James Bond 17: Der Kunstsammler

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Aus der Reihe: James Bond #17
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DAS HAUS AM BAYOU

Es stand verfallen und unbrauchbar auf dem einzigen festen Flecken Erde inmitten von Sumpfland. Der bayou floss um es herum und teilte sich dann, um sich seinen Brüdern anzuschließen und in den dunstigen grünen Sümpfen zu verschwinden.

Die nächstgelegene Stadt war knapp zehn Kilometer entfernt, und die wenigen Menschen, die in der Nähe dieses großen, wässrigen Sumpfs in den unteren Abschnitten des Mississippis lebten, hielten sich von dem schlammigen Ufer auf der anderen Seite des Hauses fern.

Sehr alte Menschen sagten, irgendein verrückter Engländer hätte das Haus in den 1820ern als großen Palast erbaut, von dem aus er den Sumpf zähmen wollte. Aber er kam nicht weit. Es gab Probleme mit einer Frau – in manchen Versionen war es mehr als eine Frau – und es hatte zweifellos Todesfälle gegeben, durch Fieber und Krankheit und auch durch Gewalt. In dem Haus spukte es eindeutig. Es gab unerklärliche Geräusche. Außerdem wurde es von etwas besonders Bösem beschützt: Es wurde von Schlangen bewacht, riesigen Schlangen von einer Art, die in anderen Teilen des Sumpfs nicht vorkam. Diese riesigen Schlangen – manche berichteten, sie seien bis zu neun oder sogar zwölf Meter lang – hielten sich nah am Haus auf, doch wie Askon Delville, der Besitzer des nächstgelegen Ladens, immer sagte: »Criton zumindest scheinen sie in Ruhe zu lassen.«

Criton war ein Taubstummer. Die Kinder liefen vor ihm davon und die Erwachsenen mochten ihn nicht. Aber da die großen Schlangen Criton in Ruhe ließen, ließ Askon Delville ihn ebenfalls in Ruhe.

Der Taubstumme kam einmal pro Woche mit einem Sumpffahrzeug herüber und lief dann die acht Kilometer mit einer Liste der notwendigen Dinge bis zu Askons Laden. Er holte die Waren ab, lief anschließend die acht Kilometer wieder zurück, stieg in sein Sumpffahrzeug und verschwand auf der anderen Seite des bayou.

Im Haus lebte auch eine Frau. Hin und wieder erhaschten die Leute einen Blick auf sie, und es bestand kein Zweifel daran, dass sie diejenige war, die die Liste anfertigte, mit der Criton in Askon Delvilles Laden auftauchte. Sie war natürlich eine Art Hexe, sonst wäre sie wohl kaum in der Lage, in einem solchen Spukhaus zu wohnen.

Die Leute achteten darauf, sich von dem Ort fernzuhalten, wenn die Versammlungen stattfanden. Sie wussten immer, wann es wieder eine geben würde. Askon teilte es ihnen mit. Er wusste es aufgrund von Critons Einkaufsliste. Am Tag einer Versammlung unternahm Criton für gewöhnlich zwei Touren, weil im Haus so viele zusätzliche Dinge benötigt wurden. Bei Einbruch der Dämmerung hielt man sich dann erst recht fern. Es gab Geräusche, Automobile, zusätzliche Sumpffahrzeuge und das Haus, so hieß es, war hell erleuchtet. Manchmal gab es auch Musik, und einmal, vor etwa einem Jahr, war der junge Freddie Nolan – der sich vor nichts fürchtete – mit seinem eigenen Sumpffahrzeug rausgefahren. Er war gut drei Kilometer stromaufwärts gefahren, denn er hatte vorgehabt, sich heranzuschleichen und ein paar Fotos zu machen.

Niemand hatte den jungen Freddie Nolan je wiedergesehen, nur sein Sumpffahrzeug war wieder aufgetaucht. Es war völlig zertrümmert gewesen, als hätte irgendein großes Tier – vielleicht eine Schlange – es erwischt.

In dieser Woche würde eine weitere Versammlung stattfinden.

Abgesehen von Criton und der Frau – die auf den Namen Tic hörte – sowie den monatlichen Besuchern wusste niemand, dass das Innere des Hauses so stabil wie das Stück Felsen war, auf dem man es erbaut hatte. Die alte, verrottende Stülpschalung an den Außenwänden war nur eine Hülle für das, was dahinter verbogen lag: Stein, Ziegel, Glas und Stahl, ganz zu schweigen von einer ordentlichen Portion Reichtum.

Diesen Monat waren elf Leute gekommen: zwei aus London, zwei aus New York, ein Deutscher, ein Schwede, ein Paar Franzosen, einer aus L. A., ein großer Mann, der jeden Monat den ganzen Weg von Kairo herkam, und der Boss. Der Boss hieß Blofeld, war jedoch in der Außenwelt unter einem anderen Namen bekannt.

Sie speisten prunkvoll. Später, nach Dessert und Kaffee, ging die ganze Gesellschaft in den Konferenzraum im hinteren Bereich des Hauses.

Der lange Raum war in einem zarten Hellgrün gehalten. Schwere farblich passende Vorhänge bedeckten die großen Verandatüren, durch die man auf die andere Seite des bayou hinaussehen konnte. Zu dem Zeitpunkt, als sich die Gesellschaft versammelte, waren die Vorhänge zugezogen. Mit Messingschirmen versehene Wandlampen leuchteten über den vier Gemälden, die die einzige Dekoration darstellten – zwei Jackson Pollocks, ein Miro und ein Kline. Bei dem Kline handelte es sich um eines der Kunstobjekte, die bei einer kürzlich durchgeführten Flugzeugentführung gestohlen worden waren. Das Gemälde gefiel Blofeld so gut, dass sie es ins Haus gebracht und nicht zum Verkauf angeboten hatten.

Ein polierter Eichenholztisch in der Mitte nahm den Großteil des Raums ein. Er war für elf Personen vorbereitet, einschließlich Schreibtischunterlagen, Getränken, Stiften, Papier, Aschenbechern und der Tagesordnung.

Blofeld begab sich ans Kopfende des Tisches, während die anderen zu ihren Plätzen gingen, die allesamt mit Namenskärtchen versehen waren. Sie setzten sich erst hin, nachdem sich der Boss niedergelassen hatte.

»Diesen Monat ist die Tagesordnung kurz«, begann Blofeld. »Es gibt nur drei Punkte: das Budget, das kürzliche Debakel an Bord von Flug BA 12 und die Operation, die wir HOUND nennen. Nun denn, Mr El Ahadi, das Budget bitte.«

Der Herr aus Kairo stand auf. Er war ein großer dunkelhäutiger Mann mit sehr attraktiven Gesichtszügen und einer honigsüßen Stimme, die einst viele junge Frauen bezaubert hatte. »Ich freue mich, verkünden zu können«, sagte er, »dass unsere Bankkonten in der Schweiz, in London und in New York selbst ohne die erhofften Einkünfte von Flug BA 12 jeweils vierhundert Millionen Dollar, fünfzig Millionen Pfund Sterling und einhundertfünfzig Milliarden Dollar enthalten. Die Gesamtsumme wird unseren Berechnungen zufolge für unsere derzeitigen Zwecke ausreichen. Und wenn die Operationen unserem Budget entsprechend erfolgreich sind – wie unser Boss es voraussagt –, können wir davon ausgehen, dass sich der Betrag innerhalb eines Jahres verdoppelt. Wie vereinbart werden sämtliche Gewinne, die über unsere ursprüngliche Investition hinausgehen, gleichmäßig aufgeteilt.« Er schenkte den Anwesenden sein charmantestes Lächeln, und die versammelte Gesellschaft lehnte sich entspannt zurück.

Blofelds Hand landete hart auf dem Tisch. »Sehr gut.« Ein kratzender Unterton hatte sich in die Stimme geschlichen. »Aber der Fehlschlag unseres Überfalls auf Flug 12 ist unentschuldbar. Vor allem nach einer so gründlichen Vorbereitung Ihrerseits, Herr Treiben.« Blofeld warf dem deutschen Abgesandten einen angewiderten Blick zu. »Wie Sie wissen, Herr Treiben, haben andere Vorstandsmitglieder von SPECTRE unter ähnlichen Umständen den ultimativen Preis bezahlt.«

Treiben, ein dicklicher und rosiger Mann, einer der Bandenchefs der westdeutschen Unterwelt, wurde schlagartig blass.

»Allerdings«, fuhr Blofeld fort, »haben wir einen anderen Sündenbock. Es mag Ihnen nicht bekannt sein, Treiben, aber wir haben endlich Ihren Mr de Luntz erwischt.«

»Ah?« Treiben rieb sich die Hände und erwiderte, er habe ebenfalls nach Mr de Luntz Ausschau gehalten. All seine besten Männer hätten erfolglos nach de Luntz gesucht.

»Ja, wir haben ihn gefunden.« Blofeld strahlte und klatschte so laut in die Hände, dass es wie ein Pistolenschuss klang. »Und da wir ihn gefunden haben, denke ich, dass er sich nun zu seinen Freunden gesellen sollte.« Die Vorhänge vor den großen Fenstern glitten lautlos auf. Gleichzeitig wurden die Lichter im Raum gedimmt. Draußen vor dem Fenster wirkte die unmittelbare Umgebung taghell. »Ein Infrarotgerät«, erklärte Blofeld, »damit sich die Wächter dieses Hauses nicht vor dem Licht fürchten. Ah, hier kommt auch schon Ihr Mr de Luntz.«

Ein kahlköpfiger, ängstlich wirkender Mann in einem schmutzigen, zerknitterten Anzug wurde direkt vor das Fenster geführt. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und seine Füße waren ebenfalls gefesselt, sodass er in Critons Griff vorwärtsschlurfte. Seine Augen zuckten wild hin und her, als würde er die Dunkelheit nach einem Ausweg vor etwas Undefiniertem, aber offensichtlich Schrecklichem absuchen.

Criton führte den Mann zu einem Metallpfahl, der sich nur ein paar Meter von dem massiven Glasfenster entfernt befand. Im Inneren des Hauses konnten die Beobachter nun sehen, dass von den Fesseln an de Luntz’ Handgelenken ein kurzes Stück Seil hing. Criton befestigte das Seil am Pfahl, drehte sich um, lächelte in Richtung des Fensters und verschwand dann außer Sichtweite.

Sobald Criton fort war, erklang von der anderen Seite des Fensters ein dumpfes Pochen, und der Gefangene wurde von einem Metallgitter aus Wirbelsturmschutzzäunen umschlossen, die an einem schweren Gerüst befestigt waren. Das Gitter bildete drei Seiten und ein Dach, wodurch es wie ein kleines quadratisches Eishockeytor aussah. Die offene Vorderseite befand sich fast am Rand des Wassers, das etwa drei Meter vom Fenster entfernt ans Ufer schwappte.

»Was hat er getan?«, fragte einer der Amerikaner. Es war Mascro, der weißhaarige, onkelhafte Mann aus Los Angeles.

»Er war die Unterstützung für BA 12. Er hat seinen Kameraden nicht geholfen«, höhnte Treiben.

»Mr Mascro«, Blofeld hob eine Hand, »de Luntz hat uns genau erzählt, was passiert ist. Wie die anderen zu Tode kamen und wer dafür verantwortlich war. Ah, einer der Wächter hat Mr de Luntz entdeckt. Ich wollte schon immer mal sehen, ob eine Riesenpython einen Mann komplett verschlingen kann.«

 

Die Vorstandsmitglieder von SPECTRE standen am Fenster und beobachteten das Schauspiel mit Faszination und Entsetzen. Die Infrarotvorrichtung gewährte ihnen ein klares, taghelles Bild. Außerdem konnten sie hören, wie das unglückliche Opfer zu schreien begann, als es das Reptil entdeckte, das von den hohen Schilfrohren in der Nähe des sumpfigen Ufers aus auf es zukroch.

Die Python war riesig, mindestens neun Meter lang, mit einem fetten, festen Körper und einem gewaltigen dreieckigen Kopf. De Luntz, der am Pfahl festgebunden war, begann sich zu winden. Er wollte sich befreien, doch plötzlich schoss die Python vor und wickelte sich um ihn.

Die Kreatur bewegte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit und umschloss de Luntz’ Körper wie eine gewaltige Kletterranke. Es schien nur noch eine Frage von Sekunden zu sein, bis der Kopf der Python auf einer Höhe mit dem seines Opfers sein würde – die beiden eng umschlungenen Gestalten schwankten hin und her, als befänden sie sich in einem obszönen Todestanz. De Luntz’ Schreie wurden immer gequälter, während die Python ihren Kopf auf eine Höhe mit dem Gesicht des Mannes brachte. Das zahnbewährte Maul schnappte in wütender Erregung. Das Reptil und seine Beute schauten sich ein paar Sekunden lang in die Augen. Die Zuschauer konnten deutlich erkennen, wie der Würgegriff der Python um den Körper des Mannes immer enger wurde.

Dann wurde de Luntz schlaff und das Paar fiel zu Boden. Einer der Zuschauer, der sich mit den anderen sicher hinter dem Fenster befand, keuchte laut auf. Die riesige Schlange löste sich mit drei schnellen Bewegungen ihres langen Körpers von dem Mann und begutachtete nun ihre Mahlzeit. Zuerst schnappten die Kiefer nach dem Seil und zerrten es los. Dann bewegte sich die Schlange auf die Füße des Opfers zu.

»Das ist wirklich erstaunlich.« Blofeld stand sehr nah am Fenster. »Sehen Sie nur, wie die Schlange seine Schuhe abzieht.«

Nun drehte sich die Python herum, bis ihr Kopf auf einer Linie mit den Füßen des Mannes war. Das Reptil zog sich zusammen, bevor es seine Kiefer unglaublich weit öffnete und sie um die Knöchel der Leiche schloss.

Der gesamte Vorgang dauerte fast eine Stunde, doch die Gruppe im Haus blieb fasziniert stehen und beobachtete alles wie hypnotisiert. Die Python schluckte ein paar Mal ruckartig und hielt nach jeder Anstrengung reglos inne, bis auch die letzten Überreste von de Luntz verschwunden waren. Dann lag die von dieser Anstrengung völlig erschöpfte Schlange ruhig da. Ihr langer Körper war enorm aufgebläht, sodass die Zuschauer deutlich die Umrisse des zerdrückten menschlichen Körpers ausmachen konnten, der sich nun im Inneren der Schlage befand.

»Eine interessante Lektion für uns alle.« Blofeld klatschte erneut in die Hände. Die Vorhänge glitten wieder zu und die Lichter gingen an. Nachdenklich kehrte die Gruppe an den Tisch zurück. Ein paar der Anwesenden waren blass und angesichts dessen, was sie soeben beobachtet hatten, sichtlich erschüttert.

Der Deutsche, Treiben – der de Luntz zu Lebzeiten gut gekannt hatte –, war am tiefsten betroffen. »Sie sagten«, begann er mit zitternder Stimme, »Sie sagten, de Luntz hätte gesprochen, bevor … bevor …«

»Ja.« Blofeld nickte. »Er hat gesprochen. Er hat ganze Arien gesungen. Pavarotti hätte es nicht besser machen können. Er sang sogar sein eigenes Todesurteil. Offenbar befanden sich an Bord von Flug BA 12 einige Personen, die uns erwartet haben. Wir müssen noch herausfinden, ob jemand geredet hat oder ob mittlerweile alle Risikoflüge beschützt werden.

Anfangs lief der Plan perfekt wie ein Uhrwerk. Die Frau hat großartige Arbeit geleistet, indem sie sich für diesen Flug einteilen ließ und die Rauchbomben und Waffen an Bord schmuggelte. Der Angriff fand pünktlich statt, auf die Sekunde genau, daran besteht kein Zweifel. De Luntz hatte allerdings eine Ausrede parat, warum er nicht daran teilnahm. Er behauptete, im hinteren Bereich des Flugzeugs festgesessen zu haben. Wie es scheint, befanden sich fünf Wachleute an Bord. De Luntz’ Beschreibung zufolge handelte es sich bei ihnen allen um Mitglieder des britischen Special Air Service.« Blofeld hielt inne und schaute jeden Mann der Reihe nach an. »Abgesehen von einem.«

Die Männer rund um den Tisch warteten. Eine gewisse Erwartungshaltung lag in der Luft.

»Die Neuorganisation dieser großartigen Gesellschaft, der wir alle angehören«, fuhr der Boss fort, »hat sehr lange gedauert. Wir befanden uns im Winterschlaf. Nun wird die Welt bald erkennen, dass wir erwacht sind. Wir werden uns besonders um einen alten Feind kümmern müssen, der meinem erlauchten Vorgänger ein ständiger Dorn im Auge war. Mr de Luntz – Gott hab ihn selig – identifizierte vier der Sicherheitsbegleiter in diesem Flugzeug als mögliche verdeckt arbeitende SAS-Männer. Außerdem identifizierte er eindeutig den fünften Mann – denjenigen, der, wie ich hinzufügen darf, den größten Schaden angerichtet hat. Ich habe de Luntz persönlich befragt. Meine Herren, unser alter Feind James Bond befand sich an Bord dieses Flugzeugs.«

Die Gesichter rund um den Tisch verhärteten sich. Alle wandten sich Blofeld zu.

Mascro war schließlich derjenige, der sprach: »Wollen Sie, dass ich einen Auftragsmörder auf ihn ansetze? Früher, als Ihr …«

Der Boss unterbrach ihn: »Das wurde bereits versucht. Nein. Keine Auftragsmörder, keine Spezialisten, die nach London geschickt werden. Ich habe noch eine persönliche Rechnung mit Mr Bond offen. Meine Herren, ich habe eine Methode entwickelt, um mit ihm fertigzuwerden – wenn Sie so wollen, können Sie es als einen Köder bezeichnen. Wenn es funktioniert ‒ und ich wüsste keinen Grund, warum das nicht der Fall sein sollte ‒, werden wir schon bald das Vergnügen haben, Mr Bond auf dieser Seite des Atlantiks in unserer Gesellschaft begrüßen zu dürfen. Ich beabsichtige, genauso mit ihm zu verfahren, wie dieses Reptil mit dem eigensinnigen de Luntz verfahren ist.«

Blofeld hielt inne und schaute sich am Tisch um, um sicherzustellen, dass sich alle auf das derzeitige Thema konzentrierten.

»Schon bald«, fuhr Blofeld fort, »werden wir voll und ganz mit der Planung dessen beschäftigt sein, was wir zum aktuellen Zeitpunkt aus Sicherheitsgründen als HOUND bezeichnen.«

Der Boss lachte. »Ironisch, nicht wahr? Eine nette Idee, von hound zu reden. Das Wort habe ich dem christlichen Gedicht ›The Hound of Heaven‹ entnommen.« Das Lachen hatte sich in ein Lächeln verwandelt. »Der Jagdhund des Himmels, oder eher die Jagdhunde des Himmels, nicht wahr? Jagdhunde … Wölfe. Das passt gut, da unser Ziel Amerikas große Bedrohung ist. Die Wölfe des Weltalls umrunden den Erdball bereits in Rudeln und warten darauf, sich auf ihre Opfer zu stürzen und sie zu zerreißen – und mittendrin Bond. Dieses Mal wird SPECTRE Mr James Bond vom Erdboden tilgen.«

Alle Anwesenden murmelten zustimmend, bevor Blofeld einen Blick auf eine kleine goldene Armbanduhr warf und erneut das Wort ergriff. »Tatsächlich sollte mein Köder mittlerweile geschluckt worden sein. Bald, meine Herren, bald werden wir James Bond von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Und das Schöne daran ist, dass er nicht wissen wird, wem er hier begegnet oder was ihn eigentlich erwartet.«


BETTGEDANKEN

Liebevoll betrachtete James Bond Ann Reillys Gesicht, das auf dem Kissen neben ihm lag und im Schlaf ruhig und wunderschön aussah. Das glatte und glänzende blonde Haar war um ihr ovales Antlitz herum zerzaust. Für eine flüchtige Sekunde erinnerte sie Bond an Tracy – mit der er nur ein paar Stunden verheiratet gewesen war, bevor Ernst Stavro Blofeld sie auf der Autobahn von München nach Kufstein zu Beginn ihrer Flitterwochen so gnadenlos erschossen hatte.

Ann Reilly – ein Mitglied von Bonds eigenem Service, Assistentin des Waffenmeisters und stellvertretende Leiterin der Q-Abteilung – war bei allen im großen Hauptquartiergebäude am Regent’s Park als Q’utie bekannt. Es war ein passender Spitzname für die elegante, hochgewachsene, sehr effiziente und emanzipierte junge Dame.

Nach einem etwas holprigen Start waren Bond und Q’utie Freunde und, wie sie es gern bezeichnete, »gelegentliche Liebhaber« geworden. Dieser Abend war in zwei Abschnitte aufgeteilt gewesen. Zuerst die Pflicht – das Überprüfen und Abfeuern von Bonds neuer persönlicher Handfeuerwaffe, der Heckler & Koch VP70. M und der Waffenmeister hatten entschieden, dass nun alle Offiziere des Service diese Waffe tragen würden.

Bond hatte Einspruch erhoben. Immerhin hatte er sich seine Handfeuerwaffe bisher für gewöhnlich selbst aussuchen dürfen und war mehr als verärgert gewesen, als man seine zuverlässige Walther PPK 1974 aus dem Dienst genommen hatte. Bei seiner letzten Mission war er ernsthaft dafür kritisiert worden, dass er eine alte, aber dennoch höchst effiziente Browning benutzt hatte. Auf seine eigene sture Weise hatte 007 für seine persönlichen Rechte gekämpft – ein Verhalten, das Q’utie sehr befürwortete. Schließlich war sie eine Verfechterin des Feminismus, was per Definition bedeutete, dass sie sich auch für gewisse männliche Rechte einsetzte. Doch Ms Wort war Gesetz, also hatte der Waffenmeister dafür gesorgt, dass seiner Entscheidung Folge geleistet wurde, und Bond hatte schließlich die VP70 erhalten.

Obwohl die VP70 sehr viel größer als die Walther war, musste Bond zugeben, dass die Waffe kein Problem darstellte, wenn es darum ging, sie heimlich bei sich zu tragen. Sie fühlte sich mit ihrem längeren Griff und der gleichmäßigen Gewichtsverteilung gut an. Außerdem war sie sehr zielgenau und tödlich – 9 mm, mit einem Magazin für achtzehn Kugeln und der Fähigkeit, halbautomatische Dreifachschüsse abzugeben, wenn man sie mit dem leichteren Schaft ausstattete.

Es bestand kein Zweifel daran, dass sie auch eine beträchtliche Mannstoppwirkung besaß. In den vergangenen Tagen hatte Bond zwischen den langen Sitzungen mit Ms Stabschef, seinem alten Freund Bill Tanner, in denen es um die Flugzeugentführungen und die Identität der Terroristen gegangen war, eine Menge Zeit damit verbracht, sich mit seiner neuen Pistole vertraut zu machen.

Und auch an diesem Abend war 007 von siebzehn bis neunzehn Uhr dreißig auf dem unterirdischen Schießstand gewesen und hatte mit der Expertin Q’utie einige Übungen zum schnellen Ziehen und Feuern durchgeführt.

Fast vom ersten Augenblick seiner Zusammenarbeit mit Q’utie an hatte Bond Respekt für ihre enorme Professionalität entwickelt. Sie kannte sich zweifellos mit ihrer Arbeit aus, angefangen bei der Waffentechnik bis hin zu den komplexen Geheimnissen der Elektronik. Dennoch war sie überaus weiblich.

Als sie an diesem Abend auf dem Schießstand fertig gewesen waren, hatte Ann Reilly ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie bis zum nächsten Morgen zur Verfügung stand, sofern Bond nichts anderes vorhatte.

Nach einem gemeinsamen Abendessen in einem kleinen italienischen Restaurant – das Campana in der Marylebone High Street – war das Paar zurück in Q’uties Wohnung gegangen, wo sie sich mit einer Wildheit geliebt hatten, als würde ihnen die Zeit davonlaufen.

Die körperliche Anstrengung hatte selbst die agile Q’utie erschöpft. Sie schlief fast sofort nach ihrem letzten langen und zärtlichen Kuss ein. Bond hingegen blieb hellwach. Die angestaute Nervosität der vergangenen paar Tage und das, was Bill Tanner herausgefunden hatte, sorgten dafür, dass sein Geist stets wachsam war.

Die BA-12-Terroristen waren allesamt zu einer Figur des deutschen Untergrunds zurückverfolgt worden, die sich auch in politischer und Wirtschaftsspionage versuchte: ein gewisser Kurt Walter Treiben. Sogar die Stewardess hatte, wie mittlerweile bewiesen war, einige Strippen gezogen, um diesem speziellen Flug zugeteilt zu werden. Obwohl sie seit fast drei Jahren für British Airways arbeitete, gab es in ihrer Vergangenheit ebenfalls Verbindungen zu Treiben.

Am verstörendsten waren jedoch die letzten Worte des sterbenden Terroristen sowie die Tatsache, dass Treiben einst ein Mitarbeiter des berüchtigten Ernst Stavro Blofeld gewesen war, dem Gründer und Anführer der ursprünglichen multinationalen Organisation SPECTRE.

 

Weitere Ermittlungen verstärkten ihre Sorge. Nach all den Flugzeugentführungen konnte man nun sechs Männer eindeutig identifizieren. Zwei von ihnen waren bekannte Gangster, die auf der Gehaltsliste von Michael Mascro standen, dem größten Kriminellen von Los Angeles. Ein weiterer konnte mit Kranko Stewart und Dover Richardson in Verbindung gebracht werden, zwei »Fixern« und Gangstern aus New York. Zwei arbeiteten ausschließlich für Bjorn Junten, den schwedischen Experten für unabhängige Geheimdienstarbeit, dessen privater Spionagedienst dem höchsten Bieter stets offenstand. Der sechste identifizierte Mann hatte mit den Banquette-Brüdern aus Marseille zu tun – einem Schurkenpaar, gegen das sowohl die französische Polizei als auch der französische Geheimdienst (der Service de Documentation Extérieure et de Contre-Espionage) seit zwanzig Jahren belastende Beweise suchte.

Wie der Deutsche, Treiben, hatten die Auftraggeber der identifizierten Männer – Mascro, Stewart, Richardson, Junten und die Banquette-Brüder – ihre eigenen persönlichen Verbindungen zu Ernst Stavro Blofeld und SPECTRE.

Es konnte nur eine Schlussfolgerung geben: SPECTRE existierte noch und agierte wieder.

Bond zündete sich eine seiner speziellen Zigaretten mit geringem Teergehalt an, die früher Morlands in der Grosvenor Street für ihn hergestellt hatte und die nun – nach endlosen Diskussionen und einigen umgangenen Vorschriften – von H. Simmons in der Burlington Arcade produziert wurden: dem ältesten bekannten Zigarettenhersteller Londons. Sie hatten sogar eingewilligt, die charakteristischen drei goldenen Ringe auf jeder der speziell angefertigten Zigaretten beizubehalten – zusammen mit ihrem eigenen Markenzeichen –, und Bond fühlte sich mehr als nur ein wenig geehrt, dass er der einzige Kunde war, der Simmons zu personalisierten Zigaretten überreden konnte.

Bond blies den Rauch Richtung Decke, da Q’utie neben ihm immer noch tief und zufrieden schlief, und dachte an die anderen Frauen, die in seiner Karriere beim Service eine so entscheidende Rolle gespielt hatten: Vesper Lynd, die im Tod wie eine steinerne Statue auf einem Grab gewirkt hatte; Gala Brand, die nun Mrs Vivian war, drei Kinder hatte und in einem hübschen Haus in Richmond lebte (sie schickten sich gegenseitig Weihnachtskarten, aber er hatte sie nach der Sache mit Drax nie wiedergesehen); Honey Rider; Tiffany Case; Domino Vitale; Solitaire; Pussy Galore; die herrliche Kissy Suzuki; seine letzte Eroberung, Lavender Peacock, die mittlerweile mit großem Erfolg ihr schottisches Anwesen verwaltete. Trotz der warmen und aufrichtigen Zuneigung, die Ann Reilly selbst im Schlaf ausstrahlte, tobte Bonds Verstand. Wieder und wieder richteten sich seine Gedanken auf Tracy di Vicenzo – Tracy Bond.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Bond sein Gedächtnis verloren hatte. Doch die Experten hatten ihn aus der Dunkelheit des Unwissens zurückgeholt, und nun sah er Ernst Stavro Blofelds letzte Augenblicke klar und deutlich vor sich – Blofeld in seinem grotesken japanischen Todesschloss mit dem giftigen Garten: der letzte Kampf, als Bond viel zu schlecht ausgerüstet gewesen war, um es mit dem großen Mann aufzunehmen, der sein tödliches Samuraischwert schwang. Und doch hatte er es geschafft, dank der größten Gier nach dem Blut eines anderen Mannes, die er je verspürt hatte. Selbst jetzt verspürte Bond noch einen Schmerz in seinen Daumen, wenn er zu lange an Blofeld dachte: Er hatte den Mann mit bloßen Händen erwürgt.

Ja, Blofeld war tot, aber SPECTRE lebte weiter.

Bond drückte die Zigarette aus, drehte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Als endlich die willkommene Dunkelheit sein Bewusstsein verschluckte, fand James Bond immer noch keine Ruhe. Er träumte, und seine Träume handelten von seiner geliebten verlorenen Tracy.

Er schreckte aus dem Schlaf auf. Ein Lichtschimmer fiel durch die Vorhänge. Als er sich umdrehte, um einen Blick auf die Rolex auf dem Nachtisch zu werfen, stellte Bond fest, dass es fast Viertel vor sechs war.

»Spät ins Bett, früh wieder einsatzbereit«, sagte Q’utie kichernd und schob eine Hand unter die Bettdecke, um ihrem Witz eine Pointe zu verleihen.

Bond schaute zu ihr hinunter und ließ ein einnehmendes Lächeln aufblitzen. Sie griff nach oben, küsste ihn, und sie machten genau dort weiter, wo sie in der vergangenen Nacht aufgehört hatten, bis das Piepen von Bonds Pager sie unterbrach.

»Verdammt«, keuchte Q’utie. »Können die dich denn nie in Ruhe lassen?«

Bond griff nach dem Telefon und erinnerte sie in bissigem Tonfall daran, dass sie selbst ihn in der vergangenen Woche drei Mal wegen geschäftlicher Angelegenheiten über seinen Pager kontaktiert hatte. »Es gibt nie einen richtigen Zeitpunkt«, sagte er und lächelte lustlos, während er die Nummer des Hauptquartiers wählte.

»Transworld Export«, meldete sich die Stimme des diensthabenden Schaltbrettmitarbeiters.

Bond identifizierte sich. Es gab eine Pause, dann erklang Bill Tanners Stimme: »Sie werden gebraucht. Er war die halbe Nacht über hier und will Sie so schnell wie möglich sehen. Etwas sehr Großes ist im Gange.«

Bond schaute zu Q’utie. »Bin schon auf dem Weg«, sagte er in den Hörer. Dann legte er auf und erzählte ihr, was Bill Tanner ihm gerade mitgeteilt hatte.

Sie schob ihn aus dem Bett und sagte ihm, er solle mit dem Angeben aufhören.

Bond rasierte sich murrend – hauptsächlich, weil er kein anständiges Frühstück bekommen würde – und zog sich an, während Ann Reilly Kaffee machte.

Der silbern glänzende Saab stand draußen vor dem Wohnhausblock. Er hatte ihn erst kürzlich zurückbekommen, nachdem er sowohl von Saab als auch von der Sicherheitsfirma, die Bond privat ausstattete, überholt worden war. Die Sicherheitsfirma hatte die besondere Technologie in den turbobetriebenen Wagen eingebaut. Er beschleunigte mühelos innerhalb von Sekunden.

Es herrschte wenig Verkehr, und er brauchte nur zehn Minuten in einem entspannten Fahrstil – das Auto reagierte auf Bonds Füße und Hände wie das Vollblut, das es war –, um zu dem großen Gebäude am Regent’s Park zu gelangen. Dort nahm Bond den Aufzug in den neunten Stock und marschierte direkt in Ms Vorzimmer, wo Miss Moneypenny niedergeschlagen an ihrem Schreibtisch saß.

»Guten Morgen, Penny.« Bond fühlte sich zwar ein wenig erschöpft, zog für seine alte Flirtpartnerin aber trotzdem eine Schau ab.

»Vielleicht ist er für Sie gut, James. Aber ich war die halbe Nacht wach.«

»Wer nicht?« Ein Blick vollendeter Unschuld.

Moneypenny schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Der Gerüchteküche zufolge waren Sie dabei in der Gesellschaft einer hübschen jungen Frau aus der Q-Abteilung, James. Also schätze ich, dass Ihr Herz wohl bereits einer anderen gehört.«

»Penny«, Bond ging auf Ms Tür zu, »ich habe nur ein Herz. Und das gehörte schon immer Ihnen. Sie können es haben, wann immer Sie wollen.«

»Das hätten Sie wohl gerne«, schoss Moneypenny mit mehr als nur einem Hauch Verärgerung zurück. »Sie sollten besser reingehen, James. Er hat mir aufgetragen, Sie sofort zu feuern, sobald Sie hier ankommen. Seine Worte.«

Bond zwinkerte ihr zu, richtete seine Royal-Navy-Krawatte, klopfte an Ms Tür und trat ein. M sah müde aus. Das war das Erste, was Bond auffiel. Das Zweite war die junge Frau – klein, wohlproportioniert, athletisch, aber mit einem zweifellos weiblichen Lächeln und dunklem Haar, das zu einer dichten Lockenmähne frisiert war.

Sie begegnete Bonds Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Irgendetwas an ihren großen braunen Augen kam ihm bekannt vor, als hätte er die Frau schon einmal gesehen oder getroffen.

»Kommen Sie rein, 007«, sagte M. Seine Stimme klang gereizt. »Ich glaube nicht, dass Sie dieser Dame je zuvor begegnet sind, aber sie ist die Tochter eines alten Freunds von Ihnen. Commander James Bond, das ist Miss Cedar Leiter.«