Bücklers Vermächtnis

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Tränen liefen ihr über die Wangen. »Sag das nicht. Du bist nicht der Richter, du weißt nicht wie er entscheidet.«

Der Schinderhannes wischte ihr sanft die Tränen aus dem Gesicht. »Wir müssen auch für diesen Fall gewappnet sein.«

Julchen sah den dringlichen Blick ihres Mannes. Auch den nur leicht veränderten Tonfall seiner Stimme, bemerkte sie sofort.

»Wichtig ist mir, Julia, dass du und unser Sohn von nun an ein redliches und glückliches Leben führen. In den letzten Tagen wurde mir bewusst, dass Gott uns dabei helfen kann.«

Julchen war sich nun ganz sicher, dass Johannes ihr etwas wichtiges mitzuteilen hatte. Denn er verwendete sonst nie ihren vollständigen Namen. Ihr war aber auch klar, dass er ihr, wegen der großen Ohren des Wächters, nur versteckt etwas mitteilen konnte.

Bückler griff hinter sich und zog die alte Bibel hervor.

Innerlich war er gänzlich aufgewühlt. Er hoffte, dass der Wächter nicht die wahre Bedeutung der Situation erkannte.

»Ich habe viel in dieser Bibel gelesen, sie gab mir Trost und Hoffnung. Ich möchte, dass du meine geliebte Frau und besonders unser Sohn, diese Bibel immer wieder studiert, damit ihr begreift, was wirklich wichtig ist im Leben.«

Mit diesen Worten drückte der Schinderhannes seiner Frau die Heilige Schrift in die Hand und er hoffte inständig, dass der Wächter nicht einschritt und die Übergabe verbieten würde.

Etwas verstört blickte ihn Julchen an. War ihr Mann auf einmal doch noch gläubig geworden? War das es, was er versuchte ihr mitzuteilen? Den Glauben an Gott?

Der Wächter machte zwei Schritte auf die beiden zu. »Das genügt jetzt, die Zeit ist um! Gebt mir die Bibel!«

Der Schinderhannes schreckte auf, war denn alles um sonst gewesen? Er beobachtete den Wächter ganz genau, ohne es sich anmerken zu lassen.

Dieser streckte die Hand nach der Bibel aus, die Julchen festhielt. Zögerlich stand Julchen auf und reichte sie dem Wachmann. Dieser nahm sie an sich und blätterte sie oberflächlich durch. Er suchte nach Schriftstücken oder Mitteilungen die hinein geschrieben waren. Als er aber nichts dergleichen fand gab er Julchen die Bibel zurück.

Bückler atmete erleichtert auf. Wie in Trance nahm Julchen die Bibel wieder entgegen, nahm Franz-Wilhelm auf den Arm und sah zu ihrem Mann. Wortlos sahen sie sich in die Augen und nahmen Abschied voneinander. Der Wächter ergriff Julchens Arm und zog sie zum Ausgang, ihr Blick ruhte weiter auf ihrem Mann.

»In der Bibel liegt die Zukunft, vergiss das nicht«, rief Bückler ihr nach.

Sie drückte ihren Sohn noch fester an sich. Dann schloss sich die Zellentür zwischen ihnen.

Unwirsch befahl der Wächter, sie möge voran zu ihrer Zelle gehen. Widerstandslos kam sie der Aufforderung nach, mit ihren Gedanken bei den Worten ihres Mannes. In der Bibel liegt die Zukunft. Unbewusst verstärkte sich ihr Griff um das Buch.

Am 24. Oktober 1803 begann die Verhandlung im Akademiesaal des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses zu Mainz. Den Vorsitz hatte der Präsident des Mainzer Kriminalgerichts, Andreas Georg Friedrich Rebmann. 68 Angeklagten wurde der Prozess gemacht. 173 Zeugen lud der Staatsanwalt vor, neun Verteidiger nochmals 260 Zeugen. Allein das Verlesen der 72-seitigen Anklageschrift, in deutsch und französisch, dauerte anderthalb Tage. Tausende Gäste strömten aus ganz Europa nach Mainz, um dem Gericht beizuwohnen. Dazu wurden 500 Eintrittskarten verkauft, deren Preis täglich stieg.

Am 19. November 1803 zog sich das Tribunal zur Beratung zurück und verkündete einen Tag später das Urteil. Zwanzig Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen, weitere achtundzwanzig erwarteten Kerkerketten oder Zuchthaus. Die Todesstrafe erhielten nochmals zwanzig Angeklagte, darunter Johannes Bückler, genannt der Schinderhannes.

Am 21. November 1803, an einem trüben, nebligen Herbsttag, fuhren fünf Leiterwagen mit den Delinquenten zum Richtplatz vor den Toren Mainz. Bewacht wurden die Todgeweihten von einem Kommando Gendarmen und einer Infanterieabteilung. 15000 Zuschauer waren zu dem grausamen Schauspiel erschienen und als nun die Gruppe auf dem Richtplatz eintraf, begleitet von einem Trommelwirbel, hörte man die Rufe: »Sie kommen, sie kommen!« Dann wurde es still.

Der Schinderhannes sprang als Erster von dem Wagen und betrat das leicht erhöhte Schafott auf dem eine rot angestrichene Guillotine thronte. Dann schnallte man Bückler aufs Brett, schob ihn unter das Beil, dieses sauste hernieder und trennte seinen Kopf vom Rumpf. Ein dumpfes Raunen unterbrach die gespenstische Stille auf dem Platz. Dann richtete man die anderen, wobei nach einigen Köpfungen das blutige, achtzig Pfund schwere Fallbeil zu dampfen begann.

Teils erschrocken, teils belustigt wohnten die Leute der Hinrichtung bei. Besonders ein Schaulustiger beobachtete aufmerksam das blutige Treiben: Frederic Foch.

Mainz 1805

Julia Blasius hatte auf dem Marktplatz eingekauft und war auf dem Rückweg zum Haus ihres Herrn. Es war ein sonniger Samstagmorgen und die Stadt zeigte sich sehr betriebsam. Menschen säumten die Gassen, Fuhrwerke und Kutschen quälten sich über die mit Pflastersteinen ausgelegten Straßen.

Händler hatten ihre Stände aufgestellt und priesen ihre Ware an. Die Luft war angereichert mit angenehmen Gerüchen von Kräutern, Früchten, gebratenem Fleisch und geräuchertem Fisch, aber auch mit dem Gestank von Schweinen und Ziegen und anderem Getier, das zum Verkauf feil geboten wurde. Zusammen mit den Exkrementen die die Zugpferde und Ochsen auf die Straßen fallen ließen ergab sich eine herbe Mischung, der nicht jede Nase stand zu halten vermochte.

Julchen bog in eine Seitengasse ab und ging so der Menschenmenge aus dem Wege. Sie war noch nicht allzu lange wieder in Mainz. Dieser Ort barg für sie keine gute Erinnerung. So wurde ihr Mann doch hier verurteilt und geköpft und sie im gleichen Prozess zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatte es Johannes Bückler zu verdanken, dass sie so gnädig davon gekommen war. Immer wieder hatte dieser während der Gerichtsverhandlung beteuert, dass sie unschuldig sei und er sie verführt habe.

Dies hatte wohl Eindruck beim Tribunal hinterlassen. Aber sie selbst wusste, dass der Schinderhannes sie nicht zu verführen brauchte. Julchen war als zweite Tochter eines Musikanten in Weierbach, einem kleinen Ort bei Idar-Oberstein, geboren und aufgewachsen. Als Bänkelsängerin und Geigenspielerin trat sie zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf Märkten und bei Kirchweihen auf. An Ostern 1800 sah sie den Schinderhannes zum ersten mal. Wenig später gaben die beiden sich ein heimliches Stelldichein, verliebten sich ineinander und Julchen folgte ihrem Schwarm aus freien Stücken. Sie war ein attraktives, temperamentvolles junges Ding, das wenig Skrupel kannte, wenn es darum ging ihrem Geliebten beim Rauben zur Hand zu gehen. Und so konnte sie mit dem Urteil mehr als Zufrieden sein.

Nach der Hinrichtung ihres Mannes wurde ihr Sohn Franz-Wilhelm an einen Pflegevater übergeben. Dem Mainzer Zollwächter Johannes Weiß. Danach trat sie ihre Haftstrafe im Korrektionshaus in Gent an. Sie erinnerte sich nicht gerne an die Zeit in der Besserungsanstalt zurück.

Zusammengesperrt mit anderen gesunkenen Individuen und liederlichen Dirnen musste sie unter strenger Aufsicht harte Arbeit verrichten. Der Umgang der Häftlinge untereinander war sehr rau und öfter als einmal kam es vor, dass sie Blessuren aus irgendwelchen Streitereien davontrug.

Sie war froh, als sie die Zeit im Korrektionshaus hinter sich gebracht hatte. Der Pflegevater ihres Sohnes stellte sie dann als Dienstmädchen ein. Dies war ein Glück für Julchen, so konnte sie doch bei ihrem Sohn sein.

Als Julchen um eine Ecke bog, stieß sie plötzlich mit einem jungen Mann zusammen. Der Korb entglitt ihr und landete samt Inhalt auf dem Trottoir.

»Verzeiht bitte meine Unachtsamkeit.« Der junge Mann begab sich in die Hocke und sammelte die Lebensmittel auf und beförderte sie in den Korb zurück. Mit einem Lächeln auf den Lippen kam er wieder nach oben, und reichte Julchen den Korb. »Ich bitte nochmals um Verzeihung.«

Der Mann war mittelgroß, von attraktivem, gepflegtem Aussehen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er niedrigen Standes, sowie auch Julchen. Aber Manieren schien er trotzdem zu haben, dachte sie amüsiert.

»Es ist ja alles noch heil.« Sie durchforstete den Inhalt des Korbes.

»Auch bei Ihnen junge Dame? Es wäre mir ein Gräuel wenn ich Ihrer Schönheit geschadet hätte.«

Julchen sah verlegen zu dem so galanten Fremden empor. Lange war es her, dass sie solche Schmeicheleien vernommen hatte. Aber es gefiel ihr gut. So machten diese den Wert ihrer Selbst doch größer. Sie lächelte den gutaussehenden Burschen an. »Auch ich bin unversehrt. Aber danke der Nachfrage.« Sie war im Begriff weiterzugehen, aber der Mann stellte sich ihr in den Weg.

»Junge Dame, darf ich erfahren, wer Ihr seid und wo Ihr wohnt?«

Julchen blieb stehen, sie war verblüfft wie ungeniert der Mann ihr entgegentrat. »Warum wollt Ihr das wissen, mein Herr?«

»Nun, ich würde mein Missgeschick gern wieder gut machen, indem ich Euch zu einem Mahl einlade.« Der Fremde lächelte sie freundlich an.

Julchen wusste nicht genau wie sie reagieren sollte. »Ich kenne noch nicht einmal Euren Namen.«

Der Mann trat einen Schritt zurück und verbeugte sich vornehm. »Dem kann abgeholfen werden, ich heiße Kaspar Bender.«

»Ich heiße Julia Blasius«, entgegnete Julchen.

»Und sagt mir das Fräulein Julia auch noch wo es wohnt?«, fragte der Fremde unverblümt.

»Im Hause des Zollwächters Johannes Weiß.«

 

»Ich würde Euch gerne meine Aufwartung machen, wenn Ihr es erlaubt.«

Julchen fühlte sich durch soviel Engagement Benders mehr als geschmeichelt. Sie konnte sich durchaus ein Wiedersehen mit diesem höflichen jungen Mann vorstellen. »Nun, gut der Herr. Wenn Ihr mich so drängt«, sagte sie in gespielter Weise, »dann kommt morgen zum Dienstboteneingang von Johannes Weiß’ Haus. Ihr wisst wo das ist?«

Julchen sah deutlich die Freude von Kaspar Bender. »Ja, das weiß ich«, sagte dieser knapp.

»Am besten zur achten Stunde am Abend«, ergänzte Julchen.

»Ich werde pünktlich sein«, entgegnete Bender.

Sie lächelte ihm herzlich zu, verabschiedete sich und setzte ihren Heimweg fort.

Bender sah ihr nach, bis sie hinter einer Häuserreihe verschwunden war. Dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. Zwei Jahre, dachte er, wartete er nun schon auf diese Gelegenheit. Endlich hatte sie sich ergeben. Er wusste genau wen er eben vor sich hatte. Seit einigen Tagen beobachtete er sie schon und er gratulierte sich selbst zu seiner Beharrlichkeit und seinem Instinkt. Von Anfang an hatte er vermutet, dass Bücklers Frau nach ihrer Gefängnisstrafe wieder hier auftauchen würde, um in der Nähe ihres Sohnes zu sein. Und jetzt, durch die Begegnung mit ihr, hatte er einen Fuß in der Tür. Von nun an war er seinem Ziel einen großen Schritt näher gekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Schinderhannes sein Geheimnis um das Gold mit ins Grab genommen hatte. Sie würde es kennen, dessen war er sich sicher und er würde es erfahren. Kaspar Bender alias Frederic Foch sah immer noch auf die Häuser hinter denen Julchen verschwunden war und er grinste immer noch.

1

Sie vollführte den Bogenschritt sicher und langsam. Dabei teilten ihre Hände die Mähne des wilden Pferdes bevor sie dann zur nächsten Figur des Tai Chi Chuan überging. Sophie Haller genoss diese ruhigen und harmonischen Bewegungen in mitten von gleichgesinnten Studenten der Heidelberger Universität. Sie dienten ihr als Ausgleich zum stundenlangen Verweilen in den überfüllten Hörsälen.

Die Gruppe befand sich draußen im Park, am nahegelegenen Neckar. Die Julisonne brannte unerbittlich auf sie herab. Seit nun schon fast zwei Monaten war kein Tropfen Regen mehr gefallen und es schien so, dass dieser noch junge Sommer durchaus im Stande war alle Hitzerekorde zu brechen. Die Eisdielen und Schwimmbäder waren voller Menschen, ebenso die Biergärten und die Parkanlagen, in denen jedes schattige Plätzchen heiß begehrt war, um Sonne und Schweiß zu entkommen.

»Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus«, sagte Lehrmeister Xiao Yi zu ihnen. Die Schüler nahmen seine Bewegungen auf und ahmten sie nach. Die Gruppe strahlte in ihrer synchronisierten Bewegung eine große Ruhe und Gelassenheit aus. Schaulustige sahen teilweise mit Bewunderung, oder aber mit Unverständnis auf die Gruppe, die wie in Zeitlupe ihre Bewegungen ausführte. Sophie störten die Beobachtungen durch Außenstehende schon lange nicht mehr. Sie betrieb das Tai Chi Chuan seit über fünf Jahren und war in der Form so tief versunken, dass sie die Beobachter nur am Rande war nahm. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren hatte sie bereits eine Stufe des Tai Chi Chuan erreicht, dass sie deutlich von einem Anfänger unterschied. Tai Chi bedeutete für sie mehr als nur körperliche Ertüchtigung. Sie konnte den Geist des höchsten Prinzips, so wie man Tai Chi übersetzte, förmlich spüren.

Xiao Yi gab weitere Anweisungen, die die Gruppe sicher und ruhig umsetzte. Sophies Lehrer war Chinese und vor den Kommunisten während der Kulturrevolution geflohen. 1969 war er dann nach Deutschland gekommen und hatte sich zuerst mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Er entdeckte, dass die asiatische Kampfkünste und Bewegungstherapien auch in Deutschland immer beliebter wurden. In seiner Heimat hatte er von klein auf diese Künste gelernt und so gründete er eine der ersten Schulen fürs Tai Chi Chuan in Deutschland. Anfänglich war die Nachfrage schleppend und er musste mehr als einmal mit knurrendem Magen ins Bett. Aber Mitte der Siebziger Jahre boomte das Geschäft plötzlich und er konnte seinen Lebensunterhalt davon sehr gut bestreiten.

Xiao Yi schloss seine letzte Bewegung ab. Sein Blick lag prüfend auf der Gruppe, die nun ebenfalls in Ruhe verweilte.

Er legte die linke Hand über die Rechte die er zu einer Faust gebildete hatte und grüßte mit einer leichten Verbeugung in Richtung der Gruppe. Diese tat es ihm nach.

»Tui Shou«, forderte er dann.

Sophie sah wie sich ihre Gruppe lichtete. Von anfänglich zwölf Schülern blieben nur noch vier, einschließlich ihr, stehen. Tui Shou war eine Übung für Fortgeschrittene, besser bekannt unter dem Begriff Push Hands, die schiebenden Hände. Hierzu stellten sich die Schüler als Paare gegenüber. Sophie sah sich einem Mitstudenten aus ihrem Semester gegenüber. Sein Name war Dennis, zweiundzwanzig Jahre alt, der in seiner Freizeit die meiste Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Sophie und er nahmen über ihre Arme Kontakt zu einander auf. Sie spürte deutlich die durchtrainierte Unterarmmuskulatur ihres Gegenübers. Aber sie wusste, dass es hier weniger auf Kraft ankam, sondern auf die Umlenkung dieser. Xiao Yi gab das Zeichen um anzufangen. Dennis schob mit seiner Rechten Sophies Linke von sich fort. Sophie nutze dessen Schwung aus und lenkte seinen Arm von sich weg, um ihrerseits mit der Rechten seine Linke nach vorn schieben. Nun war es an ihm diese umzulenken, um dann erneut wieder seine Rechte nach vorne zu bewegen. So ergab sich eine fließende, wiederkehrende Bewegung, die aus Schieben und Nachgeben bestand. Sophie war hochkonzentriert. Sie achtete auf jede Regung ihres Gegenübers, um rechtzeitig die Angriffe von Dennis umzulenken. Dies ging ein ganze Weile so, bis schließlich Xiao Yi das Zeichen zur freien Gestaltung der Push Hands gab. Sophie und Dennis lösten den Kontakt und traten je zwei Schritte zurück. Von nun an waren es keine vorgegebenen Bewegungen mehr. Sondern jeder versuchte auf seine Weise den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sophie atmete tief durch und nahm eine Verteidigungsposition ein. Dennis, von seinem Können überzeugt, stürzte nach vorne. Sophie wich dem Angriff geschickt aus, erwischte das Handgelenk ihres Gegners und beförderte ihn mit einer geschickten Drehung auf den von der Sonne ausgebleichten Rasen. Etwas irritiert rappelte Dennis sich wieder hoch, um dann abermals einen Angriff zu starten. Auch diesmal schaffte es Sophie Dennis auszuweichen. Abermals versuchte sie Dennis´ Arm zu erwischen. Aber diesmal war ihr Gegner darauf vorbereitet, vereitelte ihre halbherzige Verteidigung und setzte seinerseits einen Gegenangriff der sie zu Boden beförderte. Sophie spürte wie ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde, als sie hart auf den Rücken aufschlug.

Es war immer wieder das Gleiche dachte, sie. Sie musste einfach schneller reagieren, sonst hatte sie gegen so jemanden kräftigen wie Dennis keine Chance.

Tief durchatmend stand sie wieder auf.

»Weißt du was dein Fehler war?« Xiao Yi stand vor ihr.

»Ja, ich bin zu langsam.«

Xiao Yi tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Nicht denken, handeln!«

Er hatte recht, überlegte sie. Ihr flogen während des Kampfes noch zu viele Gedanken durch den Kopf und das raubte ihr einfach Zeit zum Reagieren. Daran würde sie arbeiten müssen.

Dann beendete Xiao Yi die Übungsstunde.

Sophie war wieder auf ihrem Zimmer im Studentenwohnheim. Sie duschte ausgiebig und wollte dann ihren Rucksack packen. Die Semesterferien hatten begonnen und sie würde zu ihrer Familie nach Wetzlar fahren. Sophie war froh eine Pause von ihrem Studium zu bekommen. Sie studierte romanische Philologie im achten Semester. Als sie das Studium begonnen hatte, ahnte sie nicht auf was sie sich da eingelassen hatte. Ihre Begeisterung für Italienisch und Französisch hatte sie zu diesem Entschluss bewogen. Doch schon im ersten Semester musste sie erkennen, dass dieses Studium wesentlich umfangreicher sein würde, als sie erwartet hatte und deutlich über das bloße Erlernen von Fremdsprachen hinausging. Es war vielmehr eine wissenschaftliche Ausbildung in Sprach- und Literaturwissenschaft, Landeskunde und Fachdidaktik. So tat sie sich am Anfang auch sehr schwer, aber mit der Zeit begeisterte sie die Materie immer mehr, bis sie sich schließlich kein anderes Studium mehr vorstellen konnte. Das Erlernen der Sprachen an sich fiel ihr eher leicht. Manchmal war es so, dass sie neue Vokabeln nur einmal lesen und eine Nacht darüber schlafen musste und sie waren in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie dankte dem Schicksal mehr als einmal dafür, dass sie diese Gabe besaß. Wenn sie sah, wie manche ihrer Kommilitonen mit den Sprachen zu kämpfen hatten, war sie froh, dass ihr das erspart blieb.

In ihrer Freizeit widmete sie sich gerne dem Tai Chi Chuan. Noch zu Hause in Wetzlar hatte sie damit begonnen und war froh es in Heidelberg fortführen zu können. Außerdem ging sie regelmäßig Joggen, was sie ebenfalls als einen guten Ausgleich zu dem stundenlangen Büffeln über den Büchern empfand.

Sophie trat aus der Dusche, griff nach ihrem Handtuch und begann sich abzutrocknen. Sie betrachtete sich im Spiegel und sah eine junge attraktive Frau vor sich. Ihr Studium lief gut und sie fühlte sich selbstbewusst. Eigentlich hätte sie glücklich sein müssen. Eigentlich! Aber sie war es nicht. Und wenn diese Gedanken, die sich um das Eigentlich drehten, sich in sie hineinschleichen wollten, dann suchte sie Ablenkung in anderen Dingen, häufig in ihren Büchern.

Die Sonne stand am blauen Himmel und warf ihr Licht auf die Erde. Kurz über dem Asphalt, in den Straßen von Wetzlar, flimmerte die erhitzte Luft. Sophie war gerade mit dem Zug am Bahnhof angekommen und bahnte sich einen Weg durch ihre Heimatstadt. Der Schweiß perlte ihr von der Stirn und ihre Kleidung klebte ihr am Leib. Der schwere Rucksack, den sie mit sich trug, tat sein übriges dazu.

Sie bog um die Ecke in die Brückenstraße. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zum Haus ihrer Eltern.

Die Sonne brannte erbarmungslos auf Sophie herab und ihr dunkles, langes Haar schien die Strahlen förmlich aufzusaugen. Sie hätte glauben können in einen Backofen geraten zu sein.

Schweiß perlte ihr von der Stirn und brannte in ihren smaragdgrünen Augen. Mit einer Handbewegung verschaffte sie sich Abhilfe.

Als sie vor der Haustür stand, kramte Sophie nach dem Schlüssel. Sie öffnete die Tür, trat ein und nahm zuerst einmal den Rucksack ab. Sie stand einen Moment so da und genoss die angenehme Kühle des Flurs, bevor sie in die Küche ging, die Kühlschranktür aufriss und sich eine Flasche Mineralwasser nahm, die sie sogleich auf den Mund stülpte. Das kalte Wasser tat ihrer ausgetrockneten Kehle gut. Zufrieden wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund nachdem sie fertig war. Sie war froh angekommen zu sein. Auch wenn sie in Heidelberg ihr eigenes Reich hatte, so bestand ihr Domizil dort doch nur aus einem kleinen Zimmer mit Toilette und Dusche. Da war das Haus ihrer Eltern doch etwas anderes. Ihr Vater war Unternehmer in der Elektrobranche und hatte seiner Familie ein sehr ansehnliches Heim geschaffen. Auf einem zwölfhundert Quadratmeter großen Grundstück baute er ein geräumiges Haus mit sehr vielen verwinkelten Zimmern.

Als Kind hatte Sophie mit ihrer Schwester Jana hier oft Verstecken gespielt.

Sophie spürte wie es ihr schwerer wurde zu atmen. Jana, dachte sie bedrückt. Sophie fingerte an dem Verschluss der Flasche, um sie wieder zu öffnen. Sie brauchte noch einen Schluck Wasser, denn sie wollte den Klos hinunterspülen, der sich in ihrem Hals zu manifestieren begann. Doch ihre Hände zitterten und der Plastikverschluss fiel auf den Boden. Hastig hob sie ihn wieder auf.

»Du bist ja schon da!«

Sophie sah zur Tür, wo ihre Mutter Klara stand. Erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit ihren wehmütigen Gedanken, ging sie auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Klara drückte sie herzlich an sich.

»Ja, ich habe einen früheren Zug genommen.« Sophie löste sich aus der Umarmung und stellte die Flasche ab.

Klara strich ihr durchs Haar. »Es ist schön, dass du da bist.«

Sophie lächelte etwas verlegen. Ihre Mutter war alt geworden, dachte sie. Sie schien die letzten Monate um zehn Jahre gealtert zu sein. Aber das war kein Wunder, es schien vielmehr die Trauer widerzuspiegeln, die ihre Mutter empfand. Sophie spürte wie der Klos in ihrem Hals noch stärker zu werden drohte. Sie zwang sich nochmals zu einem Lächeln, um ihre Sorge zu verdecken.

 

»Ich bin auch froh wieder hier zu sein, ist Papa noch in der Firma?«

»Nein, er ist oben in seinem Büro.«

Sophie wusste, dass es hier nicht leicht werden würde. Zu viele schmerzliche Erinnerungen an Jana gingen mit diesem Haus einher. Aber sie konnte auch nicht immer fern bleiben. Es war an der Zeit sich den Tatsachen zu stellen.

Sophie nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinauf stieg. Von weitem schon hörte sie die Stimme ihres Vaters.

»...und was heißt das jetzt?... Also mit anderen Worten, sie sind nicht bereit den Kredit aufzustocken... Ersparen sie mir ihre rhetorischen Ausschweifungen und sagen sie mir klipp und klar wie es weiter gehen soll!... Das ist doch wohl nicht ihr Ernst?... und das ist ihr letztes Wort?... Na, dann vielen Dank für gar nichts.«

Der Hörer flog scheppernd auf die Gabel.

Sophie sah ihren Vater gedankenversunken auf das Telefon starren, wohl noch geistig verbunden mit dem eben geführten Gespräch. Sie sah deutlich die Sorge die sich in dem Gesicht ihres Vaters widerspiegelte.

»Hallo, Papa.«, brachte sie etwas verlegen hervor.

Thomas Haller, aus den Gedanken gerissen, sah etwas erschrocken auf. »Was machst du denn hier?«

»Hast du das schon vergessen. Es sind Semesterferien.«

Er rieb sich nachdenklich die Stirn, bevor er sich wieder fasste und ein zögerliches Lächeln aufsetzte. »Ja, natürlich.«

»Ist was passiert?« Sophies Blick deutete auf das Telefon.

»Nein, alles in Ordnung.«

Sophie glaubte ihm nicht. Sie kannte ihren Vater nur allzu gut. Aber sie wusste auch, dass es jetzt keinen Sinn machte hier nachzuhaken.

»Aber erzähl, was macht das Studium. Platzt dir noch nicht der Kopf von all dem Lernstoff.«

Sophie setzte sich auf den mit grünem Samt bezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch.

»Nein, es läuft alles sehr gut.«

Sie erzählte ihm nicht, dass sie seit Janas Tod in einem tiefen emotionalen Loch steckte aus dem sie jetzt verzweifelt versuchte hinauszuklettern. Nach der furchtbaren Tragödie hätte sie das Studium fast geschmissen. Aber irgendwann wurde ihr bewusst, dass Aufgeben keinem genutzt hätte.

Mittlerweile hatte sie sich zumindest soweit im Griff, dass das Studium wieder seinen gewohnten Gang nahm. Warum also noch darüber reden?

»Wenn alles so weiter läuft, werde ich, wie geplant, nächstes Jahr abschließen.«

»Das freut mich sehr, Sophie.« Der Stolz in Thomas´ Stimme war nicht zu überhören.

Sie war ihrem Vater mehr als dankbar. Er hatte ihr nie Druck gemacht, oder Vorschriften darüber, was sie studieren solle. Romanische Philologie war nicht gerade der Renner auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Da gab es lukrativere Studienfächer. Dennoch gab es deshalb keine Diskussionen. Natürlich hatten sie sich darüber unterhalten, welches Studium in Frage kam, wie die wirtschaftliche Lage aussah, was ihre Vorlieben waren. Aber in irgendeine Studienrichtung hatte sie ihr Vater nie gedrängt. Davon abgesehen hatte sie auch konkrete Vorstellungen wie es nach dem Studium weitergehen sollte. Sie wollte in einem ausländischen Verlagshaus als Lektorin arbeiten und hatte bereits erste Kontakte geknüpft. In drei Tagen würde sie ein zweiwöchiges Praktikum beim Reno-Verlag in Straßburg absolvieren.

»Ja,« sagte Sophie, »es läuft alles wie geschmiert.« Dann stemmte sie sich aus dem Stuhl und ließ ihren Vater in Ruhe weiterarbeiten.

Auf dem Weg nach unten kam sie an Janas früherem Zimmer vorbei. Sophie blieb abrupt stehen. Ein leises Gefühl von Sehnsucht beschlich sie. Jana fehlte ihr sehr. Sie spürte wie dieses Gefühl immer mehr zunahm und sie setzte sich wie von selbst in Bewegung, öffnete die Zimmertür und trat ein in Janas früheres Reich. Ihr kam es merkwürdig vor so das Zimmer von Jana zu betreten. Es schien ihr eine Verletzung der Privatsphäre ihrer Schwester zu sein. Aber gleichzeitig spürte sie auch eine Art Vertrautheit die ihre Sehnsucht nach der Schwester noch stärker werden ließ. Sophie streifte durch das Zimmer und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Sie sah auf die Bücher in den Regalen, auf all die kleinen Dinge, die mit so vielen gemeinsamen Erinnerungen erfüllt waren. Sie nahm ein altes, verschlissenes Stoffpony vom Regal und lächelte wehmütig. Die Berührung des Stoffs verstärkte die Erinnerungen. Behutsam stellte sie es wieder beiseite und ging zum Kleiderschrank ihrer Schwester. Als sie ihn öffnete und ein Kleidungsstück hervorzog, zeugte dies noch deutlich vom Duft ihrer Schwester, und Sophie glaubte fast, dass Jana nicht tot sein konnte, sondern jeden Moment im Türrahmen stehen müsste.

Ein eisernes Band legte sich um ihren Brustkorb und zog sich langsam zu. Sophie atmete tief ein, um dem entgegenzuwirken, dann legte sie das Kleidungsstück zurück und schloss die Schranktür.

Es war schmerzlich hier zu stehen, zwischen all den Erinnerungen. Aber irgendetwas in ihr zwang sie dazu, dies zu durchleben. Dann sah sie das zwei Jahre alte Foto auf Janas Schreibtisch. Es zeigte die zwei Schwestern wie sie Arm in Arm glücklich in die Kamera lächelten. Sophie nahm es in die Hand, setzte sich auf Janas Bett und betrachtete es mit einem traurigen Lächeln. Dann sah sie wie Tropfen auf das Glas fielen. Erst dadurch wurde ihr bewusst, dass sie weinte. Jana, dachte sie. Es schien nicht möglich, dass sie tot war. Jana war immer so stark gewesen, voller Hoffnung und spürbarer Lebensfreude. Sie war stets das große Vorbild ihrer kleinen Schwester gewesen. Jana hatte immer das erreicht was sie wollte, sie hatte nie aufgegeben, bis sie an ihrem Ziel angelangt war. Und plötzlich musste Sophie lächeln. Sie erinnerte sich an ein Ereignis, dass vierzehn Jahre zurück lag. Es war nichts spektakuläres, aber es zeugte einfach von dem Willen und der Beharrlichkeit ihrer großen Schwester. Ihr Nachbar war ein passionierter Jäger, der einen Rauhaardackel namens Wotan besaß. Sophie musste schmunzeln als sie nun an den Namen des Hundes dachte. So ein großer Name für so einen kleinen Hund. Aber mit diesem Hund gingen Jana und Sophie öfter spazieren. Es war ein kleines quietschfideles Kerlchen, was neugierig jeden Stein beschnuppern musste und ungeheuer an der Leine zerren konnte.

Als sie wieder einmal bei dem Nachbarn vorbei sahen, um mit Wotan spazieren zu gehen, empfing sie ein verzweifelter Jäger, der ihnen erzählte, dass der Dackel seit letzter Nacht verschwunden sei. Er hatte ihn noch Abends auf sein umzäuntes Grundstück gelassen, damit der Dackel seinem Bedürfnis nachkommen konnte, aber als er später nach ihm sah war er verschwunden. Es stellte sich heraus, dass sich ein Loch im Zaun befand, durch das er wohl geschlüpft war. Der Nachbar hatte bereits überall nach dem Hund gesucht, aber leider ohne Erfolg. Auch Jana und Sophie gingen ihrerseits auf die Suche nach Wotan. Sie streiften den ganzen Tag durch das Wohngebiet und durch den angrenzenden Wald, aber auch ihre Suche blieb ohne Erfolg. Müde und enttäuscht kamen sie nach Hause. Sophie konnte nicht mehr, aber Jana wollte nicht aufgeben. Sie ignorierte das Verbot der Eltern, nach dem Abendessen das Haus zu verlassen, schlich sich raus und suchte den Dackel auf eigene Faust. Sie fand ihn schließlich in einem verlassenen Fuchsbau in der Nähe des Bismarckturmes. Sein Winseln war ihr aufgefallen und sie begann ihn mit bloßen Händen auszugraben.

Sophie erinnerte sich wie Jana mit Wotan auf dem Arm total verdreckt im Flur stand und die Eltern schockiert von der Expedition ihrer älteren Tochter zuerst einmal sprachlos waren. Trotz der deutlichen Rüge die dann folgte, sah man dass Jana glücklich war den kleinen erschöpften Dackel gerettet zu haben.