Meditation ist nicht, was Sie denken

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Herausforderung und Hoffnung

Letztendlich kann man vielleicht sagen, dass die wichtigste Herausforderung für uns alle darin besteht, wenigstens ein klein wenig mehr aufzuwachen und zur Besinnung zu kommen, in welchem Ausmaß auch immer wir das können und wollen – sowohl ganz konkret als auch im übertragenen Sinne. Das gilt ganz besonders dann, wenn uns klar wird, dass Achtsamkeit im Grunde eine Liebesbeziehung mit dem tiefsten und besten Potenzial in uns Menschen ist. Dann werden wir besser in der Lage sein zu sehen, was gesehen werden muss, und zu fühlen, was gefühlt werden muss, und durch all unsere Sinne bewusster zu werden. Alles, was wir als Menschen erfahren, wartet im Grunde darauf, dass wir es ganz in unser Leben einladen, uns dessen bewusst werden und es zum Experiment oder Abenteuer unseres Lebens machen, mitzuerleben, wie es sich entfaltet, solange wir die Chance dazu haben. Damit treten wir ein in einen sich stetig ausweitenden Kreis von Intentionalität und gelebter Wachheit.

Möge Ihr Interesse für und Ihr Verständnis von Achtsamkeit wachsen und erblühen und eine Unterstützung und Bereicherung für Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Familie, Ihren Bekanntenkreis und diese Welt sein, der wir alle angehören, in jedem neuen Moment und an jedem neuen Tag.

Jon Kabat-Zinn

Northampton, MA

* Dazu zählen unter anderem MBCP (Mindfulness-Based Childbirthing and Parenting), MBRP (Mindfulness-Based Relapse Prevention) bei exzessivem Trinkverhalten, MBSPE (Mindfulness-Based Sport Performance Enhancement) und MBWE (Mindfulness-Based Wellness Education).

Einführung

Die Herausforderung eines Lebens – und eine lebenslange Herausforderung

Vielleicht ist es so,

dass wir dann zu unserer wahren Arbeit gelangt sind,

wenn wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen,

und dass wir dann unsere wirkliche Reise angetreten haben,

wenn wir nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen.

WENDELL BERRY

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber meinem Eindruck nach sind wir auf diesem Planeten an einem kritischen Punkt angelangt. Von hier aus könnte sich unser aller Leben in ganz unterschiedliche Richtungen entwickeln. Die Welt scheint in Flammen zu stehen, und es sieht ganz danach aus, als hätten auch unsere Herzen Feuer gefangen – sie sind vielfach entflammt von Furcht und Ungewissheit, sie kennen häufig keine Überzeugungen mehr, und oft sind sie von einer leidenschaftlichen, aber unklugen Intensität erfüllt. Wie wir an diesem kritischen Punkt auf uns selbst und die Welt blicken, wird für unsere weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung sein. Was uns als Individuen und als Gesellschaft in der Zukunft widerfahren wird, hängt in beträchtlichem Ausmaß davon ab, ob und wie wir die uns von Natur aus innewohnende Gabe des Gewahrseins in diesem Augenblick nutzen. Es wird entscheidend darauf ankommen, was wir tun, um das Unbehagen, die Unzufriedenheit und das deutliche Unwohlsein, die unser Leben und unser Zeitalter durchdringen, zu heilen und gleichzeitig alles in uns und in der Welt zu nähren und zu beschützen, was gut, schön und gesund ist.

Die Herausforderung besteht meiner Ansicht nach darin, zur Besinnung zu kommen, als Individuen und auch als Spezies insgesamt. Man kann wohl sagen, dass es weltweit eine beträchtliche Bewegung in diese Richtung gibt, bestehend aus bislang nur wenig beachteten und noch weniger verstandenen kleinen Strömen und Flüssen menschlicher Kreativität, Güte und Fürsorge, die zu einem stetig wachsenden Strom der Wachheit, des Mitgefühls und der Weisheit zusammenfließen, selbst angesichts der vielen Herausforderungen in der Welt. Aber wohin dieses Abenteuer uns als Spezies und als Individuen führen wird, ist noch völlig ungewiss, selbst von einem auf den nächsten Tag. Die Endstation dieser kollektiven Reise, der wir uns nicht verweigern können, ist weder festgelegt noch vorherbestimmt. Es gibt kein Ziel, nur die Reise selbst. Das, was wir jetzt erleben, und wie wir diesen Augenblick verstehen und damit umgehen, prägt das, was im nächsten Augenblick auftaucht, und im übernächsten, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht festgelegt ist, die letztlich unbestimmbar und geheimnisvoll bleibt.

Doch eines ist sicher: Wir alle befinden uns auf dieser Reise, ein jeder auf diesem Planeten, ob es uns nun gefällt oder nicht, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht, ob die Reise nach Plan verläuft oder nicht. Es geht dabei um nichts weniger als unser Leben, und die Herausforderung besteht darin, es so zu führen, als käme es wirklich darauf an. Wir haben in dieser Hinsicht immer eine Wahl. Wir können uns entweder von Kräften und Gewohnheiten mitreißen lassen, die zu hinterfragen wir uns beharrlich weigern und die uns in verstörenden Träumen und potenziellen Albträumen gefangen halten, oder wir können unser Leben in die Hand nehmen, indem wir darin erwachen und es aktiv mitgestalten, unabhängig davon, ob uns das, was gerade geschieht, gefällt oder nicht. Nur wenn wir aufwachen, wird unser Leben real, und nur dann haben wir eine Chance, uns von unseren individuellen und kollektiven Verblendungen, Krankheiten und Nöten zu befreien.

Vor vielen Jahren fragte mich ein Meditationslehrer während eines zehntägigen, fast vollständig in Stille stattfindenden Meditationsretreats zu Beginn einer Einzelunterweisung einmal: „Wie behandelt die Welt dich denn so?“ Ich murmelte etwas wie, es sei „schon ganz in Ordnung“. Dann fragte er mich: „Und wie behandelst du die Welt?“

Ich war ziemlich verblüfft. Dies war die letzte Frage, mit der ich gerechnet hätte. Es war offensichtlich, dass sie nicht in einem allgemeinen Sinn gemeint war. Schließlich war das hier nicht bloß eine nette Plauderei. Der Lehrer wollte wissen, wie ich genau hier, während des Retreats, an diesem Tag und in Angelegenheiten, die mir damals vielleicht banal oder gar trivial vorkamen, mit „der Welt“ umging. Eigentlich hatte ich gedacht, ich würde mich während des Retreats mehr oder weniger aus der „Welt“ ausklinken. Diese Bemerkung machte mir jedoch klar, dass es nicht möglich ist, sich aus der Welt auszuklinken, und dass die Art und Weise, wie ich in jedem einzelnen Augenblick mit ihr umging, selbst in jener künstlich vereinfachten Umgebung, wichtig, ja sogar wesentlich war für das, weswegen ich letztlich da war. In diesem Augenblick verstand ich, dass ich noch viel darüber herauszufinden hatte, warum ich überhaupt hier war, also worum es bei der Meditation ging und, alldem zugrunde liegend, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte.

Im Laufe der Jahre erkannte ich dann allmählich das Offensichtliche, nämlich dass diese beiden Fragen lediglich zwei Seiten einer Medaille sind. Schließlich stehen wir in jedem Augenblick in einer intensiven Beziehung zur Welt. Diese Beziehung, in der wir geben und nehmen, bestimmt und definiert unser Leben sowie auch eben diese Welt, in der wir uns befinden und in der sich unsere Erfahrungen entfalten. Allerdings betrachten wir diese beiden Aspekte – wie die Welt uns behandelt und wie wir sie behandeln – meist als voneinander unabhängig. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie leicht wir von der Vorstellung eingenommen werden, wir seien Akteure auf einer ansonsten leblosen Bühne, so als sei die Welt nur „dort draußen“ und nicht genauso „hier drinnen“? Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir uns oft so verhalten, als gäbe es eine eindeutige Trennung zwischen „da draußen“ und „hier drinnen“, auch wenn unsere Erfahrung uns sagt, dass da nur eine ganz dünne Membran sein kann, im Grunde also keine wirkliche Trennung? Selbst wenn wir uns der engen Beziehung zwischen innen und außen bewusst sind, kann es sein, dass wir nur wenig Gespür dafür haben, auf welche Weise unser Leben die Welt und wie die Welt wiederum unser Leben in einem symbiotischen Tanz der Gegenseitigkeit und Interdependenz beeinflusst und gestaltet. Das reicht von der intimen Beziehung zu unserem Körper und unserem Geist bis hin zu den Beziehungen zu unseren Familienmitgliedern, von unseren Kaufgewohnheiten über das, was wir von den Fernsehnachrichten halten, bis hin zu der Art und Weise, wie wir uns im größeren Kontext der politischen Welt verhalten.

Dieser Mangel an Gespür wird dann besonders beschwerlich, ja sogar zerstörerisch, wenn wir versuchen, die Dinge so hinzubiegen, wie wir sie gern hätten. Dabei kümmert es uns nicht, dass ein solches Verhalten, mit dem wir ihren natürlichen Rhythmus unterbrechen, etwas Gewalttätiges hat, so subtil es auch sein mag. Früher oder später leugnet ein solches Erzwingen die wechselseitige Abhängigkeit, die Schönheit des Gebens und Nehmens und die Komplexität des Tanzes selbst. Am Ende treten wir damit gewollt oder ungewollt vielen Menschen auf die Zehen. Wenn wir derart unsensibel geworden sind und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren haben, isoliert uns das von unseren eigenen Möglichkeiten. Wenn wir uns weigern anzuerkennen, wie die Dinge tatsächlich sind, und versuchen – aus Angst, dass unsere Bedürfnisse sonst nicht befriedigt werden –, eine Situation oder eine Beziehung gewaltsam so zu manipulieren, wie wir sie haben wollen, dann vergessen wir dabei, dass wir gewöhnlich ohnehin kaum wissen, was wir wirklich wollen. Wir glauben nur, es zu wissen. Und wir vergessen, dass dieser Tanz von einer außerordentlichen Komplexität und zugleich Einfachheit ist und Neues, Interessantes geschieht, wenn wir nicht vor unseren Ängsten kapitulieren und, statt etwas erzwingen zu wollen, einfach unsere Wahrheit leben. Das, was dann geschehen kann, geht weit über unsere begrenzten Möglichkeiten hinaus, die Welt kurzfristig zu kontrollieren.

 

Als Individuen und als Spezies können wir es uns nicht länger leisten, die Tatsache unserer wechselseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit zu ignorieren. Ebenso wenig dürfen wir übersehen, welche neuen Möglichkeiten sich aus unseren Sehnsüchten und Intentionen ergeben, wenn wir, jeder auf seine eigene Weise, hinter ihnen stehen, so mysteriös oder undurchsichtig sie uns zeitweise auch erscheinen mögen. Die Naturwissenschaften, die Philosophie, die Geschichte und die spirituellen Traditionen haben uns gelehrt, dass unsere individuelle Gesundheit, unser Wohlergehen und unser Glück davon abhängen, wie wir unser Leben gestalten, solange wir die Gelegenheit dazu haben – und sogar unser Fortbestehen als menschliche Spezies, dieser Lebensstrom, in dem wir nicht viel mehr sind als eine vergängliche Blase, in dem wir das Leben an die kommende Generation weitergeben und ihre Welt erschaffen, abhängig davon, welches Leben wir zu führen wählen, während wir es leben.

Gleichzeitig wird uns, als eine Kultur, langsam klar, dass diese Erde, auf der wir zu Hause sind, ganz zu schweigen von all den anderen Kulturen und Lebewesen darauf, wesentlich beeinflusst wird von ebendiesen Entscheidungen, die durch unser kollektives Verhalten als soziale Wesen noch viel deutlicher zutage treten.

Um nur ein Beispiel zu nennen, das inzwischen so gut wie jeder kennt und anerkennt, wenn es auch ein paar namhafte Ausnahmen gibt: Die globalen Temperaturen lassen sich mindestens 400000 Jahre ziemlich exakt zurückverfolgen, und es zeigt sich, dass sie zwischen extremer Hitze und extremer Kälte fluktuieren. Wir befinden uns in einer relativ warmen Phase, die bis vor Kurzem nicht wärmer als andere Wärmephasen war, die die Erde bereits durchgemacht hat. Doch zu meinem Erstaunen erfuhr ich bei einem Treffen zwischen dem Dalai Lama und einer Gruppe von Wissenschaftlern im Jahr 2002, dass der CO2-Gehalt der Atmosphäre in den vergangenen 44 Jahren sprunghaft um 18 Prozent angestiegen ist – auf das höchste Niveau der letzten 160 000 Jahre, gemessen am Kohlendioxidgehalt in Schneeproben in der Antarktis. Und der Spiegel steigt weiter, mit stetig zunehmender Geschwindigkeit.* Jahr für Jahr werden Hitzerekorde gebrochen.

Die dramatische und alarmierende jüngste Zunahme des CO2-Gehalts in der Atmosphäre ist einzig und allein auf menschliches Handeln zurückzuführen. Wenn diese Entwicklung anhält, wird sich der Anteil an Kohlendioxid in der Atmosphäre nach Vorhersage des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) bis zum Jahre 2100 verdoppelt haben, und in der Konsequenz dürften die globalen Durchschnittstemperaturen weltweit dramatisch ansteigen. Wie wir wissen, hat der Temperaturanstieg unter anderem zur Folge, dass es bereits jetzt im Sommer offenes Wasser am Nordpol gibt, dass das Eis beider Polarkappen immer mehr abschmilzt und die Gletscher weltweit rasch verschwinden. Die potenziellen Konsequenzen in Form einer Auslösung chaotischer Fluktuationen, die das Klima weltweit destabilisieren, sind besorgniserregend, wenn nicht gar erschreckend, und wir sehen die Folgen dieser Destabilisierung in den zunehmend schweren Stürmen, die auch auf unsere Städte treffen. Selbst wenn diese Prozesse an sich nicht vorhersehbar sind, so ist doch wahrscheinlich, dass es in relativ kurzer Zeit zu einem dramatischen Anstieg des Meeresspiegels kommen wird und die bewohnten Küstenregionen und Küstenstädte weltweit überflutet werden.

Wir könnten diese Temperaturveränderungen und Wettermuster als eines von vielen Symptomen einer Art „Autoimmunerkrankung der Erde“ bezeichnen, bei der ein Aspekt menschlichen Handelns das dynamische Gleichgewicht des „Körpers der Erde“ als Ganzes ernsthaft unterminiert. Ist uns das bewusst? Kümmert es uns? Ist es das Problem von irgendjemand anderem? Ist es „deren“ Problem, wer auch immer damit gemeint sein mag … die Naturwissenschaftler, die Regierungen, die Politiker, die Versorgungsbetriebe, die Autoindustrie? Ist es möglich, dass wir alle als Teil eines einzigen Körpers in Hinblick auf dieses Thema kollektiv zur Besinnung kommen, um wieder ein dynamisches Gleichgewicht herzustellen? Können wir das auch in Bezug auf andere Verhaltensweisen, mit denen wir als Spezies unser Leben und das der kommenden Generationen sowie auch das Leben vieler anderer Spezies auf Spiel setzen?

Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir dem Aufmerksamkeit schenken, was wir bereits wissen oder spüren – nicht nur was die äußere Welt unserer Beziehungen zu anderen und zu unserer Umwelt angeht, sondern auch was unsere eigenen Gedanken und Gefühle, Wünsche und Ängste, Hoffnungen und Träume betrifft. Wir alle, ganz gleich, wer wir sind und wo wir leben, haben einiges gemeinsam. Die meisten von uns eint der Wunsch, in Frieden zu leben, unseren eigenen Sehnsüchten und kreativen Impulsen nachzugehen und auf sinnvolle Weise zu einem größeren Zweck beitragen zu können. Wir möchten Zugehörigkeit empfinden, Wertschätzung dafür bekommen, wie wir sind, und als Individuen sowie Familien ein gutes Leben führen. Wir möchten in einer Gesellschaft leben, in der Sinnhaftigkeit und gegenseitige Achtung herrschen, wir wollen als Individuen in einem dynamischen Gleichgewicht leben, das man „Gesundheit“ nennt, und auch in einem kollektiven Gleichgewicht, das man früher „Gemeinwohl“ nannte. Es sollte ein Gleichgewicht sein, das unserer Verschiedenheit Rechnung trägt, unsere jeweiligen kreativen Potenziale fördert und uns die Möglichkeit eröffnet, frei zu sein von willkürlicher Gewalt und von dem, was unsere wichtigsten Lebensgrundlagen bedroht.

Ich glaube, dass sich ein solches kollektives dynamisches Gleichgewicht fast so anfühlen würde, als seien wir im Himmel – oder zumindest wie in einem behaglichen Zuhause. So fühlt sich Frieden an, wenn wir wirklichen Frieden erleben, im Innen wie im Außen. So fühlt es sich an, gesund zu sein. So fühlt sich wahres Glück an. Es ist, wie zu Hause zu sein, und zwar im tiefsten Sinne des Wortes. Ist es nicht das, was wir alle auf die ein oder andere Art wirklich wollen?

Ironischerweise ist ein solches Gleichgewicht jederzeit zum Greifen nah: in den „kleinen Dingen“, die in Wirklichkeit gar nicht so klein sind und nichts mit Wunschdenken, starrer oder autoritärer Kontrolle oder Utopien zu tun haben. Eine solche Balance ist bereits vorhanden, wenn wir uns auf unseren Körper und unseren Geist einstimmen, auf die Kräfte, die uns durch die Tage und Jahre vorwärtstragen, also auf unsere Motivation und unsere Vision dessen, wofür es sich zu leben lohnt und was getan werden muss. Sie ist vorhanden in den kleinen guten Taten des Alltags – innerhalb der Familie, aber auch unter Fremden, und in Kriegszeiten mitunter sogar unter angeblichen Feinden. Sie ist auch immer dann vorhanden, wenn wir unseren Müll recyceln, wenn wir Wasser sparen, mit anderen daran arbeiten, unsere Nachbarschaft lebenswerter zu machen, oder die vom Aussterben bedrohte Wildnis oder eine Spezies schützen, mit der wir die Erde teilen.

Wenn wir also unter einer Autoimmunerkrankung des Planeten leiden und die Ursache dieser Autoimmunerkrankung in den Taten und Bewusstseinszuständen der Menschheit zu suchen ist, dann sollten wir in Erwägung ziehen, was die Pioniere der modernen Medizin über den wirkungsvollsten Umgang mit solchen Erkrankungen zu sagen haben. In den letzten vierzig Jahren hat es umfangreiche Forschungen und klinische Erfahrungen im Bereich der sogenannten Geist-Körper-Medizin gegeben, in der Verhaltens-, der psychosomatischen, der integrativen und der Komplementärmedizin. Aus ihnen wird deutlich, dass das geheimnisvolle dynamische Gleichgewicht, das wir „Gesundheit“ nennen, sowohl vom Körper als auch vom Geist abhängt (wenn wir das Vokabular der merkwürdigen und künstlichen Spaltung, durch die wir diese beiden voneinander trennen, benutzen wollen) und dass es möglich ist, dieses Gleichgewicht durch spezifische Aufmerksamkeitsqualitäten, die unterstützend, erholsam und heilend wirken können, zu verbessern. Wie sich zeigt, haben wir alle tief in unserem Inneren das Potenzial zu einem dynamischen und lebenserhaltenden inneren Frieden und Wohlsein, zu einer vielseitigen, uns angeborenen Intelligenz, die weit über unser begriffliches Fassungsvermögen hinausreicht. Wenn es uns gelingt, diese Kapazitäten zu mobilisieren und weiterzuentwickeln, dann sind wir körperlich, emotional und spirituell gesünder. Und dazu noch glücklicher. Selbst unser Denken wird klarer, und wir werden weniger von Stimmungsschwankungen geplagt.

Diese Fähigkeit, aufmerksam zu sein und intelligent zu handeln, lässt sich mit der nötigen Motivation weit über unsere kühnsten Vorstellungen hinaus entwickeln. Es ist traurig, dass wir diese Motivation oft erst dann finden, wenn wir bereits lebensbedrohlich erkrankt sind oder einen Schock erlitten haben, der enorme körperliche und seelische Schmerzen hervorruft. Sie entsteht vielleicht erst, wie es bei so vielen der Patienten im MBSR-Programm unserer Stress Reduction Clinic der Fall war, wenn wir uns durch einen solchen Schock unsanft der Tatsache bewusst werden, dass die Möglichkeiten der sich auf moderne Technologie stützenden Medizin trotz ihrer bemerkenswerten Fortschritte doch äußerst begrenzt sind und vollständige Heilung eher selten vorkommt, dass Behandlungen oft bloß dazu dienen, den Status quo wiederherzustellen, falls es überhaupt eine wirksame Behandlung gibt, und dass selbst die Diagnose des Problems eine wenig exakte und nur allzu oft eine kläglich unzulängliche Wissenschaft ist.

Wie neuere Entwicklungen in der Medizin, der Neurowissenschaft und der Epigenetik gezeigt haben, kann man ohne Übertreibung sagen, dass es uns Menschen möglich ist, tiefe innere Kraftquellen anzuzapfen, die uns von Natur aus zu eigen sind: Ressourcen des Lernens, des Wachsens, der Heilung und der Transformation, die uns während unseres gesamten Lebens zur Verfügung stehen. Diese Fähigkeiten sind in unseren Chromosomen, Genen und Genomen angelegt, in unseren Gehirnen, Körpern und Geistern und auch in unseren Beziehungen zueinander und zu der Welt. Zugang zu ihnen bekommen wir immer nur von dem Punkt aus, an dem wir uns gerade befinden, nämlich „hier“, und in dem einzigen Augenblick, der uns zur Verfügung steht, nämlich „jetzt“. Wir alle haben das Potenzial zu Heilung und Transformation, ganz gleich, in welcher Situation wir uns befinden und ob diese Situation schon lange anhält oder erst kürzlich entstanden ist, ob wir sie als „gut“, „schlecht“, „unschön“, „hoffnungslos“ oder „hoffnungsvoll“ betrachten, ob wir die Gründe im Inneren oder im Außen vermuten. Diese inneren Ressourcen sind unser Geburtsrecht. Sie stehen uns während unseres ganzen Lebens zur Verfügung, da sie in keiner Weise etwas von uns Getrenntes sind. Es liegt in unserer Natur als Spezies, zu lernen, zu wachsen, heil zu werden und mehr Weisheit in unserer Sichtweise und in unseren Handlungen sowie mehr Mitgefühl mit uns selbst und anderen zu entwickeln.

Dennoch müssen diese Fähigkeiten erst einmal entdeckt, entwickelt und genutzt werden. Darin liegt die Herausforderung unseres Lebens: die Chance zu nutzen, aus den Augenblicken, die uns gegeben sind, das Beste zu machen. Nur allzu leicht vergeuden wir die kostbaren Momente unseres Lebens mit allem möglichen Kram, sei es beabsichtigt oder unabsichtlich. Doch es ist ebenso leicht, uns bewusst zu werden, dass uns im Leben nun einmal nicht mehr zur Verfügung steht als ebendiese Augenblicke, dass es ein Geschenk ist, wirklich darin gegenwärtig zu sein, und dass interessante Dinge geschehen, wenn wir es sind.

Diese lebenslange Herausforderung – die Entscheidung für das Lernen, Wachsen, Heilen und die Transformation in genau diesem Augenblick – ist zugleich auch das Abenteuer des Daseins. Hier beginnt der Weg zur Erkenntnis dessen, was wir wirklich sind, und dazu, unser Leben so zu führen, als käme es wirklich darauf an. Es zählt tatsächlich – viel mehr, als wir glauben mögen oder uns vorstellen können, und zwar nicht bloß im Hinblick auf unser eigenes Vergnügen oder unsere Leistung, auch wenn diese Erkenntnis unserer Freude, unserem Wohlbefinden und unserer Leistungsfähigkeit ebenfalls zugute kommt.

Dieser Weg zu mehr Gesundheit und geistiger Klarheit beginnt damit, dass wir die Ressourcen, die wir bereits besitzen, mobilisieren und weiterentwickeln. Die wichtigste davon ist unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, insbesondere für jene Aspekte unseres Lebens, um die wir uns bisher wenig gekümmert haben, von denen wir vielleicht sagen würden, dass wir sie schon eine gefühlte Ewigkeit ignorieren.

Wenn wir aufmerksam sind, kommen wir unserem Bewusstsein näher, jenem Aspekt unseres Daseins, der neben der Sprache das Potenzial unserer Spezies zum Lernen und zur Transformation ausmacht. Wir entwickeln und verändern uns, wir lernen und werden uns gewahr durch die direkte Wahrnehmung mittels unserer fünf Sinne in Verbindung mit der Kraft des Geistes, der im Buddhismus als ein eigenständiger Sinn betrachtet wird. Wir sind fähig wahrzunehmen, dass jeder einzelne Aspekt unserer Erfahrung innerhalb eines unendlichen Geflechts von Beziehungen existiert, von denen einige für unser unmittelbares und langfristiges Wohlergehen von großer Bedeutung sind. Zwar mögen wir viele dieser Beziehungen nicht sofort erkennen, und vielleicht handelt es sich dabei um bislang eher verborgene Dimensionen im Gefüge unseres Lebens, die noch der Entdeckung harren. Aber dennoch sind diese verborgenen Dimensionen – oder das, was wir „neue Grade der Freiheit“ nennen könnten – uns potenziell zugänglich, und sie werden sich nach und nach enthüllen, wenn wir unsere Fähigkeit zum bewussten Gewahrsein kultivieren und darin verweilen, indem wir unsere Aufmerksamkeit staunend und liebevoll auf das verblüffend komplexe und doch grundlegend geordnete Universum gerichtet halten, auf das Terrain – sei es die Welt, das Land, den sozialen Kreis, die Familie, den Körper, den Geist –, innerhalb dessen wir uns befinden und orientieren. All das ist auf allen Ebenen in einem ständigen Wandel und Fluss, ob wir uns dessen nun bewusst sind oder nicht, ob es uns gefällt oder nicht, und gibt uns somit unzählige und unerwartete Möglichkeiten, aufzuwachen und klarer zu sehen. Dann können wir wachsen, in unseren Handlungen mehr Weisheit verkörpern und das quälende Leid in unserem aufgewühlten Geist lindern, der für gewöhnlich so weit von seiner Heimat, von innerer Ruhe und Frieden, entfernt ist.

 

Diese Reise hin zu Gesundheit und geistiger Klarheit ist nicht weniger als die Einladung, zur Fülle unseres Lebens zu erwachen, solange wir noch Zeit dazu haben, statt dies erst, wenn überhaupt, auf unserem Totenbett zu tun. Davor hat uns schon Henry David Thoreau so eindringlich gewarnt, als er in Walden schrieb:

Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben.

Zu sterben, ohne wirklich gelebt zu haben, ohne zu unserem Leben erwacht zu sein, stellt eine stetige und ernste Gefahr für uns alle dar angesichts unserer automatisierten Gewohnheiten und des gnadenlosen Tempos, in dem sich die Dinge heutzutage entwickeln, viel schneller als noch zu Thoreaus Zeiten. Dazu trägt auch die Achtlosigkeit bei, die so oft unsere Beziehungen zu dem prägt, was uns vielleicht das Allerwichtigste im Leben, zugleich aber auch das am wenigsten Offenkundige ist.

Doch wie schon Thoreau uns rät, können wir lernen, uns in der uns innenwohnenden Fähigkeit zu weiser und offenherziger Aufmerksamkeit zu verankern. Er weist darauf hin, dass es sowohl möglich als auch äußerst erstrebenswert ist, das weite Gewahrsein in Herz und Geist zunächst zu kosten und dann darin zu verweilen. Wenn wir dieses Gewahrsein auf die richtige Weise kultivieren, kann es die Schleier unserer zur Routine gewordenen Gedankenmuster, Sinneswahrnehmungen und Beziehungen durchdringen und uns von ihnen sowie auch von den häufig sehr turbulenten und destruktiven Bewusstseinszuständen und Emotionen befreien, die mit ihnen einhergehen. Solche Gewohnheiten sind stets von der Vergangenheit bestimmt, nicht nur von unserem genetischen Erbe, sondern auch von unseren Erfahrungen: von Traumata und Ängsten, vom Mangel an Vertrauen und Sicherheit, von Gefühlen der Wertlosigkeit, die daher rühren, dass wir nicht gesehen und wertgeschätzt wurden, sowie von lange gehegtem Groll aufgrund alter Kränkungen, Ungerechtigkeiten oder ganz offensichtlichen und überwältigenden Verletzungen. Es sind diese Gewohnheiten, die heute unsere Sicht einschränken, unser Verständnis verzerren und uns, wenn wir uns ihnen nicht zuwenden, daran hindern, zu wachsen und heil zu werden.

Um zur Besinnung zu kommen, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne, sowohl im Großen und Ganzen als Spezies als auch im Kleinen als Individuum, müssen wir als Erstes zum Körper zurückkehren, zu jenem Ort, an dem unsere biologischen Sinne und das, was wir den „Geist“ nennen, lebendig sind. Der Körper ist etwas, was wir meist ignorieren, mitunter bewohnen wir ihn kaum, wir schenken ihm zu wenig Aufmerksamkeit und achten ihn nicht genug. Unser eigener Körper ist seltsamerweise eine Landschaft, die uns sowohl vertraut als auch erstaunlich fremd ist. Manchmal fürchten wir uns vor ihm oder verabscheuen ihn geradezu, je nachdem, was wir erlebt haben oder zu erleben fürchten. Dann wiederum sind wir völlig eingenommen von ihm; wir sind besessen von seiner Größe, seiner Form, seinem Gewicht, seinem Aussehen und laufen Gefahr, in unbewusste und anscheinend endlose Selbstverlorenheit und Narzissmus zu verfallen.

Wie wir aus den zahlreichen Studien wissen, die in den letzten vierzig Jahren im Bereich der Geist-Körper-Medizin durchgeführt wurden, ist es auf der Ebene des Individuums möglich, zu einem gewissen Ausmaß Frieden in Körper und Geist zu finden – und damit mehr Gesundheit, Wohlbefinden, Glück und Klarheit, selbst inmitten großer Schwierigkeiten und Herausforderungen. Mittels des MBSR-Ansatzes sind bereits Tausende zu dieser Reise aufgebrochen und haben berichtet, wie viel sie für sich selbst, aber auch für ihre Mitmenschen daraus gewinnen konnten. Es hat sich gezeigt, dass Aufmerksamkeit ein Weg ist, auf dem wir Zugang zu diesen verborgenen Dimensionen und diesen neuen Graden von Freiheit finden können, ein Weg, der nicht bloß einigen wenigen Auserwählten offensteht. Jeder kann sich auf diesen Pfad begeben und dort sehr vieles finden, was ihm nützlich ist und ihm wohltut.

Zur Besinnung kommen ist etwas, was keinerlei Zeit erfordert, einzig und allein unsere Präsenz und Wachheit hier und jetzt. Paradoxerweise ist es zugleich eine lebenslange Aufgabe. Man könnte sagen, dass wir uns dieser Aufgabe „für unser Leben“ widmen – in jedem denkbaren Sinne.

Wollen wir auf allen nur möglichen Ebenen zur Besinnung kommen, dann besteht der erste Schritt darin, dass wir Intimität mit unserem Bewusstsein an sich entwickeln. „Achtsamkeit“ ist ein Synonym für „Gewahrsein“. Meine Arbeitsdefinition von Achtsamkeit lautet: „das Gewahrsein, das entsteht, wenn man absichtsvoll aufmerksam ist, im gegenwärtigen Moment und ohne zu urteilen“. Sollten Sie einen weiteren guten Grund brauchen, ließe sich dem noch hinzufügen: „im Dienste der Weisheit, des Verständnisses für uns selbst und des Erkennens unserer intrinsischen Verbundenheit mit anderen und der Welt und somit auch im Dienste von Güte und Mitgefühl“. Achtsamkeit hat eine intrinsische ethische Dimension, wenn man versteht, was „ohne zu urteilen“ wirklich bedeutet. Ganz sicher bedeutet es nicht, dass Sie keine Urteile mehr haben sollen – Sie werden weiterhin jede Menge Urteile haben. Es ist vielmehr eine Einladung, sich mit den Urteilen zurückzuhalten, so gut Sie können, und sie einfach zu erkennen, wenn sie auftauchen, aber dann auch das Urteilen selbst nicht zu verurteilen.

Unsere Fähigkeit zu Gewahrsein und Selbsterkenntnis könnte man als die „ultimative Gemeinsamkeit auf dem Weg zu unserem eigentlichen Menschsein“ bezeichnen. Durch die Kultivierung von Achtsamkeit bekommen wir Zugang zu der Kraft und Weisheit unseres Gewahrseins. Und mittels Achtsamkeitsmeditation kann man Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise sorgsam und systematisch kultivieren, entwickeln und verfeinern.