X-World

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Tür sprang auf.

Vage erinnerte Yannick sich daran, dass er die Balkontür nach dem Rauchen meist nur hinter sich zugedrückt, aber nicht verriegelt hatte. Sollte Ron seitdem nicht mehr auf dem Balkon gewesen sein? Gut möglich, schließlich war es Winter.

Rasch ging er ins Arbeitszimmer und schaltete das Licht ein. Hier sah alles noch so aus wie bei seinem letzten Besuch. Sogar seine Tasse stand noch auf dem Tisch. „Yannick“ prangte in großen goldenen Lettern auf der einen Seite des schwarzen Bechers. Auf der Rückseite fand sich das Logo vom Bit & Bytes.

Ron war definitiv auf Reisen.

Yannick fuhr den Rechner hoch und legte das Cyberkit zurecht, als es an der Tür klingelte. Automatisch schaute er auf die Uhr: 3 : 40. Es klingelte erneut, dann klopfte es, und eine energische Stimme sagte: „Polizei. Bitte öffnen Sie die Tür!“

Adrenalin schoss ihm in den Kreislauf. Yannick überschlug seine Möglichkeiten. Vom Balkon hinunter konnte er nicht. Sich ruhig zu verhalten hatte auch keinen Sinn, denn offensichtlich wusste die Polizei, dass jemand hier war. Es gab also nur einen Weg: Er musste zur Tür.

„Moment, ich komme!“, rief er. Auf dem Flur durchsuchte er mit zittrigen Fingern den Schlüsselkasten und hoffte inständig, dass er darin einen Haustürschlüssel finden würde. Einer sah aus, als ob er passen könnte. Ein kleiner Tiger hing daran. Yannick steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Bingo. Er öffnete. Zwei Uniformierte standen vor der Tür.

„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte der ältere von beiden. „Wir bekamen einen Anruf von einer besorgten Nachbarin, die einen Einbruch vermutete. Sind Sie Ron Schäfer?“

„Nein“, sagte Yannick, „Herr Schäfer ist verreist. Ich bin sein Assistent. Ich kümmere mich in seiner Abwesenheit um die Server.“

„Um diese Zeit?“

„Ja, es gab eine Betriebsstörung. Sie müssen ja auch um diese Zeit arbeiten.“

„Ich nehme an, Sie können sich ausweisen“, sagte der jüngere.

„Selbstverständlich“, sagte Yannick. „Und wenn Sie wollen, können Sie auch die Nachbarin fragen. Frau Timm kennt mich.“

Er zog seinen Personalausweis aus der Tasche und hielt ihn den Beamten hin. Sie blickten flüchtig darauf.

„In Ordnung, Herr Adams, bitte entschuldigen Sie nochmals die Störung.“

„Kein Problem. Gut, dass es aufmerksame Nachbarn gibt.“

„Ja“, sagte der Ältere, „aber manchmal sind sie auch etwas überängstlich.“

Yannick lachte erleichtert. Der Jüngere musterte ihn misstrauisch.

„Dürfen wir uns einmal kurz umsehen?“

Yannick zögerte. Fieberhaft überlegte er, welcher Anblick sich den Polizisten bieten würde. Sah irgendetwas in der Wohnung nach Einbruch aus?

„Ich weiß nicht, ob das Herrn Schäfer recht wäre“, sagte er ausweichend.

Augenblicklich spürte er, wie sich die Atmosphäre veränderte. Misstrauen breitete sich aus. Yannick kam zu dem Schluss, dass es das kleinere Übel war, die Beamten hereinzulassen. Soweit er sich erinnerte, müsste alles in Ordnung sein.

„Andererseits – Sie sind ja sicherlich vertrauenswürdige Menschen. Also bitte, kommen Sie.“

Die Polizisten betraten die Wohnung und sahen sich um, der ältere sachlich, der jüngere mit unverhohlener Neugier. Yannick führte sie ins Arbeitszimmer, wo der Rechner bereits lief. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Ältere seine Tasse registrierte. Der Jüngere bestaunte den Cyberhelm. „Wow, ein CS 3“, sagte er. „Darf man fragen, woran Herr Schäfer zurzeit arbeitet?“

„Also, das ist nun wirklich Betriebsgeheimnis“, sagte Yannick schroff. Der ältere Polizist nickte und schob seinen Kollegen sanft, aber bestimmt aus der Tür.

„Vielen Dank. Ich denke, wir haben genug gesehen. Auf Wiedersehen.“

Yannick blieb stehen, bis er die untere Haustür hörte, dann schloss er die Wohnungstür und ließ sich in einen Sessel fallen. Mit einem Laut der Erleichterung entwich die angehaltene Luft aus seiner Lunge. Das war knapp gewesen.

Eine Viertelstunde später ging er hinaus und holte die Trittleiter nach oben.

****

Es war das erste Meeting nach dem Verkaufsstart des Cyberstar 3, und eigentlich hatte Dr. Fleischmann in seiner Eigenschaft als Vertriebsleiter von Future Computing Deutschland allen Grund zur Freude. Die Umsatzzahlen übertrafen die kühnsten Erwartungen. Dennoch fühlte es sich für ihn eher wie eine Niederlage an, denn schließlich hatte er das Gegenteil prophezeit. Er war es nicht gewohnt, sich zu irren. Für gewöhnlich konnte er sich auf seinen Instinkt verlassen, und das irritierte ihn. Vielleicht sollte er sich doch aufs Altenteil zurückziehen. Diese Computerwelt war ihm zutiefst fremd, auch wenn er täglich damit zu tun hatte.

Choi lobte den guten Start, wobei Gerhardt Fleischmann spürte, wie sehr es der Koreaner genoss, ihm Salz in die Wunden zu reiben. Zwar hatte der Vorsitzende X-World mit keinem Wort erwähnt, hatte auch keinerlei offenen Triumph gezeigt, aber dennoch schwebte das Thema spürbar im Raum.

Es war Lee, der den Ballon zum Platzen brachte.

„Ich möchte die Gelegenheit nutzen, unserem Vorsitzenden zu danken. Seine Weisheit hat uns dazu verholfen, unserem Kurs treu zu bleiben, ohne falsche Kompromisse zu schließen. Bekanntlich besteht unser Ziel darin, den Anwendern die weltweit beste Computerperipherie zur Verfügung zu stellen, die technisch möglich ist. Danke, dass wir dieses Ziel nicht aus den Augen verloren haben. Offensichtlich hat sich die Einschätzung unseres Vorsitzenden bewährt, dass die Software stets der Hardware folgt. Die Zahlen sprechen ja wohl für sich. Lassen Sie uns also auch weiterhin unseren Zielen treu bleiben. Ich danke ihnen.“ Er verbeugte sich in Richtung seines Onkels.

Höflicher Applaus folgte seinen Äußerungen.

Gerhardt Fleischmann spürte einen Brechreiz. Er konnte diesen jungen Aufsteiger nicht ausstehen. Ein kurzer Blick in die Runde verriet ihm, dass er nicht allein so empfand. Selbst Choi schien sich unbehaglich zu fühlen, soweit man aus seinem koreanischen Pokerface schlau werden konnte.

Nachdem das Meeting beendet war, verließ Dr. Fleischmann als einer der Ersten den Sitzungsraum. Er wollte jetzt mit niemandem reden, brauchte Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Irgendetwas stimmte hier nicht. In der peinlichen Rede von Lee hatte so ein merkwürdiger Unterton mitgeschwungen. Der Vertriebsleiter stieg in den Fahrstuhl und fuhr aufs Dach hinauf. Dort ging er gerne hin, wenn er nachdenken musste. Gedankenverloren ließ er seinen Blick über die Stadt schweifen.

Konnte es sein, dass die Verkaufszahlen manipuliert waren, um ihn dumm aussehen zu lassen? Energisch schüttelte er den Kopf. Nein, die Zahlen kamen aus seiner eigenen Abteilung, und auf seine Mitarbeiter konnte er sich verlassen.

Worauf könnte Lee denn Einfluss nehmen? Was würde er an seiner Stelle tun?

Eine Tonfolge riss ihn aus seinen Überlegungen. Es war unverkennbar sein Mobiltelefon – er war der Einzige im ganzen Konzern, der noch so ein uraltes Gerät besaß. Gelegentlich trug ihm das freundlichen Spott ein, aber das störte ihn nicht. Er hatte kein Interesse an technischen Spielereien. Wichtig war ihm nur, dass alles so funktionierte, wie es sollte.

„Fleischmann?“

„Herr Dr. Fleischmann, ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber ich brauche einige Unterschriften von Ihnen.“ Die vertraute Altstimme seiner langjährigen Sekretärin drang an sein Ohr.

„In Ordnung, ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.“

Als er wenig später in sein Büro ging, war seine Irritation einer grimmigen Entschlossenheit gewichen. Er würde todsicher herausbekommen, was da gespielt wurde. Und wenn ihn jemand hinterging, würde ihm das schon bald sehr, sehr leidtun. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und drückte auf einen Knopf.

Kurz darauf betrat Gertrud Wagner den Raum, in der Hand die Unterschriftenmappe. Sie trug ein Kostüm in gedeckten Farben und sah eigentlich aus wie immer. Sie schien sich in den fast 30 Jahren ihrer Zusammenarbeit überhaupt nicht verändert zu haben. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie unattraktiv und altbacken gewirkt.

Dass Gerhardt Fleischmann ihr bei der Einstellung trotzdem den Vorzug gegenüber den hübschen jungen Dingern gegeben hatte, lag weniger daran, dass er seine Frau nicht beunruhigen wollte, wie der Bürotratsch behauptete, sondern an seiner Überzeugung, dass diese Frau an Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Intelligenz kaum zu übertreffen war. Er sollte Recht behalten, und Gertrud Wagner – allein dieser Name! – hatte mit ihrer freundlichen Kompetenz schon bald die Belegschaft für sich eingenommen. Sie war die gute Seele der alten Prometheus AG gewesen, und Gerhardt Fleischmann hatte nicht eine Sekunde lang darüber nachzudenken brauchen, ob er sie mit zu Future Computing nehmen wollte.

Er unterschrieb zügig die Papiere, die sie ihm vorlegte. Sie waren dringend, aber im Wesentlichen Routineangelegenheiten, die keine außergewöhnlichen Denkleistungen von ihm verlangten.

„Wie war das Meeting?“

Der Vertriebsleiter legte den Füllhalter zur Seite.

„Irgendjemand will mich hier vorführen“, knurrte er.

„Wie meinen Sie das?“

„Oh, das ist nur so ein Gefühl“, sagte er beschwichtigend, und sie beide wussten, dass er von seiner Sache felsenfest überzeugt war.

„Diese erstaunlichen Umsatzzahlen, und dazu die Sticheleien von diesem Lee – irgendetwas stimmt da nicht.“

„Ich werde mich mal umhören“, sagte die Sekretärin mit einem warmherzigen Lächeln, und sofort spürte Gerhardt Fleischmann, wie sich seine Unruhe legte.

****

Yannick rieb sich die Augen. Kaum zu glauben, dass er eingeschlafen war. Endlich war er am Ziel, endlich konnte er Betty wiedersehen, und stattdessen lag er hier auf dem Sofa und pennte. Allerdings hatte der Download auch elend lange gedauert.

 

Er sah auf die Uhr. Es war fast Mittag. Egal. Die Dateien befanden sich jetzt auf Rons Rechner, und er konnte starten. Verrückt eigentlich, dass das Spiel aus den Weiten des Internets nun wieder dorthin zurückgekehrt war, wo es praktisch geboren worden war.

Yannick verschwand kurz im Badezimmer. Sogar seine Zahnbürste stand noch im Becher vor dem Spiegel. Manchmal hatte er hier übernachtet, wenn es mal wieder spät geworden war. Warum hatte Ron sie nicht weggeworfen? Merkwürdig.

Der Geschmack in seinem Mund war furchtbar. Er wusch sich, putzte sich die Zähne und bürstete sich sorgsam die Haare, so als wollte er sich auf ein Rendezvous vorbereiten. Natürlich würde er in der virtuellen Welt ohnehin gut aussehen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, Betty diese Vorbereitungen schuldig zu sein.

Schließlich ging er zurück ins Arbeitszimmer und legte das Cyberkit an. Erwartungsvoll startete er das Programm. Ein buntes Menü tanzte vor seinen Augen. Goldene Buchstaben formten die Worte: „Willkommen in X-World. Bitte wählen Sie einen Avatar.“

Yannick griff in die Luft und betätigte die OK-Taste, woraufhin eine lange Reihe von Figuren erschien, aus der man seinen Wunschcharakter auswählen konnte. Genervt langte er nach dem „Abbrechen“-Knopf. Wenn Betty ihn wiedererkennen sollte, durfte er nicht anders aussehen als vorher. Er drückte auf „Avatar laden“ und wartete gespannt. Hoffentlich konnte er seine alte Figur in das neue Spiel übernehmen. Gekonnt hangelte er sich durch das Dateimenü und atmete erleichtert auf, als er schließlich eine Miniaturversion seiner Spielfigur vor sich sah. Mit einem Handgriff wählte er sie aus, das Programm stockte kurz, dann war er mitten im Spiel.

Suchend sah er sich um. Das hier war nicht der Garten, in dem er Betty zuletzt gesehen hatte. Unter seinen Füßen erstreckte sich eine gewaltige Steppe, die am Horizont von einem Gebirgszug begrenzt wurde. In weiter Ferne bewegte sich etwas, vielleicht eine Büffelherde. Yannick meinte auch, den Rauch eines Feuers zu erkennen – ansonsten gab es nichts. Kein Anzeichen von Leben. Er war allein.

„Du bist neu hier, stimmt’s?“

Die Stimme kam von hinten. Yannick fuhr herum. Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Vor ihm stand ein junger muskulöser Mann. Sein Oberkörper war nackt, er trug eine lange Hose aus weichem Leder. Der Speer in seiner Hand wirkte bedrohlich, auch wenn er sich im Moment lässig darauf abstützte.

„Du bist neu hier, stimmt’s?“, wiederholte er. Yannick nickte.

„Auf wessen Seite stehst du?“

„Ich stehe auf niemandes Seite. Ich bin hier, weil ich jemanden suche.“

Der Krieger richtete sich auf. Es war nur eine kleine Bewegung, aber Yannick erkannte, dass der Speer nun nicht mehr als Stütze diente, sondern in Sekundenschnelle zum Einsatz kommen konnte.

„Du solltest dich uns anschließen!“

Yannick brauchte nicht lange zu überlegen. Anscheinend hatte er keine Alternative. Zunächst musste er herausfinden, was in dieser Welt los war.

„Klar“, sagte er. „Ich bin Yannick.“

„Erik“, sagte der Krieger knapp. „Komm mit!“

Er wandte sich um und verschwand in einem Wald, der unvermittelt am Rand der Steppe begann.

Yannick hatte Mühe, ihm zu folgen, denn Erik bewegte sich mit großer Geschicklichkeit, wobei er seinen Speer als Allzweckwerkzeug verwendete – mal drückte er damit lästige Zweige beiseite, mal nutzte er ihn, um Gräben oder Baumstämme zu überspringen. Schließlich hielt er inne.

„Wir sind bald da“, sagte er zu Yannick, der vor Anstrengung keuchte. „Um dich den anderen vorstellen zu können, muss ich wissen, was du kannst.“

„Ich – ich bin ein Gamer“, sagte Yannick.

„Ich verstehe nicht“, sagte Erik, und Yannick sah ihn verwundert an. Etwas an seiner Art kam ihm bekannt vor, er wusste nur nicht so recht, woher.

„Ich spiele Computerspiele, hauptsächlich Strategie“, sagte er. Erik sah ihn immer noch verständnislos an. „Was genau machst du da?“, fragte er.

„Je nachdem, meistens führe ich eine Armee an“, sagte Yannick.

Erik strahlte. „Ein Anführer. Das ist gut. Das ist sogar sehr gut.“

„Kannst du mir vielleicht mal erklären, was hier los ist?“, fragte Yannick verwirrt.

„Warte ab. Ich bringe dich zu Henoch. Ihn kannst du alles fragen.“

Ohne ihm Zeit zur Erwiderung zu lassen, drehte Erik sich um und lief tiefer in den Wald hinein. Es dauerte nicht lange, bis sie eine große Lichtung erreichten, in deren Mitte ein Feuer brannte. Ein breitschultriger Mann mit grimmigem Gesicht und einer übergroßen Streitaxt hielt Wache auf ihrem Weg, ließ sie aber anstandslos passieren, als er Erik erkannte.

Yannick machte etwa ein Dutzend einfacher Hütten aus, die sich am Rand der Lichtung zwischen den Bäumen versteckten. Einige Männer und Frauen saßen am Feuer, andere gingen verschiedenen Beschäftigungen nach. Neugierig starrten sie zu dem Neuankömmling hinüber. Erik führte ihn zu einer der Hütten und klopfte an die Tür.

Eine dumpfe Antwort ertönte, daraufhin traten sie ein. Es dauerte einen Moment, bis Yannicks Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Die Ausstattung war schlicht; es gab ein grob gezimmertes, niedriges Bett, auf dem große Felle lagen, sowie einen Esstisch mit zwei Bänken aus rohem Holz.

An der Stirnseite des Raumes stand ein hoher Stuhl mit breiten Armlehnen, der fast wie ein Thron wirkte. Darauf saß ein überraschend junger Mann. Er trug ein schlichtes Gewand aus hellem Leinen, hatte einen kurzen braunen Bart und knapp schulterlange Haare, die einen Tick dunkler waren als sein Bart. Yannick fand ihn auf Anhieb sympathisch. Erik verbeugte sich, aber der Mann ignorierte ihn. Er erhob sich, ging auf Yannick zu und streckte ihm die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest.

„Hallo, ich bin Henoch, der Dorfälteste. Schön, dass du zu uns kommst. Wir können gerade jeden Mann gebrauchen.“

„Yannick. Ehrlich gesagt bin ich nur hier, weil ich jemanden suche und …“

Henoch zog die Augenbrauen hoch, was ihm ein energisches Aussehen verlieh.

„So, du suchst jemanden, ja? Wen denn?“

„Das ist – privat“, murmelte Yannick verlegen.

„Ich will dir mal was sagen“, entgegnete Henoch mit finsterer Miene. „Solange die Lucier sich hier herumtreiben, wirst du niemanden finden. Sie können uns jeden Moment angreifen.“

„Die Lucier? Was sind das für Leute?“

„Glaub mir, du willst sie nicht kennenlernen. Sie behaupten, dass diese Welt ihnen gehört und darum alle ihrem Kommando unterstehen müssten. Aber wir haben mit ihnen nichts zu tun. Wir sind freie Menschen und wollen hier in Frieden leben. Wir brauchen weder Herren noch Sklaven, das ist unser Motto.“ Seine dunkelbraunen Augen glühten vor Stolz.

„Hört sich gut an!“, bekannte Yannick. „Vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen. Ich bin Gamer und habe vor kurzem die eGames Berlin gewonnen.“

„Ausgezeichnet“, sagte Henoch, „wir haben eine ganze Reihe mutiger Kämpfer hier, aber niemanden, der sie anführt. Ich selbst verstehe nicht viel vom Krieg. Und nun sag mir, wonach du suchst, dann kann ich dir sagen, ob ich etwas darüber weiß.“

„Es geht um eine Frau, ihr Name ist Betty“, sagte Yannick hoffnungsvoll, aber Henoch schüttelte den Kopf.

„Nie gehört – wann und wo hast du sie zuletzt gesehen?“

„Das ist schon ein paar Tage her“, sagte Yannick vage und kratzte sich verlegen am Kopf. Es konnten ebenso gut einige Wochen sein. Sein Zeitgefühl war ihm völlig abhandengekommen. „Wir haben uns immer in einem wunderschönen Garten getroffen.“

Henochs Miene verdüsterte sich.

„Du warst im Paradies? Bist du ein Spion oder was?“

„Ich? Nein, wieso, ich bin doch gerade erst ins Spiel gekommen!“

„Weil das Paradies das Hauptquartier der Lucier ist!“

Es dauerte eine Weile, bis Yannick dem Dorfältesten die Zusammenhänge erklärt hatte. Henoch hörte ihm aufmerksam zu. Mit keinem Wimpernschlag gab er zu erkennen, ob er an dieser Geschichte Zweifel hegte.

„Gut, dass du gekommen bist“, sagte er schließlich. „Dich schickt der Himmel. Ein Mann mit deinen Kenntnissen hat uns gefehlt.“

In diesem Moment ertönte von draußen ein Hornsignal. Henoch sprang auf. Yannick sah ihn fragend an.

„Wir werden angegriffen“, sagte Henoch.

****

„Diese Version stammt definitiv nicht von uns.“ Michael Konrad nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Kathrin. „Bist du ganz sicher?“

„Hundertprozentig“, sagte Michael. „Alle unsere Programmversionen haben digitale Wasserzeichen. Und außerdem sieht die Startsequenz komplett anders aus.“

„Aber das ergibt keinen Sinn“, erwiderte Kathrin zornig. „Wie kann so etwas passieren?“

„Ich fürchte, ich kann es erklären“, sagte Ron missmutig und legte in knappen Zügen dar, was vor seiner Abreise geschehen war.

„Aber dann kann das, was da im Internet herumgeistert, bestenfalls eine aufgebohrte Betaversion sein!“, sagte Michael.

„Ich denke auch“, sagte Ron. „Aber um es herauszufinden, gibt es nur einen Weg.“

„Du willst online gehen“, sagte Kathrin nüchtern. „Dir ist schon klar, was hier noch alles zu erledigen ist?“

„Natürlich“, sagte Ron, „aber wir können die Sache auch nicht einfach so weiterlaufen lassen. Zumindest will ich einschätzen können, womit wir es zu tun haben. Ihr macht jetzt einfach mit unserer Projektliste weiter. Ich kümmere mich um die Konkurrenz.“

Etwas an Rons Haltung signalisierte unmissverständlich, dass weitere Diskussionen unangebracht waren, und so gingen Michael und Kathrin rasch zurück an ihre Arbeitsplätze, während Ron in seinem Büro das Cyberkit anlegte.

Als das Programm startete, stutzte er: Das Eingangsmenü erschien ihm völlig fremd. Er betrachtete die Vorschläge, aus denen er seine Spielfigur zusammenstellen konnte. Die meisten davon wirkten, als hätten sie eine Überdosis Anabolika geschluckt. Kopfschüttelnd wählte er eine eher unauffällige Figur, die ihm im Vergleich am intelligentesten vorkam.

Als Nächstes öffnete sich ein Menü mit Ausrüstungsgegenständen, von denen sich jedoch nur wenige auswählen ließen. Versuchte man es bei den anderen, so wurde die Eingabe einer Kreditkartennummer verlangt. Dafür standen dem zahlungswilligen Kunden auch allerlei schöne Dinge zur Verfügung, bis hin zu Feuerwaffen und Lasergewehren.

Ron wählte einen schlichten Wanderstab und klickte auf OK.

Kurz darauf fand er sich in einer Grassteppe wieder. Er blickte sich um. Hinter ihm lag ein dichter Wald, vor ihm befand sich in einiger Entfernung ein Gebirgszug. Von dem paradiesischen Garten, den er geschaffen hatte, fehlte jede Spur. Ron bückte sich und befühlte den Boden. Dieses Steppengras hatte er mit Sicherheit nicht programmiert, aber es war gut gemacht. Typisch Lutz. Das war schon immer seine Spezialität: Anderen die Ideen klauen, sie weiterentwickeln und schließlich als die eigenen ausgeben.

Während er noch überlegte, wohin er nun gehen sollte, bemerkte Ron aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung. Er fuhr herum und erkannte einen Mann, der mit einem Speer in der Hand auf ihn zurannte. Der Bewaffnete brüllte etwas. Ron verstand es nicht, aber er verlor auch keine Zeit damit herauszufinden, was es war. Stattdessen drehte er sich um und lief so schnell er konnte in Richtung Gebirge. Er hatte keine Lust, sich auf einen Kampf einzulassen. Vorerst wollte er diese Welt lediglich auskundschaften.

Doch wohin sollte er fliehen? Verzweifelt hielt er Ausschau, aber da war überall nur diese endlose, öde Steppe. Er konnte doch unmöglich bis zum Gebirge laufen! Im Rennen wandte er den Kopf. Der Speerträger hatte sich an die Verfolgung gemacht. Er war ein guter Läufer und holte schnell auf. Ron sah wieder nach vorn, kämpfte gegen die Versuchung an, einfach stehenzubleiben. Verbissen versuchte er, all seine Kräfte zu mobilisieren. Da bemerkte er eine Staubwolke am Horizont, die auf ihn zuhielt. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit kam sie näher.

„Das ist die Kavallerie“, schoss es ihm durch den Kopf. „Gleich bin ich gerettet.“

Ron spürte, wie seine Muskeln protestierten. Er konnte nur hoffen, dass die Rettungsmannschaft schnell genug bei ihm war.

****

In der Waldsiedlung ertönte das Hornsignal zum zweiten Mal. Draußen waren Rufe und eilige Schritte zu hören.

 

„Was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?“ Henoch sah Yannick fragend an.

„Woher soll ich denn das wissen?“, gab Yannick zurück.

„Du kennst dich doch mit diesen Dingen aus!“

„Ja, aber ich habe null Informationen. Ich weiß nichts über eure Bewaffnung und eure Ausbildung, weiß nicht, was für ein Feind uns da angreift, wie stark er ist …“

Erik stürmte in die Hütte. In der Eile hatte er weder angeklopft noch sich verbeugt.

„Was ist los?“, fragte Henoch ihn.

„Es ist nichts“, sagte Erik. „Die Wachen waren übereifrig. Nur ein einzelner Wagen, der auf uns zuhält. Mein Bruder ist draußen. Ich glaube, sie nehmen uns gerade einen Neuankömmling ab.“

Der Häuptling entspannte sich.

„Nun, was ist?“, wandte er sich an Yannick. „Wirst du uns helfen?“

****

Ron rannte weiter auf die Staubwolke zu. Bald erkannte er die Umrisse einer Kutsche, die von zwei Pferden im Galopp über die Steppe gezogen wurde. Ein Schuss peitschte auf, der Speerträger ging in Deckung.

Ron wedelte mit den Armen und lief weiter. Bald hatte die Staubwolke ihn erreicht. Erleichtert ließ Ron seine Arme sinken.

„Hallo Jungs, ich bin echt froh, euch zu sehen!“, keuchte er. Die Antwort erstaunte ihn. Ein Netz flog auf ihn zu, das ihm jede Bewegungsfreiheit nahm.

„He, was soll das?“, protestierte er. „Ich denke, ihr seid gekommen, um mich zu retten?“

Die beiden Männer sprachen kein Wort. Sie verschnürten ihn mit einem Seil und warfen ihn auf den Wagen. Dann wendeten sie und fuhren dorthin zurück, von wo sie gekommen waren.

Ron loggte sich aus. Die Kutsche würde eine Weile unterwegs sein, schätzte er. Die Zeit konnte er auch sinnvoller nutzen.

Er nahm den Helm ab, stand auf und streckte sich, als es plötzlich energisch an seiner Tür klopfte. Eine Zehntelsekunde später flog sie auf, und Gerhardt Fleischmann stürmte in den Raum.

„Was wissen Sie darüber, dass unser Spiel bereits im Internet verfügbar ist?“, bellte er statt einer Begrüßung.

Ron war wie erstarrt. „Es stimmt!“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Und wann hatten Sie vor, mich darüber zu informieren?“ „Sobald ich selbst Näheres weiß.“ Ron sammelte sich allmählich. „Ich weiß es auch erst seit ein paar Stunden.“ Seit 96 Stunden, um genau zu sein. Aber naja.

„Egal, es spielt keine Rolle mehr. Wir brechen ab. Sie können nach Hause fahren. Ich schließe die Firma.“

„Was?“

„Haben Sie eine Vorstellung davon, was mich dieser Laden am Tag kostet? Und wenn ich eins in meinem Leben gelernt habe, dann das: Man muss seinen Verlusten rechtzeitig ins Auge sehen und handeln. Die meisten Konkurse entstehen aus falschen Hoffnungen.“

Ron rang nach Worten. „Hören Sie. Überreaktionen bringen uns auch nicht weiter!“

„Überreaktionen? Sie denken, ich reagiere über? Sie denken, der Alte ist meschugge? Dann erklären Sie mir doch mal eines: Warum sollte irgendjemand auch nur einen Euro für etwas ausgeben, das er anderswo kostenlos bekommen kann? Und warum sollte ich Tausende in ein Geschäft stecken, bei dem von vornherein klar ist, dass es niemals etwas einbringen wird?“

„Weil es so nicht stimmt.“

„Ach wirklich? Ich höre.“

Ron versuchte seine Gedanken zu sortieren und zugleich das Panikgefühl abzuwehren, das nach seiner Kehle griff. Nicht schon wieder. Nicht auch bei diesem Spiel. Er musste Zeit gewinnen, sich erstmal sammeln.

„Bitte, setzen wir uns doch“, sagte er mit einer fahrigen Geste in Richtung des kleinen Besprechungstisches. Gerhardt Fleischmann holte tief Luft. Unwillkürlich zog Ron den Kopf ein – aber der Geschäftsführer ließ den Atem nur mit einem zischenden Laut entweichen und ließ sich in einen der Sessel fallen.

„Ich höre“, wiederholte er.

„Ich habe mir das Spiel angesehen, das im Internet zu finden ist. Es ist eine Betaversion. Überhaupt nicht zu vergleichen mit dem, was wir auf den Markt bringen werden.“

Gerhardt Fleischmann sah ihn zweifelnd an. „Weiter!“, sagte er mit einer lässigen Handbewegung.

„Wenn wir es geschickt anstellen, kann es sogar eine gute Werbung für uns sein. Durch den Vorfall ist X-World in Insiderkreisen zum Gesprächsstoff Nummer 1 geworden. Viele haben es jetzt angetestet. Wir müssen ihnen nur klarmachen, dass das Original um Klassen besser ist.“

„Und Sie denken wirklich, dass diese vage Hoffnung für einen alten Mann überzeugend genug ist, um seine ganzen Ersparnisse aufs Spiel zu setzen? Wer garantiert mir, dass es nicht wieder passiert, dass die neue Version nicht auch im Internet landen wird? Konnten Sie herausfinden, wer dafür verantwortlich ist?“

„Ich habe eine Vermutung. Auf jeden Fall steckt keiner unserer Mitarbeiter dahinter, so viel ist sicher.“

„Besteht die Möglichkeit, dass ein gewisser Lutz Singer damit zu tun hat?“

Ron zuckte zusammen. „Allerdings! Woher kennen Sie diesen Namen?“

„Er hat Kontakt zu jemandem aufgenommen, der seinen Spaß daran hätte, mich scheitern zu sehen.“

„Dann haben wir etwas gemeinsam“, sagte Ron und erzählte in knappen Worten, welche Geschichte ihn mit Lutz verband. Gerhardt Fleischmann hörte aufmerksam zu.

„Irgendwelche Vorschläge?“, fragte er schließlich.

„Bitte geben Sie mir eine Woche Zeit. Ich muss erst überprüfen, wie stark das Programm verändert worden ist, bevor ich die Sache verlässlich einschätzen kann.“

„Ich gebe Ihnen drei Tage. Wenn bis dahin keine Ergebnisse vorliegen, schließe ich die Firma.“

Er stand auf und ging mit energischen Schritten zur Tür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Bitte“, sagte er, „finden Sie einen Weg. Ich habe gelernt, Verluste einzustecken – aber es gibt Menschen, denen ich keinen Sieg gönne.“

Dann verschwand er ebenso grußlos, wie er gekommen war.

****

Die Vorzimmerdame am Telefon schien Lutz wiederzuerkennen, als er anrief. Er wurde umgehend zu Tae-Gong Lee durchgestellt.

„Lee.“

„Lutz Singer. Guten Tag, Herr Lee.“

„Ich bitte Sie, in Zukunft von Kontaktaufnahmen abzusehen. Es ist nicht gut, wenn wir miteinander in Verbindung gebracht werden können.“

„Aber, aber, ich bin doch Ihr offizieller Tester, oder etwa nicht? Und außerdem denke ich, dass sich die Zusammenarbeit für Sie bereits ausgezahlt hat. Ich konnte fast 30.000 Downloads registrieren. Ich nehme an, dass die meisten User auch Cyberhelme gekauft haben.“

„Zugegeben, Ihre Aktion mag uns dienlich gewesen sein, aber ich muss doch betonen, dass X-World bei weitem nicht die einzige Anwendung ist, für die unser Cyberkit genutzt werden kann. Auch in der Forschung …“

Lutz unterbrach ihn ungeduldig. „Geschenkt. Mir geht es nicht darum, mehr Geld zu bekommen, falls Sie das befürchten sollten. Ich möchte Ihnen lediglich einen Vorschlag zur Weiterentwicklung machen.“

Die Stimme am anderen Ende klang überrascht. „Ich höre?“

„X-World ist ein hübscher bunter Streichelzoo, aber wenn Sie mich fragen, fehlt darin der Kick für Erwachsene.“

„Ja, und?“

„Helm, Handschuhe und Gamaschen sind schon mal ein guter Anfang, aber was wirklich fehlt, sind Slips.“

„Wie bitte?“

„Ja, Unterhosen aus dem gleichen Material, aus dem auch die Handschuhe gemacht sind. Die sich zusammenziehen und Gefühle übertragen können.“

„Wie kommen Sie denn auf die Idee?“

„Ich weiß ja nicht, wie ihr Asiaten gebaut seid, aber wir Europäer haben da unsere empfindlichsten Teile. Man könnte in der neuen Welt eine Menge Spaß haben, aber im Augenblick fehlen noch die entscheidenden Reize.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Onkel so etwas gutheißen würde. Er hat sehr strenge Moralvorstellungen.“

„Es würde ihm aber vermutlich auch nicht gefallen, wenn andere dieses Geschäft übernähmen. Die Konkurrenz schläft nicht, Herr Lee, das wissen Sie doch. Meinetwegen machen Sie einen ganzen Anzug daraus, wenn Ihnen mein Vorschlag zu peinlich ist. Das wäre sogar noch intensiver. Aber als Ihr Produkttester rate ich dazu, schnellstens mit der Forschungsabteilung zu reden.“

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?