Drei Brüder

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Spezialnachtvisier, Zielzuweisung, nicht hinschauen, sonst wirst du blind!

Neuer, tosender Lärm.

Die lange Silhouette eines Monsters taucht auf, kommt näher. Der Chinook-Transporthubschrauber hängt schwerfällig wenige Meter über dem Boden. Ratternde Salven aus dem Ungetüm. Fünfzig lebensrettende Meter vor den Elitesoldaten. Jeder Meter einer zu viel! Denn es sind noch zu viele Taliban. Die beiden Rotoren wirbeln Steine und Dreck durch die Luft.

Warum immer wieder dieses Monstergerät?, denkt Marc, hoffentlich geht das gut.

Das Monster bewegt sich auf den Boden zu, setzt erst hinten auf, dann vorne. Krach, Nachwippen, steht endlich auf dem leicht abfallenden, felsigen Boden. Sofort springen Charlie Force Fighter mit ihren bereits angelegten Nachtsichtgeräten aus dem Chinook.

Niederknien, zielen.

Die Apaches drehen sich wie computergesteuerte Wesen auf die Ziele zu, geben Feuerschutz für die Echo Force.

Marc wirft sich um die eigene Achse auf den Rücken, checkt die Lage für den Trupp. Jetzt kommt der gefährlichste Moment in diesem Hexenkessel. Für sie und die Hubschrauber, denn das ist eine perfekte Situation für einen grandiosen Feuerball mit nur einer einzigen Panzerfaust. Drei Seals schleppen unter dem Feuer der Apache-Hubschrauber Les und den mittlerweile bewusstlosen Buddy zum Hubschrauber.

Geschafft!

Der Medic nimmt Buddy in Empfang, er hat den Infusionsbehälter und die Sauerstoffmaske bereits in der Hand. Buddy hat jetzt eine Chance. Vielleicht.

Ein verkabelter Amerikaner an der Tür des Chinook winkt hektisch.

»Get in, get in!«

»Tim, Tango hinter dir!« Marc kann ihm nicht helfen, sein Bruder steht genau in der Schusslinie.

Der kleine Tim schnellt katzengleich herum, schießt aus der Hüfte. Der Taliban spreizt im Fallen die Arme. Seine Kalaschnikow wirbelt durch die Luft wie eine groteske Zirkusnummer.

»Danke, Marc.«

Tangos jetzt von allen Seiten. Die Echo Force rennt gebückt Richtung Hubschrauber.

Gucken, erkennen, Salve, neues Magazin, weiter!

Jeder sichert sechzig Grad.

Sechs mal sechzig. Kein Sektor darf offen bleiben. Einer für alle, alle für einen.

Noch zehn Meter bis zum Chinook!

Die Charlie Force und die Navy Seals One und Two sind drin, geben Feuerschutz für George und die drei Deutschen, unterstützt von den zwei Höllenmaschinen, die noch in der Luft warten.

Thomas kniet sich in der Deckung des Hubschraubers nieder und aktiviert die Fernzündung. In der Ferne gibt es eine gewaltige Explosion, die das Tal beben lässt. Das Echo will nicht aufhören. Es ist, als würde der Hindukusch zerbersten. Erledigt. Was geheim war, musste zerstört werden. Der US-Kampfjet dürfte nur noch aus kleinen Metallteilen bestehen.

»Hurry up, hurry up!«, kommt von dem Amerikaner in der Tür des Chinook. Er fuchtelt jetzt hektisch mit dem Arm herum. Das Monster ist in Gefahr. Es wäre nicht das erste Mal, dass Soldaten zurückbleiben müssen.

Tim und Thomas sind mit einem gewaltigen Sprung drin, hinter ihnen George, Seal One.

Marc ist der Letzte am Boden. Wie immer. Erst sein Trupp, dann er.

Das Monster hebt bereits ab. George winkt ihm hektisch zu. Marc wirft das Gewehr um die Schulter, dann ein Riesensatz zur Tür, George hält ihn fest, zieht ihn hinein. Halb hängend feuert Marc seine letzten Salven in Richtung der Mündungsfeuer am Boden.

Die drei Hubschrauber mit der Echo Force und der geretteten F-15-Crew tauchen ab in das dunstige Tal.

Seal One klopft seinem deutschen Freund von hinten anerkennend auf die Schulter.

Marc Anderson befindet sich auf dem Zenit seiner Karriere, nicht wissend, dass er seine eigentliche Prüfung noch vor sich und sein Glück als Elitesoldat heute für immer verbraucht hat.

2.
Berlin

Auch an diesem 17. Dezember röhrt der nicht ganz legale Auspuff der Harley Road King etwas zu laut bei der Einfahrt in die Garage des Auswärtigen Amtes in Berlin. Die Polizeiposten vom Amt wissen: Rudi fährt vor, Dr. Rudolf Kürten, der Mann für alle Fälle, wenn deutsche Staatsbürger irgendwo in der Welt ein gravierendes Problem haben.

»Guten Morgen, Herr Doktor Kürten!«

Rudi klappt das Helmvisier hoch: »Ich hab‘ doch gesagt, lasst endlich den Doktor weg!«

»Jawohl, Herr Doktor!«

Es ist in der Tat ein etwas untypischer Ministerialdirigent, mit Biker-Lederjacke, einem dezenten Ohrring, einem spitzen Kinnbärtchen und zum Zopf zusammengebundenen Haar, der da sein Reich betritt.

Sein Reich im Hochsicherheitstrakt unter Tage, eine 24-Stunden-Krisenmanagementmaschine, ist das Beste, was es in Deutschland gibt. Seine Leute sind Spezialisten vom Auswärtigen Amt, der Bundeswehr und aus den Nachrichtendiensten, Menschen, deren Vita er selbst nicht immer kennt. Doch Rudi muss sich vollkommen auf sie verlassen können. Jede falsche Koordinate, jede falsche Uhrzeit, jeder falsche Name, jede falsche Wetteranalyse oder jede falsche politische Einschätzung kann Leben gefährden. Rudis Job aber ist es, Leben zu retten. Am liebsten würde er das selbst tun.

Aber er ist nicht Frontsoldat, sondern am Schreibtisch so etwas wie der oberste Krisenmanager der Nation. Oft genug am finalen Hebel der Verantwortung, wenn die Leitung oder sogar die Regierungschefin nicht entscheiden will.

Rudolf betritt das Krisenreaktionszentrum durch die Tür aus Tresorstahl, einem Erbe aus früheren Tagen, als hier noch die Reichsbank untergebracht war. Der Ort war eine kluge Wahl. Die abhörsicheren, einhundertzwanzig Zentimeter dicken Stahlbetonwände und achtzig Zentimeter dicken Fensterläden aus Stahl leisten beste Dienste gegen das Abhören von außen. Da aber der Feind auch innen sitzen kann, legt jeder Teilnehmer einer Krisensitzung sein Handy vor der Tür in den kleinen Schrank mit den achtzehn verschließbaren Fächern ab, Minister eingeschlossen.

Rudolf schaut kurz in den Lombardraum hinein, in seine Schaltzentrale.

»Guten Morgen allerseits, irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

Alberne Nachfrage, denkt er, denn hier ist jede Nacht etwas los und wird routinemäßig von der Nachtschicht unter Leitung des Beamten vom Dienst abgearbeitet: Entführte werden zurückgeholt, Angehörige telefonisch beruhigt, Sanitäter und Seelsorger geordert, und es wird ständig nach verschollenen Deutschen gesucht. Oft tauchen die dann irgendwann von selbst wieder auf. Nichts Besonderes. Es gibt im Fachjargon die Unterscheidung zwischen Vorkommnissen und den Besonderen Vorkommnissen, den BV, bei denen ihn die Nachtwache der Nation aus dem Bett holen würde.

Vor dem Beamten vom Dienst stehen vier Telefone, eines mit der Aufschrift Vorsicht Abhörgefahr! An sich nicht notwendig, denkt Rudi, meine Leute sind von Haus aus verschwiegen. Sie reden auch über die verschlüsselten Geräte nur das absolut Notwendige. Am liebsten: Verstanden – Roger – Over – Out.

Die Welt draußen ist hier in einen einzigen Raum gepackt. Neun Normaluhren mit den Namen der Hauptstädte, austauschbar mit dem aktuellen Krisenort in der zugehörigen Zeitzone. An der Wand Karten und die Privat- und Handynummern der Minister und Staatssekretäre. Sensible Daten, die abgedeckt werden, wenn Fremde das Allerheiligste betreten. Rund um die Uhr gehen die Ticker-Meldungen der Agenturen über Bild und Text ein, ebenso die BND- und BKA-Berichte und die der zweihundertvierzig deutschen Botschaften, so genannte Drahtberichte, die immer noch so heißen, obwohl sie längst elektronisch sind. Überall flimmert es, zehn Bildschirme allein für die Nachrichtensender. Für fast jedes Land gibt es einen Länderordner. Es gibt kaum etwas, was hier planerisch nicht schon vorgedacht ist.

Jeden Morgen wundert sich Rudi darüber, dass es hier bei dem Rund-um-die-Uhr-Betrieb in drei Schichten nicht muffig riecht. Wenn es richtig heiß hergeht, hat er im Amt eine Reserve von über zweihundertfünfzig geschulten Beamten für den Telefondienst. Bei Rudi läuft alles zusammen. Er ist ein Kellerkind der besonderen Klasse.

Allerdings ist sein Dienstzimmer kein Kellerverließ, es ist wie alle Dienstzimmer der Ebene Abteilungsleiter/Ministerialdirigent/Besoldungsgruppe B 6 nach besonderen Standards ausgerichtet. Großer Mahagoni-Schreibtisch, schwerer Teppich, Besprechungsecke mit feinen, schwarzen Sesseln, das Bild des Außenministers in Öl.

Dieser, der Leiter des Amtes, Georg von Rüdesheim, hat ein nettes, freundliches Gesicht.

Minister kommen und gehen. Mit ihnen die Ölgemälde. Nur der kleine schwarze Nagel an der Wand bleibt. Jahrzehntelang. Er hat inzwischen quasi einen ministeriellen Status bekommen. Ein Nagel wie der ideale Beamte dieses Hauses. Unauffällig und leistungsstark.

Ein Schild in Rudis Zimmer wird jedoch nie bewegt:

Failure is not an option.

Rudi lebt konsequent nach diesem Prinzip. Es stammt von der NASA, und galt der zu rettenden Apollo 13-Crew im All. Katastrophen verhindern durch Vermeiden von Fehlern. Auf dem Motorrad wie auch im Krisenkeller. Da gibt es für Rudi keinen Spielraum.

Er mag seine achtunddreißig Frauen und Männer von der Abteilung 04 im geheimnisumwitterten Krisenkeller – und sie ihn. Denn Dr. Rudolf Kürten ist nicht der amtstypische, aalglatte Beamte, sondern stets locker, mit viel Herz, und dabei hoch kompetent. Er hat seine Krisenweihen als Botschafter in Kenia, und damit auch zuständig für Somalia und Burundi, bekommen. Niemand im Amt kennt das leidige Thema Piraterie so gut wie er. Mit zweiundfünfzig Jahren weiß er auch, dass ein lockeres Arbeitsklima die besten Erfolge garantiert.

 

Doch Fronterfahrung und kooperativer Führungsstil sind nur eine Sache. Rudi ist keineswegs naiv. Hier im Krisenmanagementzentrum der Republik ist analytischer und emotionsfreier Sachverstand gefragt. Ohne Wenn und Aber.

Für die Lösung komplexer Lagen hat Rudolf ein bestimmtes Konzept geradezu verinnerlicht.

Es war vor vier Jahren, bei einer Einweisung für Spitzen-Führungskräfte der Wirtschaft an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg Blankenese. Er sieht den Oberst noch vor sich: Linker Arm in einem Tragetuch, Narbe oberhalb des rechten Auges, ganz scharfer Blick. Ein Typ wie Graf von Stauffenberg, hingerichtet am 20. Juli 1944.

»Bevor Sie eine Entscheidung treffen, meine Damen und Herren, verfahren Sie nach diesen vier Schritten:

1. Situation Analysis:

Alle Faktoren der Situation, bitte ohne jegliche Bewertung. Wir Soldaten nennen das Eigene Lage und Feindlage. Bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Wirtschaft, können das z.B. die Produktpalette und der Wettbewerb sein. Bei den Damen und Herren vom Auswärtigen Amt der eigene rechtliche Rahmen und die politische Situation im Problemland. Verstanden? Okay, weiter geht’s!

2. Assessment:

Bewerten Sie jetzt aus der Situation Analysis Ihre Lage und die des Gegners. Aber keine Emotionen, sachlich bitte! Sie fahren gut, wenn Sie nach Faktoren bewerten. Ich sehe, Sie schauen mich fragend an, was Faktoren sind. Sehr einfach. Zum Beispiel die Fähigkeit der eigenen und der gegnerischen Ressourcen, die Marktsituation, die politische Lage, je nachdem, wo immer Sie arbeiten. Bei uns Militärs kann zum Beispiel das Wetter der entscheidende Faktor sein. Je umfassender Sie bewerten, umso besser wird die Entscheidungsgrundlage. Ist das auch verstanden? Nun, dann komme ich zu:

3. Objectives:

Sie glauben, dass Sie jetzt entscheidungsreif sind? Falsch, meine Damen und Herren. An dieser Stelle werden leider zu oft zu frühe, und damit auch falsche Entscheidungen getroffen. Entschleunigen Sie einen Augenblick. Schauen Sie in sich und fragen Sie sich: Was ist die Zielsetzung meines Handelns in dieser Lage? Was will ich erreichen? Ihre Antwort wird den Kurs bestimmen. Wollen Sie vielleicht den ganz großen Krieg gewinnen oder in dieser Phase vielmehr nur die Medien beruhigen? Im letzteren Fall ist Ihr Handeln auf Krisenkommunikationsoptionen ausgerichtet. Sie sehen, wie schnell man sich hier verlaufen kann. Damit zum letzten Punkt.

4. Conclusions:

Jetzt dürfen Sie Ihre Entscheidung treffen. Vielleicht hatten Sie die schon in der Hosentasche. Gut, dann ist sie jetzt immerhin bestmöglich abgesichert. Vielleicht sind Sie aber nach dieser Analyse mit einer ganz anderen Entscheidung unterwegs. Aber Vorsicht meine Damen und Herren – meistens gibt es mehrere Optionen! Listen Sie diese auf und wählen Sie die Entscheidung aus, die Ihre Zielsetzungen, Ihre Objectives, am besten erfüllen. Machen Sie Gewichtungen. Aber behalten Sie immer Ihre Mittel und Möglichkeiten im Auge, bleiben Sie in der Realität.«

Der Oberst zeichnet vier Buchstaben.

»Wir nennen diesen Führungsprozess SAOC«, er zeigt dabei auf die Anfangsbuchstaben von Situation Analysis, Assessment, Objectives und Conclusions.

»Es ist das klassische Führungsinstrument von Streitkräften. Damit wurden Kriege gewonnen oder zumindest vermieden. Viele meiner Kameraden sind heute Kollegen von Ihnen in der Wirtschaft und fahren mit diesem System auch dort bestens. Trimmen Sie Ihren Stab auf diesen Prozess. Und wenn sich die Lage ändert, dann lassen Sie SAOC neu anlaufen.

Last but not least: Vergessen Sie nie die Kontrolle. Fragen? Ich danke Ihnen.«

Danach hätte Rudi eigentlich nach Hause fahren können. Das war doch mal etwas! Es gibt eben Klicks im Leben.

Und manches Mal braucht man dazu einen sympathischen und garantiert authentischen Uniformträger.

Seitdem nistet SAOC in Rudis Großhirn wie die Schaltungen vom ersten zum fünften Gang, wenn er aus dem Spreewald ins Amt fährt. Allerdings hat er es längst aufgegeben, SAOC seinem Leiter des Krisenreaktionszentrums, Ministerialrat Dr. Hartwig Bloedorn, beizubringen. Irgendwie kann er diesen Mann nicht erreichen oder die Chemie zwischen beiden stimmt einfach nicht.

Rudolf schaut auf die Wandtafel. Zwölf Entführungslagen mit verschiedenen, maßgeschneiderten Krisenstäben je nach Land des Geschehens. Er kennt jeden Fall. Jede Dramatik. Jede Person. Jede Familie.

Aber ein Fall ist anders. Ein Entführungsfall, der bereits über zwei Jahre läuft, ohne sichtbare Bewegung. Zwei Männer werden als Schutzschild gegen die permanente militärische Bedrohung missbraucht. Das Bundeskriminalamt hat inzwischen ein Team für die Betreuung der beiden Familien in Deutschland abgestellt. Doch eigentlich brauchen diese Familien vor allem psychologische Betreuung. Rudi hat dafür rund um die Uhr Zugriff auf eine Hotline, die ihm in fast jeder deutschen Stadt ein Kriseninterventionsteam garantiert.

Und seit acht Wochen ist man in Sorge um die beiden deutschen Mitarbeiter eines Unternehmens, Helmut Weier und Josef Fischer, die entgegen der Reisewarnung des Amtes im Nordirak tätig wurden. Immerhin hatten sich beide in ELEFAND, die kostenlose, elektronische Liste der Erfassung von Auslandsdeutschen, eingetragen. Der Bundesnachrichtendienst vermutet sie in den Händen des Islamischen Staates, der schnell wachsenden muslimisch-militanten Terrorgruppe, die längst al-Qaida weltweit den Rang abgelaufen hat. Bisher gab es überhaupt kein Signal von irgendeiner Seite. Der Krisenstab Weier/Fischer, mit dem hausinternen Kürzel WEFI, ist auf Erkenntnisse der Nachrichtendienste angewiesen. Und in der Tat gibt es einen ersten Hinweis von der CIA, dass zwei deutsche Geiseln vermutlich im Nordirak festgehalten werden. In diese Richtung laufen jetzt alle Bemühungen von WEFI.

Rudolf weiß, dass die vergleichsweise komfortablen Zeiten vorbei sind, als es bei Entführungen nur um Lösegeld ging. Seitdem Deutschland sich zunehmend im Kampf gegen den internationalen Terror engagiert, nehmen die politischen Erpressungen zu und die Chancen für die Geiseln dramatisch ab.

Während er auf dem Weg zum Lagezentrum ist, stürzt Dr. Bloedorn hektisch auf ihn zu.

»Herr Dr. Kürten, gut, dass Sie da sind! Wir haben gerade über YouTube eine Videodrohung vom Islamischen Staat mit Ultimatum bekommen. Die Geiseln Weier und Fischer sollen am 25. Dezember enthauptet werden, wenn Deutschland sich nicht aus den Unterstützungsaktivitäten im Kampf gegen den IS heraushält!«

Rudolf vergisst einen Moment, dass er diesen aalglatten Bloedorn nicht mag. Der Mann kann geschlagene zwanzig Minuten bedeutungsvoll reden, ohne etwas zu sagen. Hohe Diplomatenschule. Hier im Krisenkeller hat das Amt ihn eigentlich auch nur geparkt. In Krisensituationen hyperventiliert er geradezu in so einer Art Krisenorgasmus. Leider ausschließlich um des blinden Aktionismus willen, weniger aus echter Sorge um die betroffenen Menschen.

Und an die denkt Rudolf jetzt, als sein Blick die Computer, Faxgeräte und Chiffriermaschinen im Lagezentrum streift, und dann wie so oft an den neun, leise im Gleichtakt tickenden Bahnhofsuhren hängen bleibt. Im Nordirak ist es bereits zwei Stunden weiter.

Wann soll enthauptet werden? 25. Dezember, also in neun Tagen! Das gibt wenigstens etwas Luft. Jede Stunde ist jetzt wertvoll. Sie müssen auf Vollgas-Modus umschalten.

»Herr Bloedorn, Krisenstab WEFI für 16:00 Uhr lokal einberufen! Leitungsebene informieren!«

Rudi eilt in sein Büro, das unbarmherzige Ticken der Uhren noch im Ohr.

»Sandra, ruf‘ Silberlocke zu mir und bitte meinen Blazer!«

Seine Sekretärin Sandra weiß, wenn die Harley-Jacke gegen den Blazer getauscht wird, ist der Ernstfall eingetreten. Und sie weiß natürlich auch, dass BKA-Direktor Harry Busch, genannt Silberlocke, der beste Kenner der islamistischen Terrorszene ist und ein ausgebuffter Verhandlungsfuchs dazu.

»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass die Ehefrauen von Herrn Weier und Herrn Fischer eben angerufen haben. Chef, die sind am Ende ihrer Kräfte!«

»Haben wir die Erreichbarkeit?«

»Haben wir!«

»Sagen Sie beiden, ich rufe sie nach der Sitzung an.«

Er weiß, wie entsetzlich es für die Familien ist, die Enthauptungsdrohungen in den Nachrichten und die Enthauptungen selbst später wohlmöglich im Internet zu sehen.

Dann vertieft er sich in den Lagevortrag. Was wissen wir? Wie wird die Bewertung sein?

Doch schon jetzt ist ihm klar, es könnte die erste Enthauptung von Deutschen in diesem Jahr sein. Irgendwie war die RAF kalkulierbarer, geht es ihm durch den Kopf, da kannte man seinen Feind …

»Ich denke, Sandra, wir bekommen heute noch hohen Besuch.«

»Meinen Sie wirklich? Sie war in den zwei Jahren doch bisher nur ein einziges Mal hier, und das war zu ihrem Antrittsbesuch.«

Bundeskanzleramt

Als Susanne Ehrlich, die Leiterin des Kanzlerbüros, am Telefon die seltsam belegte Stimme des Bundesaußenministers Georg von Rüdesheim hört, ist ihr klar, dass es jetzt brennt. Sie ahnt nichts Gutes für den Dienstplan ihrer Chefin.

»Ist die Bundeskanzlerin erreichbar, sie antwortet nicht auf Ihrem Krypto-Handy?«, fragt von Rüdesheim.

»Das kann sein, Herr Minister, wenn sie das andere Telefon benutzt.«

»Diese Krypto-Dinger sind extrem unpraktisch«, entgegnet er etwas unwirsch.

»Darf ich die Chefin in Berlin vermuten? Ich muss sie dringend sprechen.«

»Darf ich erfahren, worum es geht?«

»Sie dürfen«, antwortet Georg von Rüdesheim nun etwas spitz. Es nervt ihn, dass in allen Vorzimmern dieser Welt die Büroleiter die Macht haben, wie bei ihm selbst …

»Der IS hat offensichtlich die beiden deutschen Geiseln Weier und Fischer in seiner Gewalt. Es gibt die klare Drohung, sie zu enthaupten, wenn wir uns nicht zurückziehen.«

»Ich darf Sie durchstellen Herr Minister, haben Sie Ihr Krypto-Handy aktiviert?«

»Ich rufe selbstverständlich bereits damit an.«

Bundeskanzlerin Dr. Henriette Behrens ist auf dem Weg von ihrer Wohnung im Süden Berlins zum Bundeskanzleramt. Vor und hinter ihr je ein Wagen mit Personenschutz.

Henriette ist gern Kanzlerin. Sie kommt aus einer bekannten Diplomatenfamilie, wohnte lange in Rom, studierte politische Wissenschaften, Geschichte und Philosophie und promovierte über den römischen Kaiser Marc Aurel. Sie ist bei vielen Menschen im Land wegen ihrer menschlichen Art und sachlichen Politik beliebt. Ihre Politik wirkt durchschaubar, so wie sie selbst erscheint, transparent und authentisch. Sie kann knallhart sein, aber sie ist berechenbar. Die Bundeskanzlerin sagt, was sie will und hält es ein. Man kann sich auf sie verlassen, national wie international. Den Parteivorsitz hasst sie eigentlich, braucht ihn aber zum Erhalt ihrer Macht wie ein notwendiges Übel. Und sie muss diese Macht festigen, denn sie regiert seit kurzem in einer komplizierten Dreierkoalition umgeben von politischen Gegnern, die nur darauf lauern, dass die Kanzlerin einen Fehler macht. Gemäß dem Auftrag jeder Opposition: Sturz der Herrschenden.

Henriette hat sich heute für eine ihrer weißen Seidenblusen entschlossen, darüber trägt sie ein dunkelblaues Kostüm. Eine dezente Perlenkette, zwei kleine diamantene Ohrstecker. Noch mehr Schmuck mag sie nicht. An dem leichten YPSILON-Parfümgeruch konnte man die heute Neunundvierzigjährige bereits seit zwei Jahrzehnten leicht identifizieren. Inzwischen ist es schwer, das Parfüm noch auf dem Markt zu bekommen.

Die Kanzlerin wird von ihren Ministerinnen überwiegend kritisch gesehen, von den männlichen Kollegen hingegen geradezu verehrt, besonders von ihrem italienischen Amtskollegen. Nicht nur wegen ihrer Affinität zu Italien, sondern wohl auch, weil sie jung, Single und außerordentlich hübsch ist. Das Bild von Signora Henrietta steht in Rom auf seinem Schreibtisch, seitdem die eigene Frau ihn verlassen hatte.

Ihre in Stufen geschnittenen, halblangen, schwarzen Haare wurden im ganzen Land zur Henriette-Frisur. Handtaschen und Schuhe bekamen ihren Markennamen. Ihre Kleidung ist ständig Thema in der Boulevardpresse. Die Times schrieb in der Titelgeschichte Germany‘s best Brand über den überwältigenden Charme und Verstand einer »einzigartigen Ausnahmeerscheinung« unter den Regierungschefs in Europa.

 

Was um alles in der Welt trage ich heute beim Empfang des Emirs von Katar?, fährt ihr durch den Kopf. Von Rüdesheim hatte betont, dass das reiche Katar für Deutschland immer wichtiger werde, und es Zeit wäre, die politische Zusammenarbeit zu verstärken.

Sie schaut in den Spiegel, fährt mit dem Stift über ihre Lippen, presst sie zusammen und betrachtet dabei kritisch ihren Mund.

Bei dem Emir liefe sie wenigstens nicht Gefahr, umarmt zu werden.

Henriette hasst es, wenn Männer sie in aller Welt in den Arm nehmen. Es macht sich gut auf Bildern, die schöne erste Frau im mächtigsten Staat Europas zu umarmen. Fast jeder giert danach. Körperliche Umarmung heißt auch, politisch Macht dort zu demonstrieren, wo das Wort nicht reicht. Selbst kleine Männer scheuen nicht davor zurück, die 1,76 Meter große, schlanke Henriette an sich zu ziehen.

Es gibt bei öffentlichen Umarmungen alle Sorten von Männern. Souveräne Beschützertypen, andere sind einfach nur gockelhaft. Wenn sie aus Brüssel zurückkommt, hat sie ein Bombardement von Küsschen links, Küsschen rechts hinter sich. Sie hat inzwischen ihre eigenen Abwehrstrategien entwickelt, indem sie früh abblockt. Nicht immer gelingt es.

Am liebsten würde ich mich vor dem Mittagstermin mit dem Emir noch frisch machen und umziehen, denkt sie.

Wie ist der Plan? Jetzt gleich noch ein einstündiges Treffen mit Vertretern von Banken und ein zweistündiges mit Gewerkschaften und den Repräsentanten der Kirchen …

Sie schaut auf die Notizen, die sie neben sich auf dem Rücksitz des Wagens ausgebreitet hat. Henriette mag keine Gittermappen. Die Papiere müssen, wenn möglich, immer greifbar um sie herum sein, wie die Zutaten in der Küche, dann kann sie am besten kochen.

Sie zählt. Sechzehn wichtige Telefontermine am Nachmittag. Auch der Bundespräsident möchte mit ihr über eine schwierige Gesetzesvorlage sprechen.

Ein gemeinsamer, dringender Brief einer Frau Weier und Frau Fischer ist dabei. Die Ehefrauen der zwei verschleppten deutschen Geiseln flehen sie verzweifelt um Hilfe an.

Beide Ehemänner hatten sich nach langem Drängen ihrer Baufirma aus Hanau bereit erklärt, in den gefährlichen Irak zu fahren, um dort Geschäftschancen wahrzunehmen. Beide Frauen sind in Todesangst um ihre Lieben und verzweifelt, dass sie ihre Männer trotz aller Warnungen von Kollegen und auch des Auswärtigen Amtes nicht zurückgehalten haben. Der Brief ist anrührend geschrieben. Henriette spürt die große Not. Sie wird sich noch genauer informieren, bevor sie heute Abend nach zwanzig Uhr endlich die Füße hochlegen kann.

Henriette Behrens hat ein diskretes Treffen, und das kennt nur ihre Büroleiterin und langjährige Freundin Susanne Ehrlich.

Auf dem Krypto-Handy erscheint die Nummer vom Außenminister von Rüdesheim. Die Bundeskanzlerin ist ihm gegenüber mehr als vorsichtig. Der Koalitionspartner hatte ihn bei der Regierungsbildung gnadenlos durchgeboxt, und nun ist er traditionsgemäß in dieser Funktion leider auch Vizekanzler. Was hinter den Kulissen läuft, kann selbst sie nur ahnen. Gelegentlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn zurückzupfeifen, was in der Presse sofort als Konflikt in der Außenpolitik zwischen ihr und dem Außenminister ausgelegt wird. Rüdesheim beobachtet sie argwöhnisch, auch in ihrem offensichtlich auffällig guten Verhältnis zum Verteidigungsminister.

»Herr von Rüdesheim, haben wir ein Problem?«

»In der Tat, Frau Bundeskanzlerin.«

Er berichtet von dem Erpressungsvideo.

»Das müssen Sie noch wissen: Die Drohung wird von einem sehr gut Deutsch sprechenden Terroristen vorgetragen. Sie, Frau Bundeskanzlerin, werden namentlich adressiert und massiv bedroht. Das Thema läuft bereits allen Medien mit den üblichen Spekulationen über unsere Reaktion. Ministerialdirigent Dr. Kürten bereitet für heute eine Sitzung des Krisenstabes WEFI bei uns im Lageraum vor.«

Henriette überlegt kurz.

Option eins, ich delegiere das Ganze wie so Vieles. Option zwei, ich mache den Fall zur Chefsache und greife aktiv in das Geschehen ein. In beiden Fällen: Ausgang offen. Option zwei kann ich zeitlich überhaupt nicht gebrauchen, und sie ist auch politisch gefährlicher …«

Sie weiß, dass sie in dieser brisanten Lage auf einem Feuerstuhl sitzt. Zwei deutsche Geiseln könnten erstmals von dieser Terrororganisation hingerichtet werden. Es ist nicht ihr Ding, heiße Themen auszusitzen. Sie wurde gewählt, um zu handeln. Sie handelt im Kabinett, in Brüssel, und sie muss jetzt auch einmal im Krisenkeller handeln! Henriette entschließt sich für die Option zwei.

»Um wie viel Uhr tagt der Krisenstab?«

»Um 16:00 Uhr.«

»Ich werde dazukommen. Bitten Sie auch Innenminister Dr. Bauer und Verteidigungsminister Voss dazu – und natürlich alle Ebenen, die wir für die Entscheidungsfindung benötigen.«

»Wird erledigt, Frau Bundeskanzlerin.«

So ein Blödmann, denkt Henriette. Wann begreift der endlich, dass ich kabinettsintern nur mit Namen angesprochen werden möchte?

Dann ruft sie ihr Leitungsbüro an, lässt die anstehenden Besprechungstermine mit Banken, Kirchen und Gewerkschaften kürzen. So wird sie noch einige Telefontermine schaffen. Das Umziehen kann ich vergessen, denkt sie und greift sich ein paar Akten.

»Zum AA Krisenreaktionszentrum!«

»Normal oder mit Blaulicht?«

»Normal, ich möchte vor Kriegsausbruch noch in Ruhe ein Nachmittagsschläfchen machen.«

Ihr Lieblingsfahrer gibt dem ersten Wagen die Einzelheiten durch und schmunzelt. Er ist stolz darauf, diese Chefin fahren zu dürfen. Sie sieht nicht nur verdammt gut aus, sondern hat es richtig drauf, und wie immer die Ruhe weg.

Im Lageraum sind alle versammelt. Noch ist der zentrale Bildschirm dunkel. Gespannte Ruhe. Zum ersten Mal wird die Chefin selbst bei einer Krise anwesend sein.

Seit 15:30 Uhr fahren gepanzerte Limousinen vor. Die Fahrer springen heraus und öffnen den Ministern die Türen. Raumschutz ist hier nachrangig, man ist im Innenhof bereits im gesicherten Bereich. Verteidigungsminister Paul Voss wird von einem Heeresgeneral begleitet, Innenminister Dr. Siegfried Bauer von einem hohen Beamten der GSG 9 Bundespolizei, der Hausherr, Außenminister Georg von Rüdesheim, kommt allein.

Dr. Rudolf Kürten begrüßt jeden Einzelnen seiner Gäste per Handschlag. Großes Kino heute. Doch in Krisen wie dieser wird Rudi ganz ruhig, noch ruhiger als sonst.

Die Herren werden höflich, aber bestimmt gebeten, ihre Handys vor Eintritt in den Lageraum abzugeben. Das dient nicht nur der Sicherheit, sondern folgt Rudis Prinzip. Das Prinzip heißt: Kopf vor Technik.

Rudi überblickt den Raum. Der ist so, wie er ihn immer haben wollte. Leere Tische, aneinandergereiht in einem langen ovalen Block, am Ende über Eck. Schreibblock, Stift, sonst nichts. Diese ungewöhnliche Logistik hatte ihm ebenfalls jener Oberst aus Blankenese empfohlen. Seitdem gibt es im Lageraum keine Informationsüberflutung mehr. Es wird konzentriert und kurz vorgetragen, zugehört und diskutiert. Krisenrelevante Informationen werden während der Sitzung aus den Fachbereichen außerhalb des Lageraumes abgerufen, aus allen Ressorts und den Geheimdienstquellen. Bei Bedarf wird alles, was wichtig ist, auf einen großen Schirm projiziert. Doch nur bei Bedarf.

Rudi ist zufrieden. Hier befindet er sich direkt auf der strategischen Ebene. Trotzdem ist er froh, dass heute die letzte Entscheidung nicht auf seinen Schultern ruht.

Um exakt 15:58 Uhr wird es plötzlich ruhig im Lageraum.

»Meine Damen und Herren, die Frau Bundeskanzlerin!«

Alles erhebt sich.

Strahlend betritt sie in ihrem dezenten, blauen Kostüm den nüchternen, unpersönlich großen Raum. Henriette gibt dem Hausherrn die Hand. Georg von Rüdesheim weiß, dass sie auf einen Handkuss keinen Wert legt.