Gottes Herz für deine Stadt

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2.3. Gesellschaftstypen

Obwohl in allen urbanen Räumen urbane Systeme wirken, ist ihre Durchschlagskraft unterschiedlich zu bewerten. Das liegt vor allem am jeweiligen Typ der Stadt. Städte sind nicht einfach vorhanden, sie entstehen und entwickeln sich immerfort. Diese initiale und fortwährende Entwicklung definiert auch den jeweiligen Gesellschaftstyp des urbanen Zusammenlebens. Ob ein Stadtteil sich gerade aus einer Ansiedlung von Menschen, die auf der Suche nach Arbeit in die Stadt drängen, entwickelt oder sich dank wachsender Bevölkerung ausweitet und Vororte der Reichen und Einflussreichen bildet – all das entscheidet, welchen Charakter der jeweilige urbane Raum annimmt.

Der Urbanologe Ray Bakke identifiziert eine Reihe von Gesellschaftstypen in der Stadt, die er daran festmacht, dass er nach dem Kommunikationsfluss in der Gesellschaft und nach der Durchlässigkeit der Gesellschaft fragt.32 Er unterscheidet dabei zwischen Slum, Schwellengemeinschaft, Wandlungsgesellschaft, diffuser und parochialer Gesellschaft und einer gesunden Gemeinschaft.

Dabei stehen Slums für Elendsviertel der Stadt, die als Auffangquartiere für Menschen dienen, die entweder als verarmte Landbevölkerung oder Flüchtlinge in die Stadt zuwandern oder infolge von Arbeitslosigkeit und dem Verlust des sozial-ökonomischen Halts „auf der Straße“ landen. Slums entstehen in der Regel chaotisch. Kommunikation nach innen wie außen ist stark erschwert. Ebenso der Ausbruch in ein besseres Leben. Slums können sich zu Schwellengemeinschaften entwickeln, in denen der Wille zur Veränderung bessere Aufstiegsmöglichkeiten schafft. Schwellengemeinschaften können sich sowohl als Weg aus dem Slum als auch als Wandlungsgesellschaft in den sozialen Abstieg entwickeln. Solche Wandlungsgesellschaften entstehen da, wo eine Bevölkerungsschicht durch Ansiedler verdrängt wird. Oft sind solche Gemeinschaften in den ersten Jahren ihrer Existenz sehr diffus organisiert. Man spricht dann vom diffusen Gemeinwesen. Das Gegenteil davon wären parochiale Gemeinschaften, in denen eine stark nach innen definierte Einwohnerschaft lebt, die sich bewusst von der Außenwelt abgrenzt und eine Art Parallelwelt für sich bildet. Bakke wünscht sich ein offenes und gesundes Gemeinwesen. Ich habe seine Beobachtungen in folgender Tabelle festgehalten33 und hier und da ergänzt.


Die jeweiligen Gesellschaftstypen sind in der Regel räumlich voneinander getrennt. Segregation erfolgt meistens unfreiwillig als Folge sozialer Ungleichheit. Randgruppen, „relativ statusniedere Bevölkerungsgruppen“, wird in bestimmten Bereichen der Zugang zu sozial höher bewerteten Gruppen verwehrt.34 Auf der anderen Seite streben gerade diese Bevölkerungsgruppen den Aufstieg an. Und die Stadt, bei aller Segregation, ermöglicht diesen auch. „Die Stadt ist der Ort, an dem ein Überschuss an Möglichkeiten den Individuen die Integration in die verschiedenen Dimensionen der modernen Gesellschaft überhaupt erst ermöglichte.“35

2.4. Menschengruppen in der Stadt

Urbane Räume sind gegliederte Räume. Wir unterscheiden dabei zwischen funktional-räumlicher und sozial-räumlicher Gliederung.

Bei einer Gliederung nach Funktion werden Räume unterschieden, in denen entweder Kultur, Religion, Politik/Verwaltung, Ökonomie, Bildung oder auch Freizeitgestaltung gefördert und gelebt werden. Daneben stehen dann Räume, die soziale Zugehörigkeit definieren, wie soziale Klasse, Gesellschaftsschicht, Milieu oder Alter.

Hinter den Gesellschaftstypen stehen also unterschiedliche Menschengruppen, die sich unterschiedlich sozial, kulturell, religiös und politisch organisieren. Die Grenzen zwischen diesen Gruppen sind flexibel und erlauben Entwicklung und Fortkommen. Stadtbewohner sind flexibel, aber nicht unorganisiert. Sie lassen sich nach ihrer Kultur, Religion und sozialem Stand auf der einen, ihrem ökonomischem Status auf der anderen Seite in Klassen, Stände und Milieus einteilen.

Große Gruppen von Leuten mit gleichen ökonomischen Ressourcen, die stark einwirken auf Lebensstile, nennen wir Soziale Klassen. Max Weber (1864-1920) definierte: „Klassen sind Gruppierungen von Menschen, die aufgrund ihres Besitzes und/oder spezifischer Leistungen auf dem ,Markt‘ ungefähr gleiche materielle Lebenschancen haben.“ Klassen weisen meist flexible Grenzen auf und kennen formale Behinderungen zum Aufstieg. Man gehört einer Klasse nur aufgrund des erworbenen gesellschaftsökonomischen Status‘ an.

Hans und Petra kommen aus einer reichen Familie. Sie haben selbst studiert und leiten heute eine größere Firma. Sie gehören zu der oberen sozialen Klasse, während das Lehrerehepaar Müller zur Mittelklasse und die Webers, die einem einfachen Handwerkerjob nachgehen, zur Arbeiterklasse gehören.

Von den sozialen Klassen unterschieden werden soziale Schichten. Der Begriff geht auf Theodor Geiger (1891-1952) zurück, der Unterschiede zwischen Gruppen mit Merkmalen, die den Status ausmachen, beschrieb. Dabei nahm er vor allem das Problem der Mentalitäten ins Visier. Für Menschen, die zu gleichen Schichten gehören, ist es nicht notwendig, dass politische Orientierung oder Selbsteinordnung mit, objektiven’ sozialen Lagen übereinstimmen. Auch wenn sich Einkommen und Arbeitsbedingungen angleichen, bleiben Mentalitätsunterschiede. So können verarmte Adlige immer noch zur oberen Schicht gehören und arbeitslos und zum Teil mittellos gewordene Geschäftsleute, die durch einen Bankrott gegangen sind, zur Mittelschicht, auch wenn sie ökonomisch eher der unteren Klasse angehören. Hier spielen die Lebensart, der Stand und die Herkunft eine größere Rolle als die gegenwärtige ökonomische Lage.

Heute teilt man Gruppen von Menschen gerne in Milieus ein. Ein soziales Milieu beschreibt die Gesamtheit der räumlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen, die ein Individuum prägen. Zu den sozialen Bedingungen gehören z. B. Normen, Gesetze sowie wirtschaftliche und politische Bedingungen.

Die Stadt kennt alle diese Gruppen und bietet jeder von ihnen Raum zur Entfaltung. Oft sind diese Räume auch geographisch voneinander getrennt.

2.5. Die Frage nach der Macht

Urbane Räume sind Gestaltungsräume. Und es sind Machtfaktoren, die den Raum so oder anders werden lassen. Macht ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als „eine Kapazität zum Handeln“36. Walter Wink macht in seiner Studie zur Macht in der Bibel deutlich, dass Gott Macht schuf, damit diese zum Wohl der Menschen und der Gesellschaft gebraucht wird.37 Erst wenn Menschen Macht haben, können sie handeln. Und immer wenn Gott Menschen einen Auftrag erteilt, verbindet er seinen Auftrag mit der Verleihung einer entsprechenden Vollmacht. Auch die Organisation und Lebensgestaltung in der Stadt kommt nicht ohne Macht aus. Wo in der Stadt Leben gestaltet wird, da üben Menschen Macht aus. Und wer die Macht hat, hat das Sagen. Wer aber ohne Macht ist, bleibt machtlos, ohnmächtig.

Aber Macht korrumpiert, und Macht wird korrumpiert. Unter der Macht der Sünde wird die Ausübung von Macht in der Gesellschaft zu einem Akt, der immer wieder einer entsprechenden Korrektur bedarf. Ein Sinnbild der Macht, die aus dem Ruder läuft, ist das antike Babylon. Hier, am Euphrat im heutigen Irak, zogen Menschen aus der damaligen Welt zusammen. Das fruchtbare Euphrattal versprach allen Wohlstand. Sie nannten ihre Stadt Babylon, was in der akkadischen Sprache so etwas wie Tor zu Gott oder Gottestor heißt. Und hier beschlossen die Babylonier, gemeinsam einen Turm zu bauen, berichtet uns die Bibel. In Gen. 11,1-4 heißt es:

„Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.“

Sie hatten noch die katastrophale Urflut in Erinnerung, die nahezu den gesamten Lebensraum ihrer Vorfahren zerstörte. Gott musste Noah und seine Familie retten. Sonst wären auch sie nicht mehr da. Aber auf Gottes Gnade angewiesen zu sein schränkte ein. Er hatte ihnen einen Befehl gegeben. Sie sollten sich über die Erde ausbreiten, sich mehren und über sie herrschen (Gen. 1,27-28). Das forderte heraus, zwang ihnen Gottes Willen auf. Und so wuchs in ihnen jenes Verlangen, das unsere ganze Menschheitsgeschichte auszeichnet – ohne Gott leben zu wollen. Sie kamen auf den dummen Gedanken, ebenjenen Turm zu Babel zu bauen, der bis zum Himmel reichte. So glaubten sie, den Himmel in ihre Wirklichkeit holen zu können. Und das dank eigener Bemühung. Ohne Gott. Ja, sogar gegen Gott! Wir wissen, was daraus wurde – aus Babylon wurde Babel, aus dem Tor zu Gott Wirrsal, denn Gott hatte ihre Sprache verwirrt, und so konnten sie sich nicht mehr verstehen (Gen. 11,9).

 

Im Neuen Testament steht der Name der Stadt Babylon für eine widergöttliche, urbane Welt, die sich Gott widersetzt. Sie ist ein Hort der Sünde und der Dekadenz – eine Hure, auf deren Stirn geschrieben steht: „Babylon die Große, die Mutter der Huren und der abscheulichen Dinge der Erde“ (Off. 17,3-5). Babylon ist der Ort, an dem die Menschen ihr eigenes Glück in die Hand nehmen. Nicht Gott, sie selbst wollen für ihr Leben Verantwortung tragen.

Und wie damals in Babylon, so streben auch heute Menschen in der Stadt nach Eigenbestimmung und Selbstverwirklichung. Fragt man einen Menschen vom Land, der in die Stadt gezogen ist, warum dieser denn alle Vorteile eines Lebens auf dem Land verlassen habe, dann antwortet dieser in der Regel so wie Roberto, der junge Bauernsohn, der dem Leben auf dem väterlichen Hof den Rücken kehrte:

„In der Stadt kannst du eher jemand werden. Hier gibt es Chancen, Geld zu verdienen und reich zu werden. Hier kannst du Tag und Nacht Spaß haben und das Leben genießen. Auf dem Land hast du nur die harte Arbeit. Ich habe das Dorf satt.“

In der Stadt lernt man, an sich selbst zu glauben, Leben zu wagen, ja sogar waghalsig zu werden. So jedenfalls die Mund-zu-Mund-Reklame. Die Stadt mit ihren tausend Möglichkeiten lässt Träume entstehen. Hier kann jeder etwas werden. Man muss nur wollen und ein Quäntchen Glück haben. Oder den richtigen Riecher, die richtige Idee – oder schlicht und einfach den richtigen Mann oder die richtige Frau treffen. Schließlich gibt es immer wieder jene berühmten Tellerwäscher, die es zum Multimillionär geschafft haben. Warum nicht auch ich?

Freilich hat die Stadt schon viele Menschen kommen und gehen sehen. Nirgendwo sonst sind so viele Träume so schnell gestorben wie in der Stadt. Und doch bleibt sie bis heute der Ort, an dem Millionen von Menschen ihr Glück suchen. Wo sonst, wenn nicht hier, müssen Christen ihr Zeugnis aufrichten. Nichts in der Stadt wird so dringend gebraucht wie eine lebendige Gemeinde, eine Gemeinde, die alle sozialen Klassen und Schichten, Millieus und Gruppen mit dem glücklich machenden Evangelium von Jesus Christus erreicht. Wie aber werden solche Gemeinden gebaut? Was sind die Gemeindebauprinzipien, die unbedingt beachtet werden wollen, wenn Gemeinden Licht im Dunkel der Stadt werden sollen? In den nächsten Kapiteln sehen wir uns die Antworten auf diese Fragen etwas näher an.

„Gott sei Dank haben wir uns mit unserer Stadt beschäftigt.“ Manfred lernt seinen Stadtteil neu kennen

Manfred, ein älterer Ältester einer bayerischen Freien Großstadtgemeinde, konnte sich kaum beruhigen. Zusammen mit den Studenten unserer Hochschule nahm er an der Sozialraumuntersuchung seiner Stadt teil. Das Ziel der Untersuchung war, herauszufinden, wie das Leben in dem Stadtteil, in dem die Gemeinde gebaut wird, pulsiert, was die Bedürfnisse der Menschen sind und welche Stärken Menschen mitbringen. So erhofften wir uns, Chancen formulieren zu können, die den Gemeindebau qualitativ verbessern würden.

Manfred hatte sich zunächst dagegen gesperrt, einer solchen Untersuchung zuzustimmen. „Was soll die ganze Rennerei und Fragerei. Ich lebe hier seit Jahrzehnten. Wenn jemand den Ort kennt, dann bin ich es. Und außerdem ist unsere Gemeinde ja seit Jahren mit der besten Kinderarbeit im Land unterwegs. Ein weiteres Programm verkraftet unsere Gemeinde sowieso nicht.“ Aber dann stimmte er doch zu, und anschließend, als die Untersuchung gelaufen war und er die Ergebnisse vor seinen Augen hielt, blieben ihm die Worte weg. Gerade sein so gelobtes Kinderprogramm erwies sich als völlig belanglos für den Ort. Weniger als 2 % der Bevölkerung des Stadtteils, für den die Gemeinde seit Jahrzehnten betete und von denen sie hoffte, sie eines Tages für Jesus zu gewinnen, bestand aus Familien. Schlicht und einfach gesagt – es gab im Stadtteil keine Kinder, über die man die Bevölkerung hätte gewinnen können. „Jetzt verstehe ich auch, warum die meisten Kinder in unseren Programmen aus den umliegenden Dörfern Woche für Woche in die Stadt gefahren werden müssen“, sagte der völlig verdutzte Älteste. „Wie wollen wir über dieses Programm Menschen für Jesus gewinnen, wenn alle Grundlagen, ein solches Programm erfolgreich aufzustellen, fehlen?“

Die Ortsanalyse hatte natürlich nicht nur diese Tatsache ans Tageslicht gebracht. Auch in anderer Hinsicht entsprach das Bevölkerungsprofil wenig dem Angebot der Gemeinde. Diese schien seit Jahren an den Menschen vorbei Gemeinde zu bauen. Die Annahme, dass das, was man anbot, auch bei den Einwohnern ankommen müsse, erwies sich als falsch und erklärte, warum die Gemeinde sich so erfolgslos um die Menschen vor Ort bemühte. Manfred, ein leidenschaftlicher Angler, brachte es auf den Punkt: „Wir haben den Köder auf den Haken gehängt, der uns schmeckt. Aber so wird man keinen Fisch aus dem Wasser ziehen. Keinem Fisch der Welt schmeckt, was einem Angler schmeckt. Gott sei Dank haben wir uns mit unserer Stadt beschäftigt. Es ist zwar viel Arbeit, und manches muss neu gedacht und organisiert werden, aber dafür haben wir gelernt, wo wir ansetzen müssen, um die Menschen in unserer Stadt zu erreichen.“

Fragen zur Weiterarbeit:

1 Was zeichnet Städte aus? Was macht eine Stadt zur Stadt?

2 Welche Kräfte gestalten städtisches Leben?

3 Welche Erfahrungen haben Sie mit städtischen Institutionen gemacht?

4 Wie wichtig sind urbane Systeme für den Gemeindebau in der Stadt?

Kapitel 3

Urgemeinde und die Stadt
3.1. Es begann in der Stadt

Die Geschichte des Christentums ist eng mit der Stadt verbunden. Alles begann in Jerusalem, der Hauptstadt der jüdischen Provinz des Römischen Imperiums, und breitete sich in seinen Anfängen im Römischen Reich vor allem über die Städte aus. In Jerusalem mit den Tausenden verarmten Landlosen – oft ohne jede Existenzsicherung – beginnt die Gemeinde Jesu nach Pfingsten aktiv zu werden. Sie setzt auf Gebet und Zeugnis von dem, was Gott in Jesus Christus getan hat und immer noch tut. Durch dieses Gebet und Zeugnis kommen buchstäblich Tausende von Menschen zum Glauben und erfahren unvorstellbare Wunder durch die Hand der Apostel.

Die Heilung des lahmen Bettlers vor der schönen Pforte des Tempels (Apg. 3,1 ff.) ist dafür ein Beispiel. Die Apostel sind bei dieser Tat (a) auf dem Weg zum Gebet, (b) bereit, ihr Leben mit dem Bettler zu teilen, auch wenn sie dabei potenziell selbst in Misskredit geraten, (c) bereit, Zeugen der Heilung des Lahmen zu sein, und (d) in der Lage, Gottes Wunder als Basis für ihre Verkündigung zu nutzen.

„Sieh uns an“, forderte Petrus den Mann auf, und als dieser ihn sehnsüchtig anblickte in der Erwartung, eine Gabe zu bekommen, sprach Petrus weiter und stellte klar, dass er zwar kein Silber und Gold habe, aber bereit sei zu geben, was er habe. Das war bei Petrus die Gabe der Heilung. Ohne weiter lange über die Konsequenz seines Handelns nachzudenken, ergriff der Apostel den Lahmen bei seiner rechten Hand, bereit, ihm auf die Beine zu helfen. Freilich, dieser Schritt war alles andere als erlaubt. Nach Lev. 22 durfte man einen ausgesonderten Unreinen, und als solcher galt der Lahme, nicht berühren, ohne Gefahr zu laufen, selbst vom Gottesdienst ausgeschlossen zu werden.38 Nur ein Eingriff Gottes konnte den mutigen Apostel vor der Schande, aus dem Tempel geworfen zu werden, bewahren.

Petrus setzte aufs Ganze. Er riskierte seinen Ruf und seine Stellung in der Stadt. Und wurde von Gott belohnt. Der Mann wurde gesund und lief voller Freude über das gerade Geschehene in den Tempel. Hier kannte ihn jeder. Seit langer Zeit hatte er sie alle um Almosen gebeten. Und jetzt konnte er gehen. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Menschen, neugierig, wie wir sind, umringten den Glücklichen. Und als der Lahme Petrus und Johannes sah, zeigte er auf sie. Durch ihre Hände hatte Gott gehandelt. Die Situation war überwältigend günstig, den Namen Jesu zu verkündigen, und Petrus ergriff die Chance und hielt seine zweite Predigt in Jerusalem. Er war jung (vermutlich 26 Jahre alt), theologisch wenig gebildet (Fischer wie er hatten eine nur sehr begrenzte schulische Bildung), und doch wirkten seine Worte wie Donnerschläge auf die Zuhörer. 5000 Menschen, vermutlich ein Zehntel der Gesamtbevölkerung der Stadt, kamen durch diese Rede zum Glauben.

Spätestens jetzt weiß jeder in Jerusalem, dass das Evangelium, wie es der gekreuzigte Nazarener Jesus predigte, in die Stadt zurückgekehrt ist. Täglich kommen nun Menschen zum Glauben. Und die junge Gemeinde kümmert sich um sie. Sie öffnen ihre Häuser, geben den Menschen einen Sinn, das Gefühl der Zugehörigkeit, essen mit ihnen, lehren sie (Apg. 2,42) und legen ein gewaltiges Versorgungswerk für die Mittellosen in der Stadt auf. In den ersten Tagen ihrer Existenz schafft es die junge Gemeinde, die urbane Bevölkerung der Stadt buchstäblich in Aufruhr zu versetzen. Freilich ruft das Widerstand auf den Plan. Die Apostel werden verhaftet, und Verfolgung setzt ein. Schon bald stirbt mit Stephanus auch der erste Märtyrer. Aber das Evangelium ist in der Stadt angekommen, und von hier aus nimmt es seinen Siegeslauf durch das Römische Reich auf.

Schon bald nach der Gründung der ersten Gemeinde in Jerusalem gab es christliche Gemeinden in Antiochien am Orontes, Ephesus, Athen und Korinth und nicht zuletzt in Rom. Der neue Glaube erreichte Arme und Reiche, Sklaven und Herrscher. Und die Städte wurden bald zu Zentren regen Glaubenslebens. Ein wunderschönes Zeugnis über die Beziehung der Christen zu den Städten des Römischen Reiches findet sich im anonymen Brief an Diognet aus dem zweiten Jahrhundert. Hier lesen wir39:

„Denn Christen unterscheiden sich weder durch Sprache und Sitte von den anderen Menschen. Sie bewohnen keine eigenen Städte, sprechen keine besondere Sprache und führen kein absonderliches Leben. Ihre Lehre wurde nicht durch Einfall oder Scharfsinn vorwitziger Menschen aufgebracht. Sie bewohnen griechische und ausländische Städte, wie es ihnen das Schicksal beschied. Sie folgen der Landessitte in Kleidung, Nahrung und der sonstigen Lebensart. Sie legen dabei eine wunderbare und sicherlich überraschende Lebensweise an den Tag. Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Fremde. Jede Fremde ist ihnen Heimat, und jede Heimat ist ihnen eine Fremde. Sie heiraten und haben Kinder wie jedermann, setzen aber die neugeborenen Kinder nicht aus. Sie haben einen gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Lager. Sie leben ‚im Fleisch‘, aber nicht ‚nach dem Fleisch‘. Sie leben auf Erden, aber sind Bürger des Himmels. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen und überbieten sie in ihrem Lebenswandel. Sie lieben alle, werden aber von allen verfolgt. Sie sind unbekannt und verdammt, man tötet sie und bringt sie dadurch zum Leben. Sie haben Mangel an allem, und haben doch an allem Überfluss. Sie werden missachtet und in jeder Missachtung verherrlicht. Sie werden geschmäht und doch als gerecht gefunden. Sie werden gekränkt und segnen. Sie werden verspottet und erweisen Ehre. Sie tun Gutes und werden wie Übeltäter bestraft. Sie werden mit dem Tode bestraft und freuen sich, als würden sie zum Leben erweckt. Von den Juden werden sie angefeindet als Fremde, und von den Griechen werden sie verfolgt, doch einen Grund für die Feindschaft vermögen die Hasser nicht anzugeben. Um es kurz zu sagen, was im Leibe die Seele tut, das sind in der Welt die Christen. Wie die Seele über alle Glieder des Leibes, so sind die Christen über alle Städte der Welt verbreitet. Die Seele wohnt zwar im Leibe, doch stammt sie nicht von dem Leib, so wohnen die Christen zwar in der Welt, sind aber nicht von der Welt.“

Das Christentum des ersten Jahrhunders war also zunächst und vor allem städtisch. Hier fand der neue Glaube die Voraussetzungen, die es schließlich zu einer anerkannten Religion, einer religia legitima, des gesamten Römischen Reiches machte – und weit darüber hinaus zur größten und einflussreichsten Weltreligion werden ließ.

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