Angefühlt

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Sarah riecht bereits die Fackeln, welche an den Seiten der Tür aufgestellt sind. Ihr rußiger Duft überlagert die kalte Luft wie Öl das Brackwasser.

»Am Ende des Abends will ich dich anhören. Wenn du mir dann sagst, dass all das nichts für dich ist, dass sich deine Fantasien anders anfühlen und dass du künftig an Land bleiben möchtest, werde ich es akzeptieren.« Alexander setzt den ersten Fuß auf die Stufe. »Aber nicht vorher. Nicht jetzt. Nicht hier.« Wie ein Vater seine bockige Tochter zieht er Sarah die Treppe hinauf und stellt sie vor der Tür ab. »Ich bin überzeugt, du wirst mir später sehr dankbar sein, dass ich dir keine Wahl ließ.«

Sarah fühlt sich wie im Taumel. Dass sie schon auf dem Treppenpodest steht, bemerkt sie nur am Rande. Es ist wie im Sprung: Hat man einmal den sicheren Boden verlassen, stürzt man auf das Wasser zu. Villa Crocodile. Eine Umkehr gibt es nicht mehr.

Alexander klopft mit der Faust fest gegen das massive Holz der Tür. Mit der anderen Hand hält er Sarah an ihrem Arm. Nicht grob, aber entschlossen.

Knarrend öffnet sich der Türflügel. Erst einen handbreiten Spalt, dann mehr. Alexander beugt den Oberkörper kurz vor, bis er erkannt ist.

Ein buckliger Mann zieht die Tür nach innen. Er hält einen dreiarmigen Kerzenständer aus Metall, der schwer und antik aussieht. Die Flammen der Kerzen beugen sich der Zugluft. Sarah schätzt den Mann auf Mitte fünfzig, ist aber nicht sicher, denn das flackernde Licht scheint trügerisch. Sie erkennt dennoch einen schwarzen Anzug, aus dessen Brusttasche die Spitze eines weißen Tuches hervorschaut.

»Oh, Alexander«, sagt der Bucklige und nickt erfreut mit dem Kopf. »Du wirst oben bereits erwartet.« Dann entdeckt er Sarah. Sein prüfender Blick gleitet an ihr herab. »Und das ist? Ein unbekanntes Gesicht?« In seiner Neugier vergisst er den Kerzenständer und kleine Rinnsale aus Wachs stürzen zu Boden.

»Eine Novizin«, erklärt Alexander zügig, noch bevor Sarah selbst antworten kann. »Sie begleitet mich heute.« Er greift an den eisernen Kerzenständer und richtet ihn mitsamt der Hand des Mannes wieder auf. »Sie steht in meiner Obhut.« Eindringlich schaut er den Buckligen an. »Und sie verlässt dieses Haus ausschließlich in meiner Begleitung!«

»Guten Abend«, wispert Sarah gerührt. Sie ist dankbar, dass Alexander ihr zuvorkam. Denn sie selbst hätte vor Aufregung vergessen, ihren neuen Namen zu nennen.

Der Mann in der Tür entgegnet ihren Gruß nicht. Stattdessen wendet er sich unbeirrt Alexander zu. »Ich wünsche dir viel Vergnügen. Passt auf der Treppe auf, es ist düster hier.« Als er zur Seite tritt, schwanken die kleinen Flammen der Kerzen erneut, richten sich dann aber wieder auf.

Alexander fasst wortlos Sarahs Arm und schiebt sie durch die Tür. Vorsichtig gehen sie bis zu einer Treppe, die wie eine herabhängende Zunge aus dem oberen Stockwerk lechzt. Über die Holzstufen fließen Wärme, Stimmengewirr und mattes Licht herab.

»Rose?«

Sarahs Blicke wandern entlang des geschnitzten Geländers gegen den Strom, bis sie jenen Punkt erreichen, an dem sie auf gleicher Höhe sind mit dem Obergeschoss. Dort oben, denkt sie, warten die Krokodile. Ausgelassen, aber hungrig feiern sie ihre Frischfleisch-Party und gieren nach Nichtschwimmerinnen. Mitten unter ihnen wird sie auftauchen. Und alle werden es sofort bemerken, dass sie neu ist. Und nicht schwimmen kann.

»Rose!« Alexander drückt kräftig in ihren Arm. »Würdest du jetzt bitte vorangehen?« Er spricht den Satz in ungeduldigem Staccato. Feuert mit seiner Salve in ihren Nebel aus Gedanken. »Du träumst vor dich hin!«

»Entschuldige«, antwortet Sarah reflexartig und lauter, als gewollt. Vor Schreck entschuldigt sie sich dafür gleich noch einmal.

Der Mann mit dem Kerzenständer zieht hörbar scharf die Luft ein. Sein Körper strafft sich dabei und seine Augen werden größer als die Flammen der Kerzen. Als hätten ihm die Worte gegolten.

»Was ist mit dir los?«, flüstert Alexander dicht an Sarahs Ohr. »Erinnere dich, was dir Bruno in seinem letzten Brief geraten hat. Dass du einen Menschen suchen sollst, der zu dir passt.« Er sieht sie an, als schwebe irgendeine Erkenntnis bereits so deutlich zwischen ihren Köpfen, dass Sarah sie endlich bemerken müsste.

Sie greift instinktiv in ihre Manteltasche und ertastet Papier. Der Brief. Sie hat ihn nach dem Besuch auf dem Friedhof nicht zurück an seinen Platz gelegt. Nun ist er ihr ein unerwarteter Begleiter.

Alexander nickt mit dem Kopf. »Wenn du Bruno gefragt hättest, wo du mit deiner Suche beginnen sollst, hätte er dich genau hierher geschickt.« Mit einem Arm deutet er auf die Treppe. Den anderen legt er um Sarahs Hüfte. »Wäre er hier«, raunt er dann, »würde er dich wie eine dem Licht zustrebende Seerose hinaufsteigen und an der Wasseroberfläche erblühen lassen.«

Sarah streicht mit dem Zeigefinger über das gefaltete Papier in ihrer Tasche. Es fühlt sich an, als sei Bruno tatsächlich bei ihr. Als geschehe hier sein Wille. Sie dreht ihren Kopf kurz zu dem Mann mit dem Kerzenständer und sieht, wie er die Tür hinter ihnen abschließt. Ihr bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Trau dich«, redet Alexander auf sie ein. »Tu es für Bruno. Wenn dir schon nicht bewusst ist, dass du es für dich tust.«

Für Bruno, entscheidet sich Sarah. Langsam setzt sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe und bewegt sich aus Alexanders Umarmung heraus. Sie zieht ihr weißes Kleid ein Stück nach oben, um nicht zu stürzen. Dann legt sie ihre Hand auf den Lauf des Holzgeländers, atmet noch einmal tief ein. Sie verlagert ihr Gewicht nach vorn und kämpft sich Stufe um Stufe an die Oberfläche.

Als sie im ersten Stock der Villa auftaucht, schnappt sie vor Überraschung nach Luft. Keine Krokodile. Der Flur ist vollständig mit Kerzen erhellt. Auf dem Parkettboden stehen massive Leuchter, die armdicke Wachsstumpen tragen. Ihre Feuer vereinen sich zu einer gemeinsamen Sphäre aus Licht, Wärme und öligem Paraffinduft. Es ist, als habe sie ihren Kopf in eine andere Welt gesteckt.

Längs des Flures streichen Schatten über die dick aufgetragenen, barocken Muster der Tapeten. Gegen sie lehnen hüfthohe Stahlrahmen, die Leinwände mit düsteren Bildern aufspannen. Sarah kann sie so schnell nicht fassen, sie erkennt die Form sich windender Frauenkörper in schwarzer Farbe, an Händen und Leib gebunden, Zeichnungen, die sich so martialisch anfühlen wie ihre Rahmen schwer sind.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flures entdeckt Sarah eine weit geöffnete Tür. Im dahinterliegenden Raum scheint jener Fluss aus Stimmen zu entspringen, der ihr über die Treppe entgegen geschwappt kam.

Alexander schiebt Sarah die letzte Stufe hinauf. Dann fasst er von hinten ihren Kragen, streift ihr den Mantel ab und legt ihn über seinen Arm. »Du hast es geschafft«, murmelt er. »Fürwahr.«

Sarah schmiegt ihre Arme um die Hüften. Sie fühlt sich trotz ihres Abendkleides nackt und ungeschützt ohne den Mantel. Ihre äußerste Hülle ist gefallen. Sie will keine weitere hergeben heute Abend.

Alexander dreht sie zu sich und schüttelt den Kopf. »Wenn man dich sieht, könnte man meinen, du wolltest auf der Stelle verwelken.« Er deutet mit der Hand auf die offene Tür. »Wenn wir jetzt dort hineingehen, dann …«

Eilig fällt ihm Sarah ins Wort. »Rose«, sagt sie. »Ich heiße Rose. Ich weiß.« Sie will ihm zeigen, dass sie keine Probleme machen wird. Nicht mehr abgelenkt ist.

»Sehr schön, Rose«, lobt Alexander und ein amüsiertes Lächeln huscht über sein Gesicht. »Ich freue mich, dass du dieser Anweisung folgst. Wirklich. Aber das meinte ich nicht.«

Sarah fühlt sich wie ein Schulkind, das unter seinem fehlerfreien Aufsatz die Anmerkung »Thema verfehlt« findet. Sie beschließt, sich zurückzuhalten und Alexander sprechen zu lassen. Vielleicht, denkt sie, ist das ganz allgemein die sicherste Strategie, wenn man mit einem Thema nicht so vertraut ist.

»Ich meinte«, setzt Alexander fort, »dass du dich bitte stets an meiner Seite aufhalten wirst.«

Sarah nickt. Genau das will sie tun. Sie wird sein Fahrwasser auf keinen Fall verlassen. »Aus Sicherheitsgründen«, ergänzt sie. »Du passt auf mich auf.«

Alexander scheint kurz aus dem Konzept gebracht, dann findet er den Faden wieder. »Auch das. Wenn du dir im Verlauf des Abends etwas ansehen oder dich aus dem Raum begeben möchtest, will ich das zuvor wissen.«

Sarah fühlt sich mit jedem Satz seiner Belehrungen geborgener. »Ja«, sagt sie und lächelt. Zum ersten Mal, seitdem sie die Villa betreten haben. Sie beginnt, neugierig zu werden auf den Raum hinter der offenen Tür. »Ich werde dir stets Bescheid geben.«

»Nein«, tadelt Alexander, »das genügt mir nicht. Du wirst mir ausschließlich dann von der Seite weichen, wenn ich es dir erlaubt habe.«

Sarah nickt eilig und schiebt sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrer Frisur gelöst hat. Was, denkt sie, haben seine Restriktionen an sich, dass sie derart aufregend klingen? Sie schaut verlegen an sich herab, zieht das Kleid und den schmalen Gürtel zurecht.

»Du wirst mich darum bitten müssen, jedes mal, ist dir das klar?« Alexander kneift die Augen zusammen. Er weiß, wie seine Anweisungen in der Frau klingen, die zunehmend nervös ihm gegenübersteht. Er sieht, wie sie auf ihrer Unterlippe kaut, ohne es zu bemerken. »Hast du das verstanden?«, setzt er scharf nach.

Sarah erstarrt. Eine wirbelnde Schar Schmetterlinge stürzt sich von oben herab, pflügt durch die Magengrube und steigt ihr wieder bis in die Brust. Bitten? Sie? Alexander? Diesen Mann mit dem schönen, kantigen Gesicht, den sie so oft für seine souveränen Entscheidungen bewundert hat, der sich ihr als Schutz anbot, der viel erfahrener ist als sie? Was bietet er ihr hier an? Ihr, die niemals mithalten kann mit ihm, so unerfahren, wie sie ist, die ihn heimlich bewundert hat, die einen Partner sucht, einen, der am besten so ist wie er? Hatte sie etwas übersehen? Welches Interesse kann Alexander an ihr gewonnen haben? Ihr Kopf beginnt zu rauschen. Sie denkt an die Einladung ins Café und an die bezahlte Taxifahrt. An seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. An sein Kompliment, als er sie heute abholte und eine Seerose nannte, obwohl sie ihm doch wie ein Mauerblümchen erscheinen muss. Sie erinnert sich an seinen Arm, der sich am Fuß der Treppe um ihre Hüfte gelegt hatte, und plötzlich fallen ihr so viele andere kleine Berührungen ein. Sie ahnt, dass sie nicht nur hier ist, um ihre Fantasien zu probieren. Sie ist auch für ihn hier. Für sich selbst hat er sie mitgenommen. Wie großartig sich das anfühlt, kann sie im Moment gar nicht beschreiben.

 

»Rose?«

»Bitten …«, sagt Sarah gedankenverloren und kämpft gegen das Rauschen der Schmetterlinge an. Als sie seinen irritierten Blick bemerkt, ergänzt sie schnell: »Bitte, meine ich, können wir jetzt dort hineingehen?« Sie zeigt auf die Tür, aus der gerade ein einzelnes, lautes Lachen herausspritzt.

Alexander zieht die Mundwinkel breit. »Du hast es also verstanden. Das freut mich, Rose.« Er bietet ihr den angewinkelten Arm an und sie hakt sich ein. Wie selbstverständlich.

Als sie gemeinsam den Flur durchqueren, fragt sich Sarah, was genau er gemeint hat. Was er glaubt, das sie verstanden hat.


Kapitel Drei

»Sehr wohl«, sagt der kleinwüchsige Mann, der neben dem Türflügel wartet und Alexander die Mäntel abnimmt.

Wie ein Zeremonienmeister sieht er aus, denkt Sarah. Lediglich der Zylinder, den er auf seinem runden Kopf mit dem pausbackigen Gesicht trägt, verleiht ihm eine gewisse Größe. Seine Anzugjacke säumt offenstehend einen kugeligen Bauch, die Hosenbeine der viel zu langen Stoffhose schwimmen um die Schuhsohlen herum.

»Ich werde mich sofort um die Garderobe bemühen, Alexander.« Er reckt den Kopf. Dabei könnte er nicht einmal den Saal überblicken, wenn er sich auf seinen Zylinder stellen würde. Sarah kann sich nur schwer ein Lachen verkneifen. Amüsiert drückt sie Alexanders Arm, in den sie noch immer eingehakt ist.

»Dein Tisch ist der erste an der Balustrade«, schnarrt der Zeremonienmeister.

Alexander schaut kurz zu Sarah, dann nickt er dem Mann zu. »Sehr schön«, bedankt er sich. »Ich sehe, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Er senkt kurz seine Hand auf dessen niedrige Schulter. »Ich lade dich nachher auf ein Glas Wein ein. Und ich erwarte, dass du diese Einladung annimmst.«

Das zustimmende Lächeln auf dem Gesicht des Mannes ist so stolz, dass es fast den Zylinder anhebt. Er verbeugt sich andeutungsweise, dann verschwindet er, watschelnd wie eine Ente, mit den Mänteln über dem Arm.

»Und nun, Rose, kommt dein Auftritt«, erklärt Alexander. »Unser Tisch befindet sich auf der anderen Seite des Saales. Während wir dorthin gehen, wirst du nichts an deinem zauberhaften und stillen Lächeln verlieren.« Er legt seinen Zeigefinger unter Sarahs Kinn und hebt es um mehrere Zentimeter an. »Kopf hoch. Jetzt.«

Sarah schluckt. Sie sieht Alexander direkt in die Augen und bemerkt erneut dieses Gefühl, es lauere etwas hinter ihnen. Etwas Abwartendes, aber auch Wissendes, Überlegenes. Möglicherweise Gefährliches. Als sie wieder die Schmetterlinge spürt, mag sie nicht glauben, dass genau das deren Nektar ist. Langsam schließt sie die Augenlider.

»Dort geht es lang«, zerbricht Alexander die Situation und dreht Sarah an den Schultern dem Saal zu. »Und denke an alles, was ich dir gesagt habe.«

Sie stehen vor einem kleinen Meer aus runden Tischen. Deren weiße Tücher werden ausschließlich von mehrarmigen Kerzenleuchtern erhellt. Die von der Decke herabhängenden Lüster tragen nur lichtloses Kristall, durch das der Schein der zahllosen brennenden Dochte unter ihnen Schatten zaubert wie ein Kaleidoskop.

Um die Tische sind jeweils vier Sessel platziert. Nicht sonderlich groß, aber gemütlich sehen sie aus mit ihren weichen, roten Polstern.

Die Wände des Saals sind bespannt mit samtenen Tapeten in der Farbe trocknenden Blutes. In regelmäßigen Abständen stützen reinweiße Säulen die Decke.

Alexander setzt sich in Bewegung. Er hat Sarahs Arm so fest untergehakt, dass sie keine andere Wahl hat, als neben ihm Schritt zu halten.

»Wie schön!«, ruft ein Mann am ersten Tisch, den sie passieren. »Alexander! Willkommen!« Er dreht sich um und hebt sein Glas zum Gruß. Die Gäste, die bei ihm sitzen, unterbrechen ihr Gespräch und schauen erfreut auf.

Sarah lächelt ihnen verlegen zu. Sie bemerkt, dass sie von den beiden Frauen am Tisch gemustert wird. Kurz nur, aber der Länge nach. Sie besinnt sich auf Alexanders Kompliment und lässt sich nicht verunsichern. Schön wie eine Seerose. Ihr Kleid ist eleganter als die geschnürten Oberteile der Frauen, deren voluminöse schwarze Federboas bemüht den Brustansatz verdecken. Geschmückte Krokodile, denkt Sarah. Sie nehmen Witterung auf. Wägen ab, wer heute Abend zuerst gefressen wird. Und von wem.

»Schön, dass ihr hier seid«, grüßt Alexander. Seelenruhig. Er lässt Sarahs Arm nicht locker und geht weiter.

Am nächsten Tisch sitzen vier ältere Herren. Stocksteif, mit Monokel und Tüchern, die ihnen aus den Brusttaschen schauen. »Guten Abend«, sagt einer von ihnen förmlich und unter seinem gezwirbelten Schnauzbart hervor. »Schaut, schaut.« Er klopft eine kleine Tabakdose auf den Tisch und zieht die Augenbrauen nach oben. Seine drei Sitznachbarn haben offensichtlich Mühe, sich ob ihrer Steifheit im Sessel zu drehen.

Wieder fühlt sich Sarah begutachtet und ist dankbar, dass Alexander lediglich kurz nickt und sie weiterführt. Aber sie kommen nur wenige Schritte zwischen den Tischen voran.

»Was für ein wundervolles Kleid«, begeistert sich ein Mann, der einen Seidenschal trägt und beide Hände ineinander verschränkt vor die Brust hält. Als er aufsteht, schlängelt er sich in seinem dunkelgrünen Anzug in die Höhe. »Das sieht fantastisch aus!« Er dreht eine Hand nach vorne und lässt ihre Finger nach unten hängen. Dann bleiben seine ungenierten Blicke auch unterhalb des schmalen Gürtels kleben. »Darf man Näheres erfahren?«

Ein schwules Krokodil, denkt Sarah belustigt. Zugleich ermahnt sie sich, aufzupassen und nicht den falschen Namen zu verwenden. Sie holt Luft und konzentriert sich. »Ich bin …«

»Du bist still, Rose«, fährt ihr Alexander dazwischen. Er winkelt seinen Arm an und zwingt sie damit einen Schritt nach hinten.

Überrascht stößt sie gegen einen Sessel, der hinter ihnen am Nachbartisch steht. Als sie sich so gut es geht umdreht, um sich zu entschuldigen, blickt sie auf einen jungen Mann. Kurze, schwarze Haare über weichen Gesichtszügen, braune Augen, breite Lippen. Mehr Zeit bleibt ihr nicht.

»Herrje«, schimpft er, hält ein halbleeres Glas am ausgestreckten Arm und betrachtet verärgert seine Anzugjacke. Ein dunkler Fleck saugt sich in den Stoff. »Passen Sie doch besser auf!«

»Entschuldigung«, stammelt Sarah über die Schulter nach hinten. Weiter kann sie sich nicht drehen, denn Alexander hat sie fest eingehakt. »Wie ungeschickt von mir. Aber es war gewiss keine Absicht.«

Der Mann dreht sich ihr zu, folgt ihrem Arm, bemerkt Alexander. »Das ist schon in Ordnung«, meint er. Seine dunkle Stimme verliert an Gereiztheit und klingt plötzlich warm und sanft. Er wischt über die nasse Stelle. »Das trocknet bald. Es ist ohnehin nur Wasser.« Er lächelt kurz, verlegen sieht es aus, dann bricht er das Gespräch ab und wendet sich wieder dem Tisch zu.

Als Sarah sich umdreht, reicht Alexander dem Mann mit dem Seidenschal die Hand. »Was für eine wundervolle Frau, wolltest du bestimmt sagen, oder? Du brauchst dir aber keine Hoffnungen machen, denn sie bleibt heute Abend ausschließlich an meiner Seite.« Er überlegt und wiegt seinen Kopf hin und her. »Sie wird sich erst einmal umsehen. Nur dafür habe ich sie eingeladen.«

Der Mann mit dem Schal lacht aufgesetzt. »Schön, dass auch ich eingeladen wurde«, schraubt er schließlich einen Satz aus sich heraus. »Du weißt ja, man wird nicht jünger und muss schauen, wo man bleibt.« Wieder ein affektiertes Lachen.

»Schon gut«, antwortet Alexander. »Ich wünsche dir viel Spaß heute Abend.« Dann wendet er sich ab.

Während sie die nächsten Tische passieren, schweigt Sarah. Ihr fällt auf, dass stets Alexander gegrüßt wird, nicht aber sie. Sie schiebt es auf den Umstand, dass sie zum ersten Mal hier ist. Niemand kennt sie, wogegen Alexander offensichtlich mit nahezu jedem Gast Worte wechseln kann. Er ist, denkt sie, unter den Anwesenden derart beliebt, dass sie selbst in seinem breiten Fahrwasser gar nicht mehr wahrnehmbar ist.

»Alexander«, schnurrt eine Frau, die sich katzenartig aus einem der Sessel erhebt und umständlich ihre Hochsteckfrisur richtet. Sie trägt ein enges Bleistiftkleid, das gleich einem Korsett gearbeitet ist und ihre ohnehin schlanke Figur wie eine Sanduhr erscheinen lässt. Während sie den Kopf bewegt, funkelt ein breites, goldenes Collier um ihren Hals aufsässig im Kerzenlicht. »Es freut mich unbeschreiblich, dich zu sehen.«

Alexander wendet sich ihr zu. »Elena«, sagt er nicht weniger schnurrend. Es klingt, als gehe seine Stimme auf ihr tiefes, sanftes Timbre ein. »Ich wusste, dass ich dich treffen werde.«

Sarah horcht auf. Sie tritt ein wenig aus dem Fahrwasser und macht sich sichtbarer. Alexander spricht so zutraulich süß, wie sie es von ihm bislang nicht kennt.

Elena legt eine Hand an seinen Arm. »Du bist wieder alleine hier, nicht wahr?« Mit aschgrauen Augen schaut sie aufreizend seufzend zu ihm auf. »Setze dich zu mir, dann sind wir beide nicht so …« Sie spielt mit den Fingern auf dem Ärmel seines Jackets. »Nicht so einsam heute Abend.«

Sarah ist konsterniert. Sie steht doch direkt neben ihm! Wie kann dieses katzenhafte Krokodil sie nicht wahrnehmen?

»Señora Elena«, meint Alexander lächelnd und diplomatisch, »du bist wie immer umwerfend attraktiv.«

»Bei all dem, was du tust«, brummt die Stimme der Frau, »sollst du doch eine ganz besondere Begleitung haben, meinst du nicht?«

Sarah tritt entschlossen einen Schritt nach vorn. Dass sie dabei an Alexanders Arm reißt, nimmt sie in Kauf. Auch, dass es paradox ist, vor Krokodilen den Arm zu schwenken, um gesehen zu werden. Noch vor einer Viertelstunde hätte sie sich am liebsten verkrochen. »Guten Abend«, sagt sie, laut und deutlich. Mit festem Blick schaut sie der Frau ins Gesicht. »Ich bin Rose.«

Die aschgrauen Augen gefrieren zu Eiskristallen. »Huch«, künstelt Elena. »Da übersah ich wohl etwas.«

Sarah kann nicht beschreiben, wie wütend sie dieses »Etwas« macht. Alexander zieht sie zurück. Sie bemerkt nicht, dass er selbst nur wenig erfreut ist über die Situation. Denn sie ist noch in das Blickduell verwickelt.

»Du siehst, Elena, ich kann deine Einladung schwer annehmen«, erklärt Alexander. Es klingt eher sachlich als bedauernd.

Elena reißt gekünstelt ihre Augen auf. »Ach! Haben wir heute sechs?« Abfällig und belustigt klingt es. Aber ebenso eiskalt. Ihre Pupillen funkeln kräftiger als das Collier.

Sarah schnappt nach Luft. Fassungslos. Sie kann sich nicht verhört haben, so gestochen klar, wie es Elena sagte. Sex? Nichts an ihr ist billig oder verrucht, sie trägt ihr schönstes Abendkleid, empfindet sich als dezent und zurückhaltend. Sie hegt keinerlei Absichten. Warum redet diese Frau so unverschämt? Vor allem, da sie sich selbst so süßklebrig anbiedert. »Das geht Sie nichts an«, faucht es aus ihr heraus.

»Du täuschst dich«, zischt Elena unmittelbar zurück. Aber es klingt unsicher. Sie entweicht dem Blickduell und wendet sich Alexander zu. »Eine reizende Begleitung hast du dir ausgesucht. So ungestüm. So wild.« Sie mustert Sarah mit einem kurzen, giftigen Seitenblick. »Und so unerfahren.«

»Ich versprach Rose«, lenkt Alexander ein, »mich ihr heute Abend anzunehmen. Und ich denke, es ist besser, sie jetzt an meinen Tisch zu bringen.«

»Wie schade«, seufzt Elena. »Hoffentlich weiß sie zu schätzen, wen sie an ihrer Seite hat.« Sie lässt sich zurück in ihren Sessel fallen. »Wir werden sie noch kennenlernen, oder?«

 

Alexander antwortet nicht. Er greift Sarah am Oberarm und geleitet sie zwischen Tischen, Sesseln und grüßenden Menschen hindurch. Sie queren zielstrebig den Saal, ohne sich ein weiteres Mal aufhalten zu lassen.

Sarah fällt es schwer, ihm zu folgen. Sie erwartet tadelnde Worte für ihr aufbrausendes Verhalten. Schließlich hat sie sich nicht an seine Anweisung gehalten, zu schweigen. Stattdessen war sie ungehalten zwischen ihn und diese Frau gesprungen, hatte sich aufgeplustert, empört darüber, absichtlich übersehen worden zu sein. Unaufhörlich nagen in ihr das schlechte Gewissen und die Einsicht, dass sie sich völlig unangemessen verhalten hat. An seiner Seite.

»Hier ist unsere Ecke«, erklärt Alexander und stoppt. Direkt hinter einer weißen Holzbalustrade, die sich über die gesamte Stirnseite des Saales zieht, wartet ein runder, weiß gedeckter Tisch mit zwei Sesseln. Er steht etwas abseits und einzeln, nicht so eingeklemmt wie die der Gäste im Saal. Die Kerzen auf ihm spenden bereits ausreichend Licht.

»Setz dich.« Alexander führt Sarah zu einem der Sessel, zieht ihn ein Stück nach hinten und wartet, bis sie ihr langes Kleid sortiert hat und in das Polster gesunken ist. Anschließend umrundet er sie und nimmt auf der anderen Seite des Tisches Platz. Aus der Tasche seines Jacketts fingert er die Pappschachtel mit Lakritze, entnimmt ihr ein einzelnes Bonbon und schiebt es sich in den Mund. Dann schaut er zu Sarah.

Sie senkt den Kopf. Ihre Hände legt sie auf den Schoß und spielt nervös mit den Fingern. Sie weiß nicht, was Alexander zu dem Vorfall sagen wird und ob sie versuchen soll, sich zu rechtfertigen. Am Ende wird er beanstanden, dass sie gegen seinen ausdrücklichen Willen gehandelt hat. Und sie wird ihm recht geben müssen. Er hat gute Gründe, mit ihr unzufrieden zu sein. Ein gelungener Start, denkt sie, ist das nicht.

»Auf was wartest du?«, hört sie ihn fragen. Und ihr fällt auf, dass sie keine Antwort kennt. Weil sie nicht abschätzen kann, auf was er selbst wartet. Fordert er eine Entschuldigung ein und gibt ihr jetzt Gelegenheit, sie vorzutragen? Soll sie ihm erklären, wie es zu der Situation kam oder genügt eine Versicherung, dass es ihr nicht wieder passieren wird heute Abend? Ist es vielleicht nur eine Finte, möchte er ihr Angst einjagen? Sie fühlt sich von seiner unsäglichen Frage erdrückt. Möglicherweise, denkt sie, ist genau das die Strafe für ihr Verhalten. Am liebsten würde sie neben ihm knien, neben seinem Sessel, so wie Julia einst neben Bruno kniete. Als Zeichen dafür, dass sie nicht weiter weiß, dass er entscheiden soll über sie, so wie er es mag und für richtig empfindet.

Mitten in ihren Überlegungen geschieht etwas, mit dem sie nicht gerechnet hat. Alexander beginnt zu lachen. Zunächst ist es nur ein unscheinbares Zischen, er schnauft kurz durch die Nase, dann aber gewinnt es an Rhythmus, wird lauter, vokaler, und schließlich lacht er herzhaft.

Sarah schaut irritiert auf.

»Gut gemacht, Rose«, schnieft Alexander und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Das hast du wirklich gut gemacht!«

Sie lächelt zaghaft und unsicher, aber weiß nicht, worüber. Es ist lediglich der Gleichklang, nach dem sie sehnt.

Alexander zieht ein Tuch aus seiner Hosentasche und trocknet eine Träne, die es bis unter den Nasenflügel geschafft hat. Tief holt er Luft. »Vor wem hattest du hier eigentlich Angst? Ein einziges Anfauchen genügte und du hast deinen Platz verteidigt. Erfolgreich. Das, Rose, gelingt bei Elena ganz sicher nicht jedem. Hast du gesehen, wie kraftlos die Señora in ihren Sessel gefallen ist?« Erneut lachend verstaut er sein Taschentuch und beugt sich zu ihr über den Tisch. »Dir ist bewusst, dass ich das, was du da eben getan hast, als Statement verstehen könnte?«

Verwundert reißt Sarah die Augen auf. Versteht nicht. Sie hatte mit einem Tadel gerechnet, aber nicht mit Lob.

»Wer einen Platz so tapfer verteidigt, muss fürwahr Interesse an ihm haben«, sinniert Alexander und lehnt sich genussvoll zurück. »Ich werde darüber nachdenken, Rose. Vielleicht.«

Sarah sitzt wie versteinert und starrt auf das Tischtuch, als läge seine Offerte in einem geschlossenen Umschlag zwischen ihnen. Mit Vorbehalt. Auf was er seine Entscheidung gründen wird, weiß sie nicht. Aber sie ahnt, dass ihr Verhalten maßgeblich sein wird. Ist das jene Rolle, die sie für ihn einnehmen wird heute Abend? Und ist der Schutz, den er ihr versprach, von ihrem Erfolg abhängig?

»Gnädiger Herr, ich wünsche Ihnen einen guten Abend«, meldet sich eine Stimme hinter ihr. »Darf ich Ihnen behilflich sein?«

Alexander nickt. »Hier gibt es Einiges zu tun«, sagt er, während er über Sarahs Schulter hinweg schaut und sich langsam die Hände reibt. »Wie heißt du, Mädchen?«

»Gnädiger Herr, mein Name ist Eins«, antwortet die Stimme. Sehr ruhig, sehr deutlich. Sehr folgsam.

»Ach, ich vergaß.« Alexander schaut ärgerlich drein. »Heute gibt es nur Nummern. Komm her zu mir, Eins.« Mit der Hand klopft er sanft gegen die Tischkante zu seiner rechten.

Wäre Sarah nicht schon erstarrt, würde sie es jetzt tun. Eine Frau läuft auf der linken Seite in ihr Blickfeld, geht kleine Schritte, bleibt dann stehen. Sie trägt um den Hals ein schmales, lockeres Lederband, an dessen Verschluss im Nacken eine Metallplakette mit rot eingravierter Ziffer befestigt ist. Eins. Sarah lässt ihren Blick am Rücken der Frau entlang sinken. Über ihren Hintern hinweg, die Schenkel hinab bis zu den Knöcheln. Eins ist nackt. Völlig nackt. Abgesehen von schwarzen, glänzenden Absatzschuhen, die von Riemen um die Fußfesseln gehalten werden. Als Sarah irritiert zu Alexander schaut und sieht, dass auch er seine Blicke schweifen lässt, schluckt sie. Der Anblick, den die Frau ihm bieten muss, ist noch um ein Erhebliches nackter.

»Ich frage mich, ob ich dir schon einmal begegnet bin«, erklärt Alexander nachdenklich, während er Eins prüfend ins Gesicht sieht. Er kneift die Augen zusammen, seine Brauen wölben sich über ihnen.

Eins bleibt regungslos stehen und lässt die Musterung über sich ergehen. Wie ein Gegenstand, dessen Qualität geprüft wird, denkt Sarah.

Schließlich brummt Alexander unzufrieden und beugt sich nach vorn. »Du bist also heute Abend unserem Tisch zugeteilt?«

»Gnädiger Herr, ja. Ausschließlich Ihrem Tisch.«

»Soso«, sagt er bedächtig, als wäge er noch ab, ob er einverstanden ist. Doch dann greift er wie selbstverständlich an ihre Taille. »Dreh dich um.« Mit der Hand hilft er nach und bringt die Nackte nüchtern in Position.

Sarahs Blicke befinden sich auf der Flucht. Sie retten sich vor den Brüsten der Frau, streifen unwillkürlich ihre Hüften und eine Handbreit darunter. Schließlich klammern sie sich aus purer Verzweiflung an Alexanders kantigem Gesicht fest. Eins ist nackt, denkt sie immer wieder. Nackt. Tatsächlich. Vollständig.

Sarah erahnt an der Armbewegung, dass Alexanders Hand über den Hintern der Frau streicht. Nur einen Augenblick später schiebt diese ihre Beine ein Stück auseinander. Wortlos. Sarah möchte nicht hinsehen. Und doch tut sie es.

»Hör mir gut zu, Eins«, beginnt er. »Die junge Frau, die mir hier gegenüber sitzt, nennt sich Rose. Sie ist meine Begleiterin. Ich möchte, dass du ihr heute Abend uneingeschränkt zur Verfügung stehst, wenn sie Fragen hat.« Er schaut zu Sarah und deutet ihr mit einer Handbewegung an, den Mund wieder zu schließen. »Sie hat Fragen. Das sieht man ihr an.«

Alexander streicht genüsslich lächelnd seine Hand auf dem Hintern der Frau ab und lehnt sich dann zurück. »Du darfst mit ihr kommunizieren, Eins, so viel sie möchte. Ich erlaube das. Aber es geschieht leise. Zu keinem Zeitpunkt vernachlässigst du deine Aufgaben. Hast du das verstanden?«

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