Mein Leben - Meine Musik

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Aus der Reihe: Musiker-Biographie
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Die Musik war eine Sache, die Texte eine andere – und beides ist mir praktisch schon immer wichtig gewesen. Mein Dad und ich saßen einst zusammen im Auto und unterhielten uns über einen Song mit dem Titel „Big Rock Candy Mountain“. Uns beiden gefiel das Stück, und er versuchte, es mir zu erklären. Der Ort, der darin beschrieben wurde, hörte sich richtig prima an. Dann kamen wir zu einer Passage, in der „little streams of alcohol“ erwähnt wurden. Ich fragte meinen Dad: „Was soll das heißen? Was ist Alkohol?“ Er antwortete, dass es sich dabei um etwas handele, das Erwachsene gerne tränken. Er meinte: „Und dann gleich ein ganzer Fluss davon! Das wäre ein Spaß! So wie ein Fluss, der aus Limonade bestünde!“

Es war schon irgendwie ironisch: Da erkundigte ich mich bei einem Typen nach der Bedeutung von „Alkohol“ – und später sollte ich herausfinden, dass er viel zu viel davon konsumierte. So wie später ich ja übrigens auch.

Meine Eltern hatten sicherlich beide großen musikalischen Einfluss auf mich, aber vielleicht meine Mom sogar noch ein bisschen mehr, weil ich viel mehr Zeit mit ihr verbrachte. Meine Mom spielte sogenanntes ­Stride-Piano – das war ein Klavierstil, bei dem die linke Hand einen Akkord auf eine Bassnote folgen ließ, während die rechte Hand die Melodie und mitunter auch Synkopen spielte. Das war cool, eine Art Boogie-Woogie. Ihr Spiel war einigermaßen schlampig, was gut dazu passte. Es klang ganz schön abgefahren. Meine Mom spielte Klavier und sang „Shine On, Harvest Moon“, und manchmal begleitete ich sie. Das war bereits nach der Trennung meiner Eltern. Wenn man ein aufmüpfiges, etwas rebellisches Kind ist, macht man manchmal eben mit und dann wieder nicht, weil man es für uncool hält. Doch „Shine On, Harvest Moon“ ist immer noch eines meiner Lieblingslieder. Eine der besten Versionen stammt aus dem Film In der Fremdenlegion, in dem es Oliver Hardy singt. Diese Interpretation fand ich sehr inspirierend. Stan Laurel tanzte dazu. Das musikalische Arrangement war typisch für den Stil der Dreißigerjahre, doch Oliver Hardy sang eher bluesig dazu. Er klang richtig gut! Obwohl der restliche Film eher Slapstick war, war dies eine ernste Szene, über die keiner lachte. Zumindest sah ich das so. Für mich war das Kunst.

In unserem Haushalt waren wir fünf Jungs. Da ging es drunter und drüber, und eigentlich wundert es mich, dass keiner von uns im Knast von St. Quentin landete. Es wäre nicht so abwegig für uns gewesen, in schlechte Gesellschaft zu geraten. Doch letztlich hielten uns unsere Eltern – besonders meine Mom ‒ auf Kurs. Wann immer ich Gefahr lief, vom Weg abzukommen, griff meine Mom ein.

Wir gehörten meiner Meinung nach zur unteren Mittelschicht. Meine Mom war ein umgänglicher Mensch. Nach der Scheidung meiner Eltern machte sie ihren Abschluss als Lehrerin und hatte es fortan in erster Linie mit emotional oder sogar geistig beeinträchtigten jungen Menschen zu tun. Sie kannte sich richtig gut mit diesem Zeug aus. Ich sage „dieses Zeug“ dazu, weil wir Jungs eigentlich keine Ahnung hatten, welcher Arbeit unsere Mom nachging. Ihr Arbeitsplatz befand sich auf der anderen Seite der Bucht in South San Francisco, weshalb sie schon früh am Morgen aufbrach und erst am Abend wiederkam. So verbrachten wir viel Zeit allein und entwickelten uns auch ganz gut, wie ich finde.

Ich weiß gar nicht, wie sich meine Eltern kennenlernten. Sie lebten beide zuerst in Great Falls in Montana und zogen von dort aus nach Kalifornien, in die Bay Area. Meine Mutter Lucile war in Montana geboren. Ein cooler Ort übrigens, dieses Montana. Meine Eltern unterhielten sich mitunter über Stechmücken, die so groß waren, dass sie selbst die mit Fliegengitter versehene Haustür öffnen und sich hereinlassen konnten.

Um 1959 herum ‒ es war vor oder nach der neunten Klasse ‒ nahm mein Dad meine Brüder Dan und Bob und mich mit auf einen Ausflug nach Montana. Wir hielten an einem Bahnübergang, mein Dad streckte seinen Arm aus und sagte: „John, sieh dir diesen Zug an. Züge sind schon etwas Schönes. Und bald gibt es sie nicht mehr.“ Ich glaube, er meinte die Dampflok. Ich verstand ihn: dass es schade wäre, wenn diese Ära enden sollte. Mein Dad stand auf Züge. Ich denke, er ist ziemlich oft mit der Bahn gefahren. In meiner Familie heißt es, er sei als Hobo mit ihr bis nach Kalifornien gereist.

Mein Vater Galen Robert Fogerty stammte aus North Dakota und wuchs entweder auf einer Ranch oder einer Farm auf. Er hatte irische Vorfahren, und wie mir erzählt wurde, war entweder sein Vater oder sein Großvater vor der Großen Hungersnot nach England geflohen. Unser Familienname schrieb sich einst „Fogarty“, aber da es damals so viele Vorurteile gegen Iren gab, änderten sie den Namen in „Fogerty“. Na ja, mir kommt das ungefähr so sinnvoll vor, als änderte man seinen Namen von „Smith“ in „Smythe“.

Auch England erwies sich als ungeeignet, deshalb zogen sie nach Amerika. Als Kind und Jugendlicher war mir die Sache mit der irischen Abstammung sehr wichtig – Kobolde, der Topf mit dem Gold, der irische Whiskey – und mir fiel bald auf, dass die Iren ziemlich gut darin waren, in einem Pub rumzusitzen und sich ein Pint zu genehmigen.

Die Herkunft meiner Mom lässt sich dagegen bis zur Mayflower zurückverfolgen. Ihr entfernter Verwandter und Vorfahr William Gooch stammte aus England und war der erste Gouverneur Virginias. George Washington stammte aus Goochland County. Mir gefiel es, dass unsere Wurzeln so weit in die Geschichte unseres Landes zurückreichten. Nach einer Familienlegende sind wir sogar mit Daniel Boone verwandt. In einer anderen Version ist es Davy Crockett.

Mein Dad arbeitete bei der Berkeley Gazette. Passend zu seiner Liebe zu Zügen und allen anderen schönen Dingen, die aus der Mode kamen, bediente er dort eine Linotype-Setzmaschine. Dann nahm er noch einen zweiten Drucker-Job an, weshalb sein Arbeitstag länger als acht Stunden dauerte. In anderen Kreisen, zu anderen Zeiten hätte er als belesener Mann gegolten. Obwohl ich glaube, dass mein Dad in Montana das College abgeschlossen hat, reichte das damals nicht zu einem besseren Job mit mehr Geld oder einem höheren Lebensstandard für uns. Das mag sich selbstsüchtig anhören, aber so meine ich es gar nicht.

Mein Dad war ein Träumer. Er schrieb Geschichten. Außerdem besaß er in den Vierzigerjahren eine Filmkamera, mit der er unsere Familie filmte. Ich besitze immer noch ein paar dieser Aufnahmen – und zeige sie mittlerweile sogar während meiner Konzerte. Dad montierte die Filme an seinem Schneidetisch. Jedoch filmte er auch Geschichten über eine Figur namens „Charlie the Chimp“. Mein Vater schrieb außerdem eine Geschichte über die Entdeckung des Pluto. Diese könnte sogar in Reader’s Digest erschienen sein. Ich glaube, das war seine bedeutendste Veröffentlichung.

In späteren Jahren identifizierte Dad sich ernsthaft mit Ernest Hemingway. Er hatte denselben weißen Bart und schlohweißes Haupthaar. Im Haus lagen Manuskripte herum. Ich denke, mein Vater hätte das Zeug zum Schriftsteller gehabt, aber er konnte es nie beweisen. Solche Leute gibt es viele. Sie sind künstlerisch veranlagt, wissen jedoch nicht, an wen sie sich wenden sollen, damit ihre Arbeiten veröffentlicht werden. Dad bekam es nicht auf die Reihe, ein berühmter Autor zu werden – oder zumindest einer, der für seine Mühen entlohnt würde. Er war sehr smart und lebte im Augenblick. Als ich drei oder vier Jahre alt war, spielte ich ein kleines Spiel, das er selbst erfunden hatte. Es war durchaus pädagogisch wertvoll und bestand aus kleinen, kreisrunden Scheiben. Auf jeder dieser Scheiben standen ein Buchstabe und eine Zahl. Außerdem waren die Scheiben in unterschiedlichen Farben gehalten. So erlernte ich das Alphabet, wie man zählt, sowie die Namen der einzelnen Farben. Das war eine ziemlich coole Idee! Rückblickend wundere ich mich, wieso er nicht Millionen Dollar damit verdienen konnte. Er traf aber einfach nie auf die richtigen Leute. Vielleicht hat er es gar nicht versucht. Und so gab es dieses Spiel nur bei uns zu Hause.

Wie gesagt, Dad war ein Träumer. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, darüber einen Song zu schreiben. Schon als 14-Jähriger dachte ich mir: „Dad ist einfach nicht praktisch veranlagt. Es gelingt ihm nicht, seine Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Er kümmert sich nicht darum.“

Ich bin selbst ein Träumer, daher weiß ich, dass das eine gute Sache sein kann. Aber in Bezug auf mein eigenes Leben war es mir wichtig, Träume auch in die Tat umzusetzen. Das Los eines Träumers ist, dass er niemals die Goldmine finden wird. Statt ihm sind das immer irgendwelche Säcke wie Rupert Murdoch. Oder auch Saul Zaentz, wenn wir schon dabei sind. Was mich anging, so wollte ich beides. Ich wollte träumen und gleichzeitig versuchen, erfolgreicher zu sein.

Allerdings war mein Dad auf viele andere Arten erfolgreich. Er brachte uns Kindern etwa die Natur näher. Dad liebte es zu campen und sich im Freien aufzuhalten. Zwar lernte ich nicht wirklich von ihm, wie man fischt, doch wollte ich es seinetwegen lernen. Außerdem las er uns, als wir noch klein waren, Geschichten vor, die für seine fünf Jungs sowohl cool als auch informativ waren. Seine Lieblingsgeschichten waren „The Shooting of Dan McGrew“ und „The Cremation of Sam McGee“ von Robert Service. Geschichten vom Yukon und von Goldgräber-Camps. Eine der besten Szenen in „Sam McGee“, die ich nie vergessen werde, war jene mit dem Typen, dem so kalt war. Er erfror, und da Feuerholz rar war, verheizten sie ihn. Ein wenig später dann öffnen sie die Ofentür, um noch ein paar Holzscheite nachzulegen, und der Typ ruft ihnen zu: „Hey, könnt ihr noch was drauflegen, mir wird langsam kalt hier drinnen!“ Ich fand das einfach cool.

Manchmal fuhren wir nach Davis, Dixon oder in andere Kleinstädte oben im kalifornischen Central Valley. Ich weiß noch, wie wir einmal am Unabhängigkeitstag in Dixon waren. Da gab es ein Feuerwerk, Klettergerüste, Schaukeln und Unmengen grünes Gras. Wenn man die Interstate 80 noch weiter entlangfuhr, kam man zum Giant Orange Stand, der tatsächlich wie eine große Orange aussah, und zum Milk Farm Restaurant. Orte wie diese boten ein herzliches, glückliches und gemütliches Ambiente. Meine Eltern liebten solche Orte und weckten auch bei mir dieselbe Zuneigung zu ihnen. Ich liebe interessante amerikanische Kleinstädte, diesen idyllischen Lebensstil – oder wie er zumindest auf Außenstehende wirken mag. Beinahe wie auf einem Gemälde von Norman Rockwell.

 

Ein paar meiner schönsten Erinnerungen verbinde ich mit Putah Creek. Das war ein Wildfluss in der Nähe von Winters im Norden Kaliforniens. Meine Familie fuhr praktisch jeden Sommer dorthin. Insgesamt waren wir in meiner Kindheit sicher in fünf oder sechs aufeinanderfolgenden Sommern dort. Putah Creek war ein malerischer, gemächlich dahinfließender kleiner Fluss. Wir übernachteten in einer kleinen Hütte, an die ich mich mitsamt ihrer grünen Holztür gerne erinnere. Ich weiß gar nicht, warum sie so wichtig für mich war. Wir mieteten sie von einem Typen namens Cody, der ungefähr 75 Jahre alt, groß und sehr hager war und einen Hut trug. Mir wurde gesagt, es handele sich bei ihm um einen direkten Nachfahren von „Buffalo Bill“ Cody.

Nicht weit von der Hütte entfernt hing ein Seil von einem Baum über einer flachen Stelle des Flusses. Es gibt noch Filmmaterial davon, wie wir Brüder uns hinaus aufs Wasser schwangen und uns fallen ließen. Mein Dad half uns, aus Y-förmigen Zweigen und Gummibändern, die er aus dem Innenleben eines alten Autoreifens herausschnitt, Steinschleudern zu basteln. Nie hieß es „Damit kannst du jemanden das Auge herausschießen!“ oder „Macht ja nicht die Fenster damit kaputt!“ Es gab dort so viel Platz. Nur Wälder und Unterholz. Und kaum einmal ein Auto. Man musste einen recht langen Weg zurücklegen, um auf andere Menschen zu treffen. Wir wanderten den ganzen Tag durch die Gegend. Einmal stieß ich dabei sogar auf ein altes, verfallenes Haus, in dem niemand mehr wohnte.

Die Luft war auch sehr gut dort. Wenn ich allerdings heute einatme und daran zurückdenke, dann denke ich nicht an das Gras oder den klaren Himmel. Mein Dad hatte nämlich einen Kanister mit Insektenvertilgungsmittel, an den er eine Pumpe montiert hatte, um so gegen die Stechmücken vorgehen zu können. Das Gift hatte einen ganz speziellen Geruch, ein wenig wie Farbverdünner. Ich kann mich jedenfalls sehr gut daran erinnern.

In Winters habe ich auch schwimmen gelernt – indem mich nämlich meine Brüder herausforderten, den Kopf unter Wasser zu stecken. Eines Tages lernte ich auch, wie man auf dem Rücken im Wasser treibt. Ich war schon früh auf, und der Rest der Familie schlief noch. Ich trieb bis ans andere Flussufer. Ich glaube, in der Flussmitte war das Wasser so tief, dass ich nicht stehen hätte können. Als mein Dad aus der Hütte kam und mich auf der anderen Seite des Flusses erspähte, drehte er komplett durch. Ich hatte sogar ein wenig Angst, er werde mich schlagen.

Hin und wieder fuhr Dad mit uns nach Winters rein. Es gab dort einen kleinen Lebensmittelladen, der derselben Familie gehörte, die auch den Schnapsladen und die Tankstelle betrieb. Mein Dad gab mir dann etwas Kleingeld, von dem ich mir eine Limo kaufen konnte. Üblicherweise mit Orangen-Geschmack. Oder auch Vanille. Oder Limone.

Junge, wie habe ich mich immer auf Putah Creek gefreut. Einmal, als mein Bruder Bob noch ein Baby war, stand im Raum, zur Abwechslung mal nach Los Angeles zu fahren. Mein Dad meinte: „Wir werden das Baby entscheiden lassen.“ Auf einen kleinen Zettel schrieb er „Winters“ und auf ein anderes Stück Papier „Los Angeles“. Dann ließen sie Baby Bobby loskrabbeln, damit er eine Entscheidung herbeiführen konnte. Zuerst hielt er auf „L.A.“ zu. Das gefiel mir gar nicht. Schließlich krallte er sich aber doch noch das Papier, auf dem „Winters“ geschrieben stand – und wir alle jubelten auf! So glücklich waren wir darüber, wieder nach Winters zu fahren.

Nachdem wir irgendwann aber doch nicht mehr hinfuhren, dachte ich sogar schon als Kind mit ein wenig Wehmut an unsere Urlaube dort zurück. Ich war regelrecht besitzergreifend in Bezug auf Winters und Putah Creek. In meiner Vorstellung gehörten sie mir. Es war mein Urlaubsort, mein spezielles, kleines Refugium. Dort fühlte ich mich jedenfalls immer pudelwohl. Das mag zuallererst daran gelegen haben, dass meine Eltern dort entspannt waren – so wie wenn sie gemeinsam sangen.

Die Dinge ändern sich; mitunter verändern sie sich stark, und nur Bruchstücke dessen, was einst wichtig war, bleiben zurück. Manchmal können wir die besten Dinge auch nur in unserem Kopf bewahren. In jenen Tagen fuhr Dad uns irgendwann einmal hoch auf einen Hügel hinauf, von wo aus wir die kleine Stadt Monticello beobachten konnten. Er sagte: „Eines Tages wird das alles unter Wasser stehen.“ Ich hatte keinen blassen Dunst, was er damit meinte. Wie sollte das denn vonstattengehen? Würden die Menschen dann unter Wasser herumspazieren? Ich denke aber, dass sich Dad auf diese Weise von unserem idyllischen Putah Creek verabschiedete. Irgendwann wurde der Fluss tatsächlich aufgestaut. Heute bedeckt die Gegend der große, von Menschenhand geschaffene See Lake Berryessa. In den Siebzigerjahren bin ich mal mit dem Motorrad dorthin gefahren, und ich glaube, dass ich den Platz ausmachen konnte, wo einst unsere Hütte stand. Es war alles total überwuchert, jede Menge Büsche und Holzüberreste. Die eigentliche Hütte konnte ich aber nicht mehr finden, da sie schon vor langer Zeit eingestürzt sein dürfte.


MEINE MOM SCHRIEB MICH an einer katholischen Grundschule in Berkeley ein. Sie hieß School of the Madeleine – oder auch School of the Mad, wie wir Schüler sie gerne nannten. Sie lag ein paar Kilometer entfernt, was sich nicht nach einem sonderlich langen Schulweg anhört. Jedoch weiß ich noch, dass es jedes Mal eine halbe Stunde oder länger dauerte, dorthin zu gelangen. Oft rannte ich am Morgen aus dem Haus, nur um den Schulbus doch noch knapp zu verpassen. Unsere Lehrerin war eine 20-jährige Nonne namens Schwester Damien. Auch für sie war es das erste Jahr. Sie war eigentlich noch ein Mädchen, und ihr Weg durch das Schuljahr war gepflastert mit unerfreulichen Episoden. Schwester Damien war einfach überfordert. Irgendwann wurde uns mitgeteilt, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten habe.

Einmal war sie so sauer auf die Klasse, dass sie uns alle nachsitzen ließ: „Ihr dürft nicht nach Hause. Ihr müsst alle auf euren Plätzen bleiben, und ich will keinen Mucks von euch hören.“ Da kommt plötzlich dieser kleine Zweitklässler mitsamt einem Putzfetzen herein und fängt pflichtbewusst an, das Podium, auf dem das Pult unserer Mutter Oberin thronte, zu polieren. Er ist so beschäftigt, dass er nicht mitbekommt, dass die ganze Klasse noch dasitzt. Schwester Damien verpasst ihm einfach so eine Ohrfeige. Zack! Das war bezeichnend für die Atmosphäre in der Klasse.

Um zur Schule zu kommen, musste ich allein zwei Blocks bis zur Bushaltestelle in der Colusa Avenue gegenüber dem Sunset View Cemetery gehen. Dann ging es den ganzen Weg die Solano Avenue hinauf. Wenn wir oben in Albany angekommen waren, machte uns der Busfahrer darauf aufmerksam, dass wir nun umsteigen müssten. Von dort ging es dann mit der Bahnlinie F nach Berkeley und zu meiner Schule weiter. Ihr dürft nicht vergessen, dass ich damals gerade erst einmal die erste Klasse besuchte. Ich war also erst sechs Jahre alt!

Jeden Morgen versammelten sich die Schüler um 8 Uhr auf dem Schulhof, von wo wir dann – zu den Klängen John Philip Sousas – in unsere Klassenzimmer marschierten. Wenn ich den Bus um 7.05 Uhr verpasste, verspätete ich mich. Das passierte leider ziemlich oft. Den Schulhof umgab ein Maschendrahtzaun, und das Tor wurde pünktlich um acht Uhr geschlossen, weshalb ich über den Zaun klettern musste, um überhaupt am Unterricht teilnehmen zu können.

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits über eine Stunde unterwegs. Wenn es dann ungefähr halb neun war, kam es des Öfteren zu einem Zwischenfall – immer und immer wieder. Okay? Ich hob den Arm und sagte: „Schwester, ich müsste mal zur Toilette.“ „Nicht jetzt“, sagte sie. Danach ignorierte sie mich. Noch einmal, das war kein einmaliger Vorfall. Es kam vielmehr so oft vor, dass man schon von einer regelmäßigen Begebenheit sprechen kann.

Ich saß also da in meiner aus einem blauen Hemd und grauer Cord-Hose bestehenden Schuluniform und stocherte mit dem Bleistift in den Spalten auf meinem Pult herum. Ach, wie ich mich wand. Ich fühlte mich wie Alan Shepard in seiner Raumkapsel: „Houston?“ „Ja, Alan?“ „Ich muss pinkeln, ist das in Ordnung?“ „Hmm, wir melden uns bei dir.“ Man reißt sich zusammen und dann kann man es nicht mehr halten. Schließlich gibt man alle Benimmregeln auf, und dann ist es auch schon zu spät. Und dann hofft man darauf, dass es keiner bemerkt. Aber Kenny Donaldson tat es und rief: „Schwester Damien! Unter John Fogertys Pult ist eine Pfütze!“ Und nicht einmal da nahm sie Notiz von mir. Ich musste bis zur Pause sitzen bleiben. Wenn dann die Pause begann, musste ich aufwischen. Außerdem musste ich den Rest des Tages meine feuchten Klamotten anbehalten. Das passierte wahrscheinlich zwei Dutzend Mal im Verlauf dieses ersten Schuljahres. Ein ums andere Mal musste ich nachsitzen, weil ich mir in die Hose gemacht hatte. Vermutlich dachten sie, ich würde irgendwann damit aufhören, wenn sie mich nur fest genug bestraften.

Eines Tages warf ich während der Mittagspause einen Blick auf unseren Trinkbrunnen. Er bestand aus einem weißen Porzellanbecken und drei Wasserhähnen. Ich musste sofort ans Nachsitzen denken, weil ich ja pieseln musste, wenn ich was getrunken hatte. Unter dem Becken sehe ich einen Knopf, mit dem man die Wasserzufuhr unterbrechen kann. Ich dachte mir: „Ich kann jedem hier einen Gefallen erweisen.“ So drehte ich das Wasser ab. Als man mir schließlich auf die Schliche kam, musste ich natürlich erst recht wieder nachsitzen, und meine Eltern wurden auch benachrichtigt. Am Ende des Schuljahres wurde der Rest der Klasse mit einem Ausflug in den Zirkus belohnt – doch nicht John Fogerty. Da ich so ein unkontrollierbarer, wilder kleiner Mann war, musste ich zu Hause bleiben. Ein schlimmer Junge war ich.

Das nächste Schuljahr verbrachte ich dann an der Harding Grammar, einer staatlichen Schule, die sich nur zwei Blocks von unserem Haus entfernt befand. Ich konnte nun zur Schule laufen! Und alles war ganz normal dort. Ich blühte förmlich auf. Es gefiel mir richtig gut dort.

Okay, wer von euch hat schon mal geträumt, er könne fliegen? Als Kind tat ich das häufig. Im Film E.T. – der Außerirdische gibt es eine Szene, in der ein paar Kinder E.T. auf ihren Fahrrädern hinterherfahren. Plötzlich heben sie alle ab und fliegen an der Silhouette des Mondes vorbei. Tatsächlich musste ich weinen, als ich diese Szene sah. Ich weiß aber immer noch nicht, warum dem so war. Jedenfalls träumte ich zwischen dem dritten und sechsten, siebten Schuljahr regelmäßig davon, fliegen zu können. Der Traum war fast immer gleich. Ich flog über meine kleine Stadt hinweg, ungefähr in Höhe der Baumwipfel und Telefonleitungen, von wo aus ich die Häuser und Leute beobachten konnte. Ich befand mich in Gesellschaft eines „Freundes“, der als eine Art Lotse zu fungieren schien. Soweit ich mich noch erinnern kann, sahen wir stets dasselbe Zeug. Wenn ich nun viele Jahre später daran zurückdenke, kann ich mir sogar vorstellen, dass es sich tatsächlich um eine Begegnung mit einem Außerirdischen gehandelt haben könnte!

Eines Tages – ich ging mittlerweile in die sechste Klasse ‒ fiel Miss Begovich ein Geruch in unserem Klassenzimmer auf. „Was riecht denn hier so?“, fragte sie. Die meisten Kinder hatten gar nicht davon Notiz genommen und konnten auch nicht sagen, was es war oder woher es kam. Plötzlich rief dieser Junge namens Fred: „John Fogerty riecht.“ Selbstverständlich sahen mich nun alle an, und ich wechselte in einen verwirrten Zustand über.

„Wie bitte?“

Aber Fred bestand darauf: „Ja, es ist John, er müffelt!“

Also sprach Miss Begovich mit sanfter Stimme: „John, vielleicht solltest du dich zur Toilette begeben und dich darum kümmern.“

Ich stand auf und begab mich aufs Klo, obwohl ich nicht wirklich wusste, was ich nun zu tun hätte. Plötzlich stand Kathy, ein Mädchen, das ich seit der Vorschule kannte, auf und sagte: „Ich bin die, die riecht.“ Nun war ich emotional erst recht durcheinander. Kathy bestand gegenüber der Lehrerin darauf, dass sie diejenige sei, die die Toiletten aufsuchen sollte. Und natürlich spielte sich diese Szene vor der ganzen Klasse ab. Mir wurde richtig schwindlig. Wow, dieses Mädchen opfert sich für mich. Ich wurde von Gefühlen überwältigt, die ich nur schwer beschreiben kann. Allerdings war mir klar, dass sie sehr tapfer sein musste. Ich fühlte mich ja so geehrt!

 

Schließlich entschied Miss Begovich, dass wir beide die Toiletten aufsuchen sollten, wodurch sich die Schuld ein wenig verteilen würde. Auf dem Klo pieselte ich und wusch mir die Hände. Anschließend ging ich zurück in die Klasse. Auf dem Gang begegnete ich Kathy und bedankte mich bei ihr. Eigentlich würde ich gerne noch einmal zu ihr hingehen, um noch besser zum Ausdruck zu bringen, wie viel mir ihr Handeln bedeutete.

Ein paar Tage später arbeiteten ein paar von uns Kindern nach der Schule an einem Projekt. Dieses eine Mädchen – sie hieß Yvonne – war bereits seit über einer Woche krank, weshalb Miss Begovich uns bat, ihr ein paar der Bücher und Hefte, die sich in ihrem Pult befanden, nach Hause zu bringen, damit sie ihre Hausaufgaben erledigen konnte. Neben ihren Schulutensilien fanden wir aber noch einen toten Vogel! Iiiiieeehhh! Wir ekelten uns mächtig. Miss Begovich meinte, dies sei vermutlich auch der Grund für den üblen Geruch gewesen, was sie am nächsten Tag auch der ganzen Klasse mitteilte.

So viele der guten Dinge waren in jenen Jahren mit Musik verknüpft. Ich war von Geburt an neugierig, und wenn ich Musik hörte, die mir gefiel, musste ich einfach alles darüber herausfinden. Mit sieben stand ich auf Blues und Doo-Wop. Rock ’n’ Roll gab es da ja noch gar nicht! Meine beiden älteren Brüder mochten Rhythm and Blues und hörten den Radiosender KWBR in Oakland. Dort liefen Blues und R&B – also hauptsächlich „schwarze“ Musik. Einer der Sponsoren von KWBR war ein Produkt namens Dixie Peach Pomade, mit dem sich damals wohl junge schwarze Typen ihre Haare glätteten. Ich fuhr einmal mit dem Bus bis nach Oakland, um mir das Zeug zu besorgen. Es eignete sich hervorragend zum Aufmotzen von Bürstenhaarschnitten sowie etwas längeren Haaren, wie sie Elvis hatte. Außerdem roch es gut!

Auf diesem Sender liefen Songs wie „Gee“ von den Crows oder „Ling, Ting, Tong“ von den Five Keys. Bei Letzterem versuchten wir all die verrückten chinesischen Anspielungen zu verstehen. Wir fanden alles sehr exotisch. Später standen wir dann auf „Death of an Angel“ von Daniel Woods and the Vel-Aires. Er singt darin über den Tod seiner Freundin, aber es war so cool! Kids lieben das Thema Tod! Viel später fand ich heraus, dass die katholische Kirche den Song sogar mit einem Bann belegte, denn nach ihrer Lehre können Engel gar nicht sterben. Das machte alles sogar noch cooler! Als 30 Jahre später Ozzy und all die anderen Typen den Teufel „beschworen“? Das war im Grunde genommen dasselbe: Da ging es um Dinge, die verboten und unaussprechlich waren und sich hinter einem Schleier verbargen. Daher war es Musik, die die Eltern ablehnten.

Vieles von dem, was ich mir so reinzog, war auf eine gewisse Weise Prä-Rock ’n’ Roll, hatte aber bereits viel von diesem speziellen Vibe. KWBR spielte viel echten Blues ‒ Urban ‒ und sogar ein wenig Country-Blues. Ich erinnere mich noch, wie ich in den frühen Fünfzigerjahren zum ersten Mal Muddy Waters hörte. Und dann kam Howlin’ Wolf. Diese Stimme! Ich liebte sie und dachte mir: Wow, diesen Typ muss man gehört haben. Und dann erst dieser Name! In der Regel saß ich allein vor dem Radio. Bouncin’ Bill Doubleday hieß der DJ, der von 3 bis 6 Uhr nachmittags auflegte. Und dann gab es da noch Big Don Barksdale, dessen Show in der Nacht lief. Am Sonntag wurde dann Gospel über den Äther geschickt. Da hörte ich auch zum ersten Mal die Staple Singers mit „Uncloudy Day“. Der Klang dieser Gitarre. Gott, das war ja so cool. Dieses spezielle Vibrato: Biiee-huau-huauh. Selbst als Kind konnte ich diesen Sound gleich erkennen. Es war Pops Staples, der das spielte. Ich liebte diesen Sound. Meine persönlichen Favoriten waren vermutlich die Swan Silvertones. Es war geistliche Musik, Kirchenmusik, aber ich interessierte mich eher für den musikalischen Aspekt.

Als ich so um die acht Jahre alt war, setzte ich meine Stimme (und meinen Körper) ein, um den Sound der R&B-Scheiben, die ich hörte, zu imitieren. Jeden Tag ging ich die paar Blocks von zu Hause zur Schule runter. Diese Zeit, die ich für mich allein hatte, war mir sehr wertvoll. Ich dachte oft über Musik nach und machte die Klänge nach, die ich im Kopf hörte. So schlenderte ich die Straße hinunter, während ich Ernie Freemans „Lost Dreams“ oder Bo Diddleys „I’m a Man“ mit meiner Stimme interpretierte. Daaaaaah daaaaah da dummmm. Manchmal schnipste ich auch mit den Fingern und klatschte in die Hände, aber in erster Linie kamen alle Laute aus meinem Mund – beziehungsweise aus meinem Hals. Oder ich summte. Ich grunzte, summte und gab allerhand Gutturallaute von mir. Für meine Umgebung muss sich das angehört haben, als hätte ich mich verschluckt. Ich liebte es jedenfalls, die Geräusche des Basses oder einer Kickdrum nachzuahmen. Niemand, den ich kannte, tat etwas Vergleichbares, aber ich fühlte mich wohl dabei. Es war meine Art, Musik zu machen.

Ich hypnotisierte mich förmlich selbst, wenn ich mich auf dem Weg zur Schule auf diese Weise beschäftigte. Ein kleiner Freund von mir, der mich manchmal begleitete, nannte mich sogar Foghorn Fogerty, da er fand, ich hörte mich wie ein Nebelhorn an. Noch heute gebe ich Gutturallaute von mir, wenn ich Musik im Kopf höre, um ihren speziellen Vibe wiederzugeben. Ich dachte mir damals sogar eine Bühnenidentität aus – Johnny Corvette and the Corvettes. Das muss so um 1953 gewesen sein, weil damals die Corvette gerade auf den Markt gekommen war und alle Kids nun einmal auf schlanke, sexy Linienführung und einen starken Motor abfahren. In meiner Fantasie-Band trugen alle aufeinander abgestimmte Jacken, so wie die Turbans, die Five Satins oder die Penguins. Ich war Johnny – und wir waren schwarz. Das war völlig wertfrei, denn ich war bloß ein Kind, das vor sich hin träumte. Und so waren die erwachsene Version von mir sowie meine Gruppe eben schwarz.

Unser erstes Zuhause lag gegenüber der El Cerrito High School in der Eureka Avenue, Hausnummer 7251. In diesem Haus blieb es auch im Sommer kühl, und ich habe schöne Erinnerungen daran.

Allerdings zogen wir 1951, als ich sechs wurde, in die Ramona Avenue 226 um. Diese Zeit habe ich als weniger glücklich in Erinnerung. Als wir in diesem Haus wohnten, trennten sich nämlich meine Eltern.

Ich glaube, dass es meinem Dad zu viel wurde, zwei Jobs auszuüben. Meine Mom sagte immer wieder mal, dass er viel zu hart arbeitete. Ich glaube, dass mein Dad dadurch sogar ein wenig verrückt wurde. Er erlitt schließlich einen Nervenzusammenbruch und wurde in Sonoma oder Napa behandelt. Nachdem wir ihn dort besucht hatten, glaubte ich, dass wir alle wieder zusammenkommen würden.

Die Streitereien bekam ich gar nicht so mit, aber so wie ich es verstanden habe, war die Trennung meiner Eltern richtig unschön und zog sich hin. Eines Abends fuhren wir alle zusammen ins Autokino, um einen Film mit Bob Hope zu sehen – The Lemon Drop Kid. Als wir wieder zu Hause waren, ging ich ins Bett. Meine Brüder Tom und Jim waren noch wach, und unsere Eltern hatten sich wegen irgendetwas in den Haaren. Ich erfuhr erst am nächsten Tag davon. Anscheinend hatte mein Dad wütend seinen Finger auf Mom gerichtet, die dann hineinbiss. Überall war Blut. Zum Glück wurde ich nicht Augenzeuge dieses speziellen Streits. Ich habe The Lemon Drop Kid nie wieder angesehen. Wenn der Film im Fernsehen lief, dann ‒ klick! ‒ schaltete ich sofort weiter. Auch heute noch weigere ich mich, ihn anzusehen, weil dieser Film irgendetwas an sich hat, das all dies ausgelöst haben muss.