jetzt schon Patrioten. Alle drei wurden vom US-Präsidenten mit der Navy Presidential Unit Citation ausgezeichnet. Das ist ein ziemlich seltener Orden.«

»Wieso das?«

»Marc und sein Trupp segelten in Afghanistan mit Gleitfallschirmen dreißig Kilometer in feindliches Gebiet und retteten zusammen mit den Navy Seals amerikanische Soldaten. Seitdem heißt Marc bei denen respektvoll Marc Blitzkrieg. Durften sie natürlich auch nicht ihren Familien erzählen. Die Orden hat der Kommandeur ihnen auch gleich wieder abgenommen und in seinem Schrank verpackt.«

»Wieso Afghanistan, da hat Deutschland sich doch noch strikt rausgehalten, das durften die doch gar nicht!«

»Vergiss es, Henriette, war vor deiner Zeit. Doch seit wann interessierst du dich für Dienstgrade unterhalb der Generalsebene?«

Sofort bedauert er diese Frage, als er einen leichten, aber unübersehbar missbilligenden Zug in ihrem Gesicht sieht, und sie sich ruckartig im Sessel ganz hoch stemmt.

»Ich respektiere Menschen, die sich unter Hintanstellung ihres Lebens für dieses Land einsetzen. Der Dienstgrad ist für mich völlig uninteressant. Du wirst bitte dafür Sorge tragen, Herr Minister, dass das gesamte Team, einschließlich Hubschrauberbesatzungen und den Einsatz unterstützenden Kräften unbeschadet aus dieser Sache rauskommt.«

Sie sieht, dass er von ihrer förmlichen Reaktion irritiert ist, streicht ihm liebevoll über den Arm und lehnt sich an seine Schulter.

»Paul, ich habe Angst, dass ich einen Riesenfehler mache und das Leben dieser Jungs aufs Spiel setze. Wie ist deine Einschätzung, wirklich ehrlich, bitte?«

Paul steht auf, legt ihre Beine wieder auf den Hocker und geht zum Bücherregal.

»Das ist ganz einfach, Henriette.«

Er zieht zielsicher ein Buch aus dem Regal, blättert, schaut sie etwas verschmitzt an und zitiert: »Marc Aurel, Wege zu sich selbst, Viertes Buch, Nr. 18: Wie viel Unruhe erspart sich der, der nicht darauf schaut, was der Nächste gesagt oder getan oder gedacht hat, sondern allein, was er selber tut, damit eben dieses gerecht ist …«

Henriette zwinkert ihm zu, steht auf und geht mit der leeren Karaffe in seine Küche zum Rumtopf.

Klug gesagt, Marc Aurel, denkt sie, als sie den Rumtopf nachgießt und der süßliche, typische Geruch in ihre Nase steigt, aber wie stark muss man sein, dass einem das Gerede der anderen im Grunde egal ist … ja, die Fraktion traut mir zu, dass ich die Einsamkeit des Führens ertragen kann … heute Abend ist es schwer … verdammt schwer … ich kann diese Entscheidung nicht teilen … auch nicht mit Paul … sie bleibt bei mir, mit allen Konsequenzen … im besten Fall zwei lebende Geiseln, im schlechtesten zwei tote Geiseln und tote Soldaten.

Paul lacht, als sie zurückkommt und scheinbar gelassen das restliche Eis mit neuem Rumtopf begießt. Aber er spürt ihre Unsicherheit, vielleicht sogar die Angst vor den Konsequenzen ihrer Entscheidung. Er überlegt kurz, ob er ihr ihre Angst nehmen soll. Nein, denkt er, solange sie nichts sagt, macht es keinen Sinn, sie zu beschwichtigen … sie verarbeitet das immer auf ihre Weise … mit sich selbst … sie sucht Nähe, aber igelt sich in dieser Nähe gern ein … sie wird das stemmen … mit Verstand und Bauch … in Extremlagen ist Henriette Behrens unschlagbar …

Bevor sie den leeren Eisbecher in die Küche bringt, gibt sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Weißt du eigentlich, dass Marc Aurel kaum zum Schreiben kam, weil er dauernd Krieg gegen die Barbaren führen musste? Barbaren, die mindestens so schlimm waren wie heute dieser selbst ernannte Islamische Staat?«

»Richtig, aber dabei hat er seiner Frau Faustina auf dem Feldlager nicht nur vierzehn Kinder gemacht, sondern konnte mitten in der Rastlosigkeit der Regierungsgeschäfte seine Heiterkeit und seinen inneren Frieden bewahren.«

Sie kommt zu ihm zurück. Er sitzt inzwischen auf einem Kissen am Kamin.

»Vierzehn …?«

»Du hast richtig verstanden.«

»Die Heiterkeit zu bewahren ist für mich in Ordnung, so du mir in den Regierungsgeschäften beistehst, für das Erste ist es zu spät.«

Er lacht wieder lauthals. »Für die vierzehn Kinder oder das Feldlager?«

»Untersteh‘ dich, Paul! Wir haben eine Vereinbarung.«

Paul schaut sie an, wie damals im Büro, mit dieser hochgezogenen Augenbraue. Sie beschließt, diesen Moment auf keinen Fall zu wiederholen, zumal allmählich der Rumtopf wirkt.

»Ich habe eine Bitte an dich. Sage mir rechtzeitig, wenn ich in dieser Operation Eagle aus der Spur laufe.«

»Das sehe ich nicht, Henriette, du hast heute eine fantastische Lage gemacht, und bis zum Einsatzbefehl haben wir noch Zeit, mögliche Fehler zu erkennen und zu korrigieren. In der Zwischenzeit achte auf dich, wie ich auf Operation Eagle aufpassen werde.«

Sie nickt, schlüpft in ihre blau-weißen Pumps und zupft das Kostüm zurecht.

»Wie sehe ich aus?«

»Wie immer, perfekt, James.«

Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände, küsst ihn flüchtig auf den Mund.

»Entschuldige, Paul, ich muss von dieser Sache erst wieder frei sein.«

Bevor er die Arme um sie legen kann zieht sie das Handy hervor und weist den Personenschutz an, vorzufahren.

Paul bringt sie zur Haustür und versucht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte sich heute so gelassen wie möglich gezeigt, und war doch aufgeregt gewesen, wie vor dem ersten Date. Sie wären fast im Bett gelandet, endlich wieder, wie damals, aufregend und alles vergessend.

 

Was ist da verdammt noch mal schief gelaufen? Die WEFI-Akte kann es doch nicht allein gewesen sein! Was empfindet sie wirklich für ihn? Kann sie sich überhaupt zu einer Beziehung bekennen? Die schöne Henriette ist und bleibt so eine Art Touch-and-Go-Fall. Kurze Berührung, schon ist sie wieder weg. Vielleicht hat ihr Verhalten gar nichts mit dem Amt, sondern allein mit ihrer Bindungsfähigkeit zu tun? Eigentlich ist sie mit 49 Jahren längst ein eingefleischter Single. Wenn ich ehrlich bin, kenne ich sie besser im Kabinett als privat. Wer ist Henriette Behrens? Warum geht sie mir nicht aus dem Kopf? Was macht sie aufregend und sexy für mich? Macht ihre Macht mich an? Was wäre mit meinen Gefühlen, wenn sie nicht Bundeskanzlerin wäre? Nein, ihr Amt ist mir egal. Sie könnte auch eine Bibliothekarin in Trastevere in Rom sein. Doch was ist mit ihren Gefühlen? Machst du dir da nicht einfach gewaltig etwas vor, Paul Voss?

Die Rücklichter des Audi A8 verschwinden. Er würde zu gern wissen, was Henriette jetzt über ihre Beziehung zu ihm denkt. Egal. Weihnachten wird es nach der erfolgreichen Operation Eagle eine neue Chance geben. Mit einer ganz anderen, völlig entspannten Henriette. Glaubt er.