Das große Littlejohn-Kompendium

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die mentale Entwicklung hängt somit im Hinblick auf Gutes oder Schlechtes bzw. auf Gesundheit oder Krankheit des Geistes von diesen erzieherischen Einflüssen unter Kontrolle des physiologischen Nervengewebes ab. Darin liegt der Schlüssel der osteopathischen Arbeit bei mentalen Krankheiten. Dieselben oder zumindest analogen Ursachen für körperliche Krankheiten können auch mentale Krankheiten hervorrufen, da sie eine Störung des neuronalen Mechanismus einschließen, der, wie eben gezeigt, die wesentliche physiologische Basis von Geist und mentaler Aktivität ist. Bewusstheit67 ist nicht das Produkt intrazellulärer Veränderungen, da uns selbst das Wissen um all die dort stattfindenden Prozesse keine Bewusstheit verschaffen würde. Manche haben eine Energie irgendeiner Art als Ursache für Bewusstheit identifiziert. Doch Energie bezeichnet eine physikalische Eigenschaft, durch die eine bestimmte Materie oder Materien die Fähigkeit zur Aktivität besitzen. Diese Aktivität hängt von aktiven Veränderungen in den konstitutiven Elementen ab. Betrachten wir das Nervensystem: Es besteht aus einer Verflechtung von Nervenmechanismen. Jeder Mechanismus konstituiert in seiner schlichten Form eine Aktivität, in der Bewusstheit auftritt. Entsprechend würde das gesamte Nervensystem aus psychischer Perspektive eine komplexe Folge bewusster Zuständen darstellen. Die Bewusstheit kann mithin nicht nur im Gehirn in seiner Gesamtheit existieren, sondern muss in allen einzelnen Nervenzellen präsent sein, die das Gehirn bilden. Hierauf beruhen auch Erinnerung und Gedächtnis.68 Die Impulse verlaufen zu den Nervenzellen im Gehirn, wo sie aufgrund ihrer Stärke eine lebendige Imprägnation der Zelle bewirken, sodass der Eindruck auch nach Ende der Stimulation abgerufen werden kann. Durch die konstante Wiederholung dieser Prozesse werden die Imprägnationen so eng mit dem Zellkörper verbunden, dass sie schließlich einen inhärenten Teil des Zelllebens ausmachen, von Generation zu Generation vererbt werden und so die physiologische Grundlage mentaler Intuitionen bilden. Intuitionen bezeichnen folglich Modifikationen des Gehirns unter dem Einfluss der mentalen Entwicklung im Kontext mit der Umwelt. Jedes Gehirn repräsentiert seine eigene Stufe des Fortschritts in der Evolution. Wirken sehr viele und stark variierende Eindrücke, stellen wir eine große Vielfalt bei den Zellveränderungen und eine entsprechende Vielfalt mentaler Phänomene fest. Sind diese Eindrücke derart in den Gehirnzellen fixiert, dass Stimuli von einem anderen Teil des Gehirns aus eine Reaktion hervorrufen können, treffen wir auf einen voll entwickelten mentalen Zustand. Die mentale Entwicklung impliziert eine rezeptive Fähigkeit der Nervenzellen und ebenso die aktive Operation dieser Zellen bei den molekular bedingten Veränderungen. Diese werden, basierend auf der selektiven Fähigkeit mittels Konzentration bzw. Ausschluss durch die Zellaktivität im Kontext besonderer Eindrücke und der Fähigkeit zu deren Assoziation reguliert. Jedes dieser Elemente gründet physiologisch im Zentralen Nervensystem, die Entwicklung des Gehirns und der mentalen Kultur hängen weitgehend von angemessener Ernährung, angemessener Bewegung und korrekter Anpassung aller seiner Teile auf der Grundlage der neuronalen Stabilität ab. Die Individuen unterscheiden sich in der ursprünglichen Struktur und Konstitution des Nervensystems voneinander, was die Grundlage für die individuell unterschiedlichen Grade an Intelligenz und psychischen Initiativen bildet. Obgleich Denken und mentale Aktivität nicht als Sekretionen bezeichnet werden können, wie Cabanis behauptete, ist Denken unmöglich und mentale Aktivität eine Absurdität, betrachtet man sie getrennt von jenen Nervenprozessen, die ihre Grundlage in den chemischen, physiologischen und vitalen Veränderungen besitzen und in den Nervenzellen stattfinden. Darin liegt das Geheimnis der osteopathischen Behandlung mittels Manipulation bei mentalen Krankheiten. Die Manipulation zielt auf den Aufbau von Stabilität bei den trophischen Zuständen, indem sie die normalen Beziehungen zwischen den Zellen anpasst, die Integrität und Einheit des Nervensystems aufrechterhält und alle Dislozierungen oder Fehlanpassungen von Knochen, Muskeln usf. korrigiert, welche die neuronale Irritabilität oder Leitungsfähigkeit, den Blutkreislauf und andere ernährende Zustände stören könnten, die für die neuronale Integrität und Kontinuität notwendig sind. Durch Beseitigen jener anomalen Prozesse und Zustände, die das Nervensystem beeinträchtigen, wird dieses als Medium der mentalen Aktivität befreit – und auf diese Weise kann die Vernunft an die Stelle der Geisteskrankheit treten.

Autosuggestion ist kein Prinzip der Osteopathie, obgleich es zweifellos bei der Behandlung rein mentaler Zustände verwendet werden kann. Die wissenschaftliche suggestive Theorie ist jedoch wie jedes rationale System ganz klar Teil der Osteopathie. Doch die Osteopathie betrachtet sowohl somatische wie auch mentale Krankheiten – und sie behandelt beide jeweils aus einer somatischen bzw. substanziellen Perspektive. Die osteopathische Therapie geht daher in gewisser Weise sowohl materiell als auch psychisch vor. Autosuggestion hat nichts mit der Therapie von Erkrankungen des Körpers zu tun, weil die osteopathische Behandlung sogar bei mentalem Widerstand ausgeführt werden kann. Die Materia medica ist rein physiologisch und mithin materiell, ohne jegliche Beziehung zu Spiritismus69 oder Christlicher Wissenschaft in irgendeiner Form. In meinem Institutslabor habe ich bewiesen, dass bei Versagen oder Überschießen der Herzfunktion keinerlei Medikamentengabe notwendig ist, um die Herztätigkeit therapeutisch anzuregen bzw. zu hemmen. Anhand des radialen oder karotiden Sphygmografen bzw. des Kardiografen mit dem aufzeichnenden Kymografen haben wir zeigen können, dass sich in dem Moment, in dem die Finger auf den pneumogastrischen Nerven platziert werden, die Herztätigkeit beschleunigt und dass sie sich bei Manipulation im oberen zervikalen Bereich, dort also, wo die vegetativen Herzzentren liegen, verlangsamt. Aufzeichnungen einiger dieser sowohl im Fall eines normalen als auch im Fall eines pathologischen Herzens durchgeführte Experimente sind aufbewahrt worden.

Diarrhö und Verstopfung werden durch jene Nerven des Rückenmarks kontrolliert und korrigiert, welche die ausscheidenden und peristaltischen Prozesse in den Därmen regulieren. Was die Stimulationsfähigkeit der verschiedenen Nerven anbelangt, scheint es eine Ökonomie der Natur zu geben. Beispielsweise lassen sich die dilatierenden Fasern leichter stimulieren als die kontraktilen Fasern des vasomotorischen Systems. Die kontraktilen Fasern sind konstant aktiv, die dilatierenden nur im Notfall. Erstere unterstützen zudem die Normalisierung in Bezug auf die Blutzufuhr. Diarrhö wird durch eine mechanische Irritation oder Behinderung hervorgerufen. Die verspannte vertebrale Muskulatur in diesem Bereich führt beispielsweise zur Irritation der vasomotorischen Nervi splanchnici, die die Viszera versorgen. Als Folge davon wird die Umkleidung der Därme, sowie deren Schleimhaut gestaut oder entzündet, was mit einer beschleunigten peristaltischen Aktivität verbunden ist. Aus physiologischer Sicht besteht die erregende Ursache in der verstärkten Irritabilität jener vasomotorisch wirksamen Nerven, die aus dem unteren thorakalen Rückenmark entspringen. Um die Störung zu beseitigen, wird ein hemmender Druck im Bereich der unteren thorakalen Wirbelsäule ausgeübt. Dies bewirkt den Aufbau einer ordentlichen Stoffwechsellage.

Heilung in der Osteopathie ruht also auf den natürlichen Mitteln für Gesundheit. Gesundheit hängt ihrerseits von der harmonischen Aktivität der unterschiedlichen Teile des Systems ab. Dies gilt aber nur, wenn die Teile frei von Irritation oder Störung aufgrund irgendeiner Ursache sind, sodass alle für das Leben wesentlichen Flüssigkeiten, Kräfte und Substanzen, frei und ununterbrochen zu jedem Teil des Körpers ohne Hemmung, Widerstand, Luxation oder Dislozierung jedweder Art fließen können. Das große Gesetz des Lebens besteht in der Harmonie. Disharmonie schließt Krankheit ein und führt schließlich zum Tod. Um diese Disharmonie zu entfernen, versucht der Osteopath, jene mechanischen Störungen, die einige der normalen Funktionen beeinträchtigen, herauszufinden und neu anzupassen, um dadurch der Natur zu ermöglichen, ihr Gleichgewicht wieder zu finden und dem Patienten Gesundheit zu verschaffen. Die meisten, wenn nicht alle Krankheiten haben eine direkte Beziehung zu einer mechanischen Ursache, und die einzige Behandlung für so eine primäre Läsion besteht in ihrer mechanischen Anpassung. Sobald sich der Zustand, wie bei vielen Krankheiten, durch das Vorhandensein von Mikroorganismen verkompliziert, favorisieren wir Hüppes gegenüber Kochs Theorie, welcher annimmt, bestimmte Krankheiten werden durch spezifische Keime verursacht. Krankheit bezeichnet aber keine Funktion des Keims, sondern des erkrankten Organismus. Normale Aktivität der organischen Zellen garantiert Gesundheit, anomale Aktivität hingegen ergibt Krankheit. Dementsprechend ist Krankheit das Ergebnis einer anomalen funktionellen Aktivität, die sich (1) aus bestimmten äußeren Gegebenheiten und (2) bestimmten inneren somatischen Gegebenheiten ergibt, worin das Vorhandensein der Bakterien eingeschlossen ist.

Bei den inneren Gegebenheiten handelt es sich aus unserer Sicht auch um die schon dargelegten Anomalien, die zu einem fehlernährten Zustand bestimmter Organe des Körpers führen. Diese Fehlernährung schafft erst die Voraussetzungen für bakterielle Ablagerung, Entwicklung und Ernährung. Sobald es eine Behinderung des freien Flüssigkeitskreislaufs und des freien Nervenstroms gibt, besteht ein idealer Nährboden für solche Keime, die sich zu vervielfältigen beginnen und auch toxische Substanzen ausscheiden. Die osteopathische Therapie versucht die mechanische Behinderung zu verringern, um zu verhindern, dass die Keime einen entsprechenden Kulturbereich vorfinden. Und sofern ein solcher bestanden hat, führt sie ein reiches Angebot frischen Blutes zu, dessen Leukozyten aktiv werden, um die Krankheitskeime zu zerstören. Frisches Blut, frische Lymphe und frische zerebrospinale Flüssigkeit stellen drei Antiseptika dar, die von der Natur dem Maschinisten zur Verfügung gestellt werden, um Mikroorganismen zu behandeln. Ebenso dienen sie dazu, eine ernährende Grundlage für die Wiederherstellung der normalen lokalen Ernährung zu bilden. Alle Entzündungskrankheiten stellen primäre Stauungszustände dar, die von einer Behinderung des arteriellen oder venösen Kreislaufs abhängen. Die Entfernung der Stauung schließt auch die Entfernung der mechanischen Ursache für die Behinderung des Kreislaufs ein.

 

Aus der diagnostischen Perspektive zielt die Osteopathie darauf ab, eine neue Wissenschaft der Diagnose zusätzlich zu den älteren Methoden der Diagnose durch Palpation, Auskultation und Perkussion zu entwickeln. Darin ist die Idee eines verfeinerten und sensitiven Tastens impliziert. Ein vollständiges Wissen über die normale und morbide menschliche Anatomie schließt das Wissen über das System aus der Perspektive eines ausgebildeten Tastsinns ein, damit eine richtige Unterscheidung zwischen dem Normalzustand und dem anomalen Zustand überhaupt möglich ist. Die Finger können durch Ausbildung durchaus so feinsinnig werden wie die eines Blinden, bei dem der Tastsinn den Sehsinn nahezu ersetzt. Als physiologische Grundlage für diese höchst verfeinerte Ausbildung des Tastsinns dienen die spezifischen Aktivitäten der winzigen Nervenfasern und neuromuskulären Organe in den Fingern. Allen Sinnen liegt das wesentliche Prinzip der Sensibilität zugrunde, sodass diese entsprechend spezialisiert werden kann. In Hinblick auf eine objektive Diagnose bezeichnet die ausgebildete Sensibilität des Tastsinns nicht nur ein neues und höchst wichtiges diagnostisches Mittel, sondern repräsentiert auch jenes materialisierende Prinzip der osteopathischen Diagnose, das sich von dem subjektiven diagnostischen Prinzip der Symptomatologie unterscheidet. Symptome sind stets mehr oder weniger physiologische Übertreibungen. Eine körperliche Untersuchung übertrifft insofern jegliche Form subjektiver Befundung, als nur objektive Tatsachen die wissenschaftliche Grundlage einer echten Diagnose bilden. Die Übung in dieser Methode der rein körperlichen Untersuchung ist fester Bestandteil jeder osteopathischen Ausbildung. Entsprechend ausgebildete Kliniker können so am normalen Körper den Umriss aller Organe, Wirbelbeziehungen, skelettalen Gelenkverbindungen usf. nachverfolgen. Im Rückenmark befinden sich assoziierte Organzentren, reflektorische Zentren und den primären Gehirnzentren untergeordnete Zentren, sodass der Maschinist diese Zentren der vitalen Aktivität im Kontext der Lebenskräfte bei Störungen und Erkrankungen neurologischer Ätiologie durch spinale Manipulationen erreichen kann.

Palpatorisch ist es leicht, eine vergrößerte Milz, einen dilatierten Magen, ein zusammengepresstes Kolon oder eine hypertrophe Leber zu diagnostizieren. Die Finger können entlang der Wirbelsäule Kontrakturen und empfindliche Stellen ausmachen, die wiederum auf Stauungszustände im Bereich des Rückenmarks und in anderen spinalen Bereichen hindeuten können. In der Gynäkologie sind die geschulten Finger in der Lage, die betroffenen Organe oder Teile genauestens einzuschätzen, wobei Vergrößerungen, Prolaps, Fleischwunden, Ulzerationen, hypertrophe und dichte oder erschlaffte Zustände der Musculi sphincter, beutelartige Dilatationen entdeckt werden, welche die katarrhalische Entzündung und das Fehlen von Tonizität an den Wänden der Ausscheidungsorgane begleiten.

Beim Blick in die Geschichte der Medizin drängt sich uns unweigerlich folgendes Sprichwort auf: „Denken ist das am wenigsten ausgeübte Vorrecht einer kultivierten Menschheit.“ Der Mensch ist mit den Meinungen verheiratet, die mit ihm auf die Welt kommen. Und doch ist es eine weise Vorsehung, sofern der fortschrittliche Geist vorwärts marschiert, dass die Wissenschaft zuerst den Beweis fordert, um Glauben beanspruchen zu können. Und außerdem muss der Menschheit bekannt gemacht werden, was wissenschaftlich bewiesen worden ist. Nur weil eine Anschauung als neu bezeichnet wird, heißt das noch lange nicht, dass sie falsch ist. Das Blut zirkulierte über lange Jahrhunderte auf die gleiche Weise, bevor Harvey die Philosophie seines Kreislaufs erklärte. Der menschliche Körper hat viele Katastrophen wie etwa die Pest überlebt. Wenn wir heute feststellen, dass der Körper in ein Netzwerk von Nerven verwoben ist, wodurch die gesamten Lebenskräfte des Körpers reguliert werden, und wenn wir zudem feststellen, dass in allen Geweben des Körpers zwei große Bahnen der Flüssigkeitszirkulation existieren, durch die Blut und Lymphe in die entferntesten Winkel des Organismus transportiert werden, beladen mit ernährenden Materialien für die Ernährung der Gewebe und den Abfall fortschaffend, der durch die Ernährungsprozesse hervorgerufen wird, dann ist es keine bloße Spekulation zu behaupten, dass diese Funktionen durch Manipulation der Nerven und Gefäße sicherer kontrolliert werden als wenn wir eine ungewisse Menge Medikamente mit unbestimmtem Potenzial in den Magen schütten – natürlich nur, wenn wir eine hervorragende Kenntnis besitzen von den leitenden und kontrollierenden Nerven, sowie von jenen Gefäßen, die für die Ernährung bestimmter Teile des Körpers verantwortlich sind, und von ihren Funktionen. „Die Natur besitzt gewiss eine wundervolle Kraft, die Sachen richtig zum Ziel zu bringen.“

Ich habe die Hoffnung, dass die medizinische Profession schnell sein wird beim Annehmen dieses neuen Kindes der Wissenschaft, dass sie sich aber Zeit lassen wird, bevor sie dessen Behauptungen lediglich deshalb anzweifelt, weil sie alteingeführten Sitten, Methoden und Theorien widersprechen. Keine Menschensparte ist je so schnell gewesen im Begrüßen des Guten, keine war aber auch so schnell bereit, die Darstellung eines Gedankens oder eines Prinzips abzulehnen, das möglicherweise die Theorien oder Dogmen der eigenen Profession zu Fall bringen oder stören könnte. Dies ist hauptsächlich bedingt durch die Tatsache, dass akademischer Neid der Profession eine medizinische Etikette aufgezwungen hat, die dazu führt, dass alles, was eine andere Schule hervorbringt, mit Missgunst betrachtet wird. Doch dieser überholte Neid und das traditionelle Verehren des Alten sind nun im Aussterben begriffen.70 Mit dem Expandieren der Wissenschaft und durch den Prozess intellektuellen Fortschreitens ist es in den Labors nicht mehr Usus, Loyalität gegenüber Althergebrachtem als Tugend anzusehen. Und wer tiefer in die Geheimnisse der Wissenschaft gräbt, erkennt, dass voreilige Schlussfolgerungen vergeblich sind, dass Wahrheit den einzigen offenen Weg zur Forschung darstellt und dass Loyalität gegenüber dem Richtigen und Wissenschaftlichen, sei es nun alt oder neu, das einzige Prinzip unserer Neuzeit ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Möge es auch so sein, wenn sich die Osteopathie vor der wissenschaftlichen Welt entfaltet und ihre Prinzipien wissenschaftlich entwickelt und systematisiert sind. Möge sie rasch erfasst und mögen ihre Prinzipien geduldig, beharrlich und in aller Klarheit entfaltet werden, um die Summe an menschlicher Gesundheit und damit auch an menschlichem Glück zu vergrößern. Bis dahin müssen wir, die wir den Wert dieser Prinzipien schon erkannt und schätzen gelernt haben, unsere Forschungen im Bereich der menschlichen Anatomie und Physiologie, in klinischen und labortechnischen Untersuchungen sowie in praktischen Demonstrationen fortsetzen in der Hoffnung, dass jeder noch so entfernte Winkel des Organismus so freigelegt wird, dass keiner übersehen kann, wie die Berührung und die Gegenwart der geschulten Hand das gesamte funktionelle Wohlbefinden des Körperorganismus grundlegend zu beeinflussen vermögen.


ABB. 13: JOHN M. LITTLEJOHN IN SEINEM BÜRO IN KIRKSVILLE (1899)

Littlejohn, wie man ihn kennt – unermüdlich studierend, forschend, redigierend.

7. FIEBER

Vorlesung vor Studenten an der A.S.O.. Journal of Osteopathy (VI), 1900, S. 471–478.

Wir möchten gleich zu Beginn betonen, dass zwischen Temperatur und Fieberzuständen klar unterschieden werden muss. Zweifellos hat Graves Recht, wenn er sagt:

„Im gesamten Spektrum menschlicher Leiden gibt es keine Krankheit, die so außerordentlich interessant und bedeutend ist, wie Fieber.“

Ob in höchst zivilisierten oder in wenig entwickelten Ländern, in urbanen oder in ländlichen Regionen, in Berggegenden oder in flachen Gebieten: Fieber kommt überall vor – und über kaum einen Zustand kursieren derart wirre Meinungen wie über diesen. Die alten Ärzte sagten: Essentia vero febrorum est praeter naturam calamitas71, weil man sie gelehrt hatte, ein Symptom allein zu betrachten. Hautwärme oberhalb der normalen, der Gesundheit entsprechenden Temperatur galt als synonym für jenen fiebrigen oder pathologischen Zustand, der zu Fieber gehört. Vor allem in solchen Fällen muss aber mehr Gewicht auf die Ätiologie als auf die Symptomatologie gelegt werden. Sogar der berühmte Virchow definiert Fieber als „[…] jenen Körperzustand, in dem die Temperatur über den Normalzustand steigt.“ Obgleich wir Virchows unangezweifelte Autorität als Pathologe ersten Ranges anerkennen, weigern wir uns, diese Definition zu akzeptieren, denn hier wird offensichtlich Wirkung mit Ursache und Physiologie mit Pathologie verwechselt.

Es kann durchaus zu einer über den Normalzustand hinausgehenden Temperaturabweichung nach oben kommen, ohne dass es sich dabei um Fieber handelt. Extreme Kälte oder Hitze, der man über längere Zeit ausgesetzt ist, ständiger Aufenthalt in tropischen Regionen, exzessives Essen oder Trinken – insbesondere von Stimulanzien – sowie exzessive und lang andauernde Bewegung können die Temperatur verändern, ohne notwendigerweise einen fiebrigen Zustand hervorzurufen. Freilich können derartige Temperaturzustände sich zu einem Fieberzustand entwickeln, und die erhöhte Temperatur kann die Existenz eines Fieberzustands offenbaren, falls ein solcher existiert. Es besteht jedoch keine unbedingte Korrelation. Wenn also das Thermometer einen Temperaturanstieg anzeigt, ist das noch kein zuverlässiges Anzeichen für Fieber.

Dr. Soullier berichtet in einer neueren Ausgabe des Lyon Medical von dem Fall einer jungen Frau unter 30, bei der über drei aufeinanderfolgende Tage ein Temperaturanstieg auf 43,8° Celsius festgestellt wurde, ohne dass Fieber oder ein verstärkter Puls bestand. Ohne irgendeine vorhergehende hysterische Krankengeschichte verfiel sie plötzlich in den Zustand eines narkoleptischen Schlafs. Dieser Schlaf zeichnete sich durch seine Tiefe aus, der Puls war normal, die Glieder waren entspannt und die Pupillen verengt. Es bestand keine anomale Hauttemperatur, doch die vaginale Temperatur betrug 42,7° Celsius. Die Patientin erhielt ein zehnminütiges Bad von 28° Celsius. Dadurch fiel die Temperatur zwar zunächst auf unter 40° Celsius, stieg aber danach bald wieder auf über 43,8° Celsius. Die Hautflächen fühlten sich noch heißer an als zuvor, der Puls betrug 84. Die Patientin erhielt ein weiteres, 15-minütiges Bad von gleicher Temperatur wie beim ersten Mal. Ihre Körpertemperatur fiel dadurch auf etwa 37,8° Celsius, stieg aber am nächsten Tag erneut, diesmal auf 44° Celsius, und hielt an, bis die Patientin nach einem 36-stündigen Schlaf erwachte. Als sie die Augen aufschlug, hatte sie das Problem vergessen, das dem Beginn des Anfalls vorausgegangen war. Damals bestand weder Fiebrigkeit, noch anomaler Harnzustand, lediglich ein leicht beschleunigter Puls. Am vierten Tag erhielt die Patientin ein drittes Bad mit der gleichen Temperatur wie zuvor, worauf hin ihre Körpertemperatur auf 41,1° Celsius fiel. Am sechsten Tag senkte sich die Temperatur und lag nun leicht unter dem Normalzustand. Soullier betrachtet dies als einen Fall von reiner Hyperthermie ohne irgendwelche anderen Fiebersymptome. Weitere interessante Fälle reiner Hyperthermie im Zusammenhang mit dem Beginn eines Anfalls von Blutspucken und bei Simulation von Schüttelfrost, Meningitis, Peritonitis hat Cuzin dargestellt.

Ist die Temperatur eine fiebrige, steht sie diagnostisch für einen Fieberzustand. Wie kommt es zu dieser erhöhten Temperatur? Sie hat zweifellos mit dem Fehlen der Nervenkontrolle zu tun, die unter physiologischen Bedingungen die Gewebe vor exzessiven Oxidationsprozessen schützt. Bei Fieberzuständen findet diese Nervenkontrolle nicht mehr statt oder sie verliert zumindest ihr Gleichgewicht, was zu einem Temperaturanstieg führt, der die Nervenregulierung zerstört oder stört. Was aber zerstört, hemmt oder stört diese Nervenkontrolle? Möglicherweise Bakterien oder deren Produkte, die sich in den Geweben befinden oder ins Blut und von dort in die Nervenzentren gelangen, die sie dann durch irritieren. Oder die Gewebe sind in einem Krankheitszustand, sodass die reflektorische Irritation dieses Gewebezustands die Nervenzentren beeinflusst. Auch Traumata und Läsionen können die Nervenkraft des Flüssigkeitskreislaufs abschneiden, wodurch die Gewebe in einen fehlernährten Zustand geraten, der in einer vergleichbaren reflektorischen Irritation der Nervenzentren resultiert. Man hat z. B. festgestellt, dass septische Abflüsse von Wunden, Abszessen usf., die von der Nervensubstanz absorbiert werden, einen Temperaturanstieg hervorrufen können und dass die direkte Verletzung eines Nervenzentrums eine Fiebertemperatur herbeiführen kann – ohne irgendeine äußere Ursache. In beiden Fällen stört die resultierende Temperatur die gesunde Balance des Lebens und kann den Körperorganismus später in einen Fieberzustand versetzen.

 

Bei normalen Körperzuständen wird die Temperatur bei 37° Celsius gehalten. Diese konstante Stabilität hängt vom thermotaktischen Mechanismus ab, der die Generierung und den Verlust von Wärme reguliert. Bei der Wärmeproduktion spielen Muskeln und Drüsen die wichtigste Rolle. Am Wärmeverlust sind dagegen verschiedene physische und physiologische Prozesse beteiligt: Wärme wird in den Körperfunktionen und -aktivitäten verbraucht und der Überschuss durch Verdampfung, Ableitung, Konvektion usf. aus dem Organismus ausgeschieden. Die Regulation dieser Prozesse und insbesondere die Balance von Produktion und Verlust stehen unter der Kontrolle des Nervensystems, womit die thermischen Zentren, die thermischen Fasern und möglicherweise weitere Nerven gemeint sind. In pathologischen Zuständen wird dieser thermotaktische Mechanismus auf vielerlei Art gestört. So kann etwa der Wärmeverlust gehemmt oder modifiziert sein, was zum Wärmestau führt. Oder die Wärmegenerierung ist – bei normalem oder vermindertem Wärmeverlust – gesteigert, was ebenfalls in einer Wärmeakkumulation resultiert. Vermehrte Wärmegenerierung und vermehrter Wärmeverlust können gleichzeitig bestehen, ohne dass dies eine wesentliche Temperaturveränderung bewirkt, obgleich es zu einem fiebrigen Verfall kommt. Oder der Wärmeverlust hat sich – ohne erhebliche Veränderung bei der Wärmegenerierung – erhöht, was zu einer subnormalen Temperatur führt.

Es gibt eine ganze Reihe physiologischer Temperaturschwankungen, wie etwa die maximalen und minimalen Tagesveränderungen, wobei Letztere die zwischen zwei bis vier Uhr morgens eintretende Ebbe des Lebens und Erstere die Aktivitätsperiode während des Tages darstellt. Diese und andere bereits erwähnte Zustände dürfen den pathologischen Veränderungen nicht zugeordnet werden. Abweichungen, die sich nicht auf einer physiologischen Basis erklären lassen, sind als pathologisch zu betrachten. Man hat verschiedene Stufen pathologischer Temperatur nachgewiesen – subnormale, normale, schwach fiebrige, fiebrige, hyperpyretische Temperatur sowie Kollaps. Was den Gefahrenpunkt anbelangt: Er hängt nicht nur vom Temperaturanstieg, sondern auch vom Stadium des pathologischen Zustandes bzw. der Krankheit sowie von deren Dauer ab. Wir befassen uns hier nicht mit den verschiedenen Typen von Fieber, weil diese von der Differenzialdiagnose abhängen.

Ein Temperaturanstieg allein, das dürfte aus dem Gesagten klar geworden sein, stellt kein Fieber dar. Wärmeerzeugung im Körperorganismus beruht nicht allein auf einer Zunahme der Gewebeveränderungen. Der Wärmeanstieg kann auch durch Kohlehydratoxidation entstehen. Aus physiologischer Sicht kann ein Temperaturanstieg erfolgt sein, ohne dass die Exkretionen, die einen verstärkten Gewebestoffwechsel darstellen, zugenommen haben. Der eigentliche Indikator für Fieber ist vielmehr die Modifikation des Wärmesteuerungsmechanismus.

Zu den Phänomenen eines Fieberzustands gehört in erster Linie der Abbau von Gewebe. Sogar dann, wenn das Fieber nicht hoch oder lang anhaltend ist, kommt es zu einem großen Gewebezerfall, was auch zu einer Blutveränderung führt, die ihrerseits eine Störung der Gewebeaktivität sowie Flüssigkeitsschwund bedingt, der sich z. B. in Durst und wenig Harn äußert. Ein weiteres Symptom für den Fieberzustand ist die gesteigerte Pulsfrequenz, verursacht durch den Temperaturanstieg und andere Veränderungen. Bei manchen Fieberzuständen, wie etwa Meningitisfieber, ist der Pulsschlag nicht erhöht. Die beschleunigte Pulsfrequenz lässt sich nicht vollständig mit der Zunahme arterieller Spannung und verstärkter Frequenz des Blutflusses erklären. In der Anfangsphase des fiebrigen Zustands ist für gewöhnlich ein heftiger, starker Puls bei großer arterieller Spannung feststellbar. Später tritt dann meist eine Entspannung ein und der Puls wird weicher. In diesem Zustand ist der Pulsschlag schnell, der schnelle Herzschlag drückt das Blut in die Arterien, ohne bei jedem Schlag die Kammer zu leeren, wodurch sich die Blutzufuhr verringert, obgleich Herz- und Pulsfrequenz erhöht sind. Diese geschwächte Herztätigkeit kann mit jenem Temperaturanstieg erklärt werden, der zum Gewebezerfall führt. Gleiche oder ähnliche degenerative Veränderungen finden in der Leber und in den Nieren statt, was zu einem geschwächten Rhythmus dieser Organe führt. Der verstärkte Herzschlag wird begleitet von einer verstärkten Respirationstätigkeit, bedingt durch die enge Korrelation von Herz und Lungen im Kontext der großen rhythmischen Regulationszentren im Gehirn. Die Beschaffenheit des Blutes bei Fieber vermag direkt auf die respiratorischen Zentren zu wirken, oder die toxischen Elemente im Blut rufen eine indirekte Reizung hervor.

Besonders beachten sollte man die zerebralen Phänomene. Neuronale Erregung und deliriöse Zustände weisen nämlich oft auf die Existenz von Reizzuständen hin. Dass dies nicht ausschließlich auf einem Temperaturanstieg zurückzuführen ist, sieht man schon daran, dass bei bestimmten Fiebern bereits eine Temperatur von 39,4° Celsius mit mentaler Störung oder komatösen Zuständen einhergeht, während eine Temperatur von 40,5° Celsius oder 41,1° Celsius diese Zustände zuweilen nicht hervorruft. Liegen entsprechende Fälle vor, sind sie gekennzeichnet von Benommenheit und mehr oder weniger auch von Erschöpfung und mentaler Trägheit wie bei Typhusfieber. Teils ist das bedingt durch die Wirkung der erhöhten Temperatur auf die großen Nervenzentren im Gehirn, teils aber auch durch die sedierende Wirkung im System verbliebener, in die Gehirnzirkulation gelangter toxischer Elemente auf diese Zentren. Bei einigen Fieberarten wie etwa Scharlachfieber tritt das Gegenteil ein, das heißt: Die Nervenzentren sind exzessiv stimuliert, was zu einem starken Herz- und Pulsschlag, rhythmischen muskulären Kontraktionen und gefährlichen Delirium-Formen führt. In der Mehrzahl der Fälle ist die Temperatur sehr hoch und die Haut gerötet. Sobald die Gehirnzentren erschöpft sind, neigt der Patient dazu, in einen komatösen Zustand zurückzufallen, und dem Koma können sogar Gehirnspasmen vorausgehen. Bedingt ist das zweifellos durch ein toxisches Element, welches in Kombination mit der gestiegenen Temperatur die Wärmeregulation sowie jene Funktionen stört, die speziell mit dem thermotaktischen Mechanismus verbunden sind.