Vierecke fallen nicht zur Seite

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Mit der linken Hand hielt sie sich den Zeigefinger auf die schmalen Lippen und mit der rechten Hand zählte sie von Fünf runter. SS-Sveni stupste Ian an und zeigte lachend auf die flache Hand.

Da konnte man lange herumreden, aber es sah einfach aus wie ein Hitlergruß.

„Warum machen die das? Bei Freya in der Schule macht das auch Eine. Letztes Jahr die Zecke auch“, meinte Ian zu seinem Kumpel. Mehrere Schüler lachten mit Ian und Sven mit, da versuchte Frau Lärmer mit einem lauten „EY! Ruhe jetzt“ eben diese in die Klasse zubringen. Dabei überschlug sich ihrer Stimme wie Schlagmann, der von Lena und Vivien gleichzeitig angesprochen wurde.

Schnell wechselte sich das Thema, Frau Lärmer-Nilmarch kam mit ihrem Anliegen einfach nicht weiter. So ein Stuhlkreis mochte in der Theorie eine gute Idee sein, nur bestand in der Theorie so eine handelsübliche siebte Klasse nicht aus dreißig Chaoten. Es war wirklich laut.

Die gelangweilte Darla Koc wollte nun über ihr Problem reden. Angeblich hatte sie oder jemand anderes etwas entwendet. Frau Lärmer-Nilmarch gab sich beim Zuhören viel Mühe, aber wenn jeder zweite Satz „Weisscht du?“ war, fiel das schwer.

„... dann haben die uns rassistisch beleidigt, Barbara und Vivien, weil wir was geklaut hätten. Da habe ich dann gesagt, wir sind doch keine Zigeuner oder Polacken“, sagte Darla.

„Ne, Kanaken“, rief SS-Sveni laut durch den Raum. Er wurde rausgeschickt und sollte in den „Time-Out-Raum“ gehen. Damit war die Deutschstunde auch vorbei und das Kunstraumproblem vergessen.

Bis zum Wochenende hatte sich das Wetter nicht gebessert. Es war Sonnabendnachmittag und Freya und Ian saßen in ihrem Kinderzimmer. Ian hatte das Mathebuch auf dem Schoß. Er trug einen fleckige, graue Jogginghose. Die Socken über dem Stoff. Das linke Bein zappelte auf und ab. Ian war nicht nervös. Nicht jetzt und auch sonst selten. Und selbst wenn er nervös war, merkte man das kaum. Auf die Arroganz in seiner Stimme war er stolz.

Er war jung, manchmal fiepte die Stimme, aber das würde vergehen.

Bisweilen dachte er, dass Stimme und Geist zwei verschiedene Dinge wären. Er zappelte nur, weil es sein Tick war. Lena störte es. Aber fünf Minuten nachdem er aufgehört hatte, fing er wieder an zu zappeln. Es war nicht wirklich un- und nicht wirklich bewusst, eher etwas dazwischen, wie Laufen.

„8 mal 7?“

„8 mal 7? Ehm, 56!“

„Du brauchst die Frage nicht zu wiederholen, du kennst die Antwort doch.“

Ian wusste es deshalb, weil Freya nur einmal „8 mal 7“ gesagt hatte. Er fragte sie weiter ab und ließ sich von ihr die Antworten sagen. Sie konnte noch nicht so gut Kopfrechnen wie Ian, aber das war nicht schlimm, schließlich würde sie erst im März neun Jahre alt werden. Ian selbst war schon Anfang Oktober Dreizehn geworden. In seinem Ranzen lag eine Einladung von Vivien zu ihrem Geburtstag. Am 17. Dezember war der und die Einladung war selbstgebastelt. Ian freute sich schon sehr darauf.

Als er gerade die nächste Frage stellen wollte, knallte es im Hintergrund. Ihr Vater hielt Nachmittagsschlaf. Das Wohnzimmer war nicht weit entfernt und er schnarchte absurd laut. Für Freya fühlte sich das wie eine dauerhafte Drohkulisse an. Ian war es egal. Am Sonnabend hielt der Herr und Gebieter eben einen ausgedehnten Mittagsschlaf. War schon immer so. Samstags war Ian auch zunehmend seltener zuhause, da störte ihn das wenig. Doch heute regnete es zu stark. Da tauschte er das Herumstrolchen gegen Zeit mit seiner Schwester ein; war auch nicht schlecht. Er hatte gehofft, dass es zumindest für eine Stunde aufhören würde, aber der Regen prasselte unnachlässig gegen die Fensterscheibe. Freya saß auf dem Fensterbrett und blickte auf die Mülltonnen im Hof. Eine Pizzakarton schaute aus der Blauen heraus. Ein Tropfen nach dem anderen drückte ihn nach unten. Sie hatte sich schon gefreut mit Ian zu der Telefonzelle zu gehen, um sich ein neues Buch herauszusuchen. Stattdessen musste sie Mathehausaufgaben machen, wenigstens half ihr Bruder ihr dabei. Freya wusste, dass er an den Wochenenden gar nicht gern zuhause war.

Ian schaute auf den Wecker. Es war ein rundes Plastikding, ein Zylinder mit einem aufgeklebten Bild des Tuhlmspatzen. Die Uhr zeigte 17:00 Uhr an.

„So genug Mathe für heute, ich mach jetzt Essen.“

Samstags wurde um Sechs gegessen; Sportschauzeit. Frau Teutschwitz war auf Arbeit und Ian ließ Freya allein im Kinderzimmer zurück. Sie blieb zunächst am Fenster sitzen, dann nahm sie sich ein kleines Spielzeugauto und fuhr über die teils abgerissenen Silikonfugen, dann hüpfte das Auto auf die Tür des Kleiderschrankes, bis hoch kam es nicht, von dort ging es zum Schreibtisch. Der war eigentlich aufgeräumt, aber da es nur wenig Platz gab, sah es trotzdem liederlich aus.

Freya parkte bei einem Stapel von gelben Büchlein. Sie hatte sie alle dreifach gelesen. Sie waren ihre Flucht aus der einsamen Wohnung. Sie wollte raus, raus aus Paulmander, am liebsten für immer. Sie träumte von einem Dorfleben, mit Kühen, Pferden, Schafen und kubanischen Zwergwachteln. Sie träumte von einem riesigen Essenstisch, mit Bananen, frischen Erdbeeren, mit Vollkornbrötchen und Gesichtswurst.

Hier im Kleinhauerweg 42 gab es das nicht. Hier hatte Ian Linseneintopf aus der Dose warm gemacht. Zu dritt saßen sie vor dem Fernseher und schauten Fußball. Freya hockte auf dem Boden neben Ian, denn da war sie sicher.

Nach etwa einer Stunde kam die Mutter nachhause, da hatte Freya die Teller schon abgewaschen, zum Glück, denn sonst hätte es einen Mordsärger gegeben. Der Vater trank noch ein paar weitere Bier, bis er vor dem Fernseher einschlief. Freya und Ian verkrümelten sich in ihr Zimmer. Sie spielten mit Klemmbausteinen.

Die eine Hand hielt eine Noppenplatte und die andere würde einen Baseballschläger greifen, um Ausländer zu verprügeln. Ian war nicht der Gute. Von Geburt an nicht.

Gegen Neun setzte sich Ian an den Schreibtisch. Auch er hatte Mathehausaufgaben auf. Sie sollten Fakten zu Laplace heraussuchen. Ian hatte keinen Laptop und mit dem Handy traute er sich nicht ins Netz zu gehen. Alles was ihm zur Verfügung stand, war der kursiv gedruckte Text in seinem Lehrbuch.

„Das ist eine Chance, sich mal eine gute Note zu verdienen. Gerade für die, die sonst nicht so gut sind“, hatte Frau Madic die Mathelehrerin, gesagt.

Ian hatte nur Einsen und Zweien in Mathe, er brauchte keine Chance. Er fand solche Aufgaben allerdings auch so unfassbar dämlich. In seinem Lehrbuch standen die Geburts- und Todesdaten von Laplace, juckte ihn nicht, außerdem war der gute Herr Innenminister von Napoleon gewesen.

Ihh Franzosen, das waren doch die Feinde, oder?

Ian schrieb die Infos nicht ab. Eigentlich machte er die Hausaufgaben immer, meist hatte er ja nun wirklich nichts Besseres zu tun. Aber bei so einem Nonsens sträubte es sich in ihm.

Er legte sich ins Bett und schlief in zehn Minuten ein. Zehn Minuten, bis eine traumlose Nacht begann. Traumlos wie jede davor. Ein Endloslauf, der ihn jetzt schon ankotzte.

Der Tuhlmspatz zwitscherte und Ian drückte seinen Rücken durch, so dass Hände und Beine in der Luft schwebten. Mit einem Ruck schwang er sich aus dem Bett und ging in das Bad. Freya rieb sich noch den Schlafsand aus den Augen. Beim Frühstück gab sie sich genügsam. Ian animierte sie, mehr zu essen, doch sie wollte nicht. Ihr Ranzen wog an diesem Dienstag besonders viel. Freya hatte heute sechs Stunden Unterricht, der längste Tag der Woche stand an. Für Deutsch, Mathe und Sachkundeunterricht benötigte sie ein dickes Lehrbuch, so wie jeweils zwei Arbeitshefte. Mit den Arbeitsheften machten sie nie etwas im Unterricht, die waren nur für Hausaufgaben gut. Man musste sie aber trotzdem immer mitbringen. Außerdem stand noch Kunst, da brauchte sie nichts mitnehmen, und Ethik auf dem Stundenplan. Für Ethik hatte sie gleich zwei Lehrbücher. Hätte sie ihre Sporttasche noch tragen müssen, hätte es gut sein können, dass sie nach hinten umgekippt wäre. Doch die alte Tasche mit Delphinen, die natürlich früher ihrem Bruder gehörte, baumelte in dessen Armbeuge.

Alex stand wieder vor der Tür, er hatte für das kalte Wetter die falsche Kleidung. Zu dritt gingen sie wieder einmal den Kleinhauerweg entlang. Vor der Hausnummer 38 blieben sie stehen und Freya klingelte bei „Schmidt“. Ihr Banknachbar Patrick kam die Treppe hinunter. Die untere Glasscheibe der Tür hatte einen großen Riss und wackelte gefährlich, als der kleine Junge sie gegen den Stopper donnerte. Um die Tür aufzumachen, musste er Schwung holen. Er war einen Kopf kleiner als Freya. Seine Waden hatten ungefähr die Breite von Alex´ Daumen.

Auch bei kleinen Füßen können zwei enge Schritte wie ein großer Abdruck aussehen.

Freya versuchte ihn ein paar Mal zum Reden zu bringen, doch im Beisein von Ian und Alex traute er sich nicht den Mund aufzumachen.

Dort, wo die Raucher und Fahrradfahrer standen, verabschiedeten sich die Geschwister wieder voneinander. Ian und Alex gingen zu der Tür. Lena Kraft stand unweit des Bauzaunes, neben ihr Adem, Erol und Elen. Als sie Ian sah, kam sie ihm entgegen. Lena warf sich Ian an den Hals. Sie küssten sich und da sie Kinder waren, sah es wie ein alberner Kinderkuss aus. Ziemlich sicher, war da auch ein Stück Schneidezahn dabei.

„Ihr könnt schon hochgehen, ich muss noch warten“, sagte Alex.

„Okay“, meinte Lena und wollte Ian an der Hand nach oben ziehen. Die erste Stunde auf dem Plan war Mathe. Die Hausaufgaben hatte Ian schon verdrängt, hochziehen ließ er sich dennoch nicht.

„Ne, ich warte mit dir hier.“

„Alles gut, brauchst du nicht.“

Erst als Vivien mit einer Freundin aus der Parallelklasse aus dem Tunnel kam, verstand Ian.

 

Lena fragte ihn auf der Treppe: „Hast du dir Gedanken gemacht?“

„Über was?“

„Na über was?! Das, was wir gelesen haben. Was besser ist. Schmetterling oder Kuh?“

„Lena, ich weiß nicht. Keine Ahnung. Ist bestimmt beides gut.“

„Vor zwei Wochen habe ich dich gefragt, du musst es doch langsam wissen.“

„Nja.“

An der Tür des Raumes 401 beendete Ian das Gespräch. Da er aber neben Lena saß, konnte er damit rechnen, dass sie heute nicht das letzte Mal über diese Zeitschriften sprechen würden.

Fünf Minuten nach dem Klingeln kam Frau Madic in den Raum. Die Reihen waren noch sehr gelichtet. Sicherlich kamen viele Schüler oft zu spät, aber Ian wusste, dass es heute einen anderen Grund gab. In der zweiten Stunde hatten sie Geschichte mit Frau Brunne und die fehlenden Schüler waren mit Vorträgen an der Reihe. Lena und er hatten ihren schon vor über einer Woche gehalten, dementsprechend gesund konnten sie sein. Er war bei Lena zuhause gewesen, sie hatte ihm den Laptop gegeben und selber mit dem Handy gearbeitet, obwohl das viel langsamer war. Sie hatten für den Vortrag über die Entstehung der Partei für soziale Gerechtigkeit in den 80ern eine Eins und eine Zwei bekommen. Beide waren gleich gut gewesen. Lena hatte Karteikarten und Ian ein Löschblatt in der Hand gehalten, daran muss es gelegen haben, wahrscheinlich hatte deshalb Lena die bessere Note bekommen.

„So, kommen wir zu den Hausaufgaben. Möchte jemand freiwillig?“, fragte Frau Madic in die Klasse hinein.

Die meisten Schüler schauten sich verstohlen an, rutschten ihren Stuhl hinunter, kramten in ihrem Ranzen und tranken einen Schluck aus der Flasche. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass Hausaufgaben dazu waren, sie weiterzubringen. Für sie ging es immer nur darum, nicht zu den zwei Unglücksraben zu gehören, die drangenommen wurden. Es war nicht wahrscheinlich, dass man über Laplace etwas sagen musste, also gingen sie das Risiko ein.

Vielleicht hätte Laplace das ja gefallen, zumindest, wenn die Schüler die Quoten hätten ausrechnen können.

„Na, dann muss ich wohl würfeln.“

Frau Madic holte einen stinknormalen Würfel aus der Federmappe heraus.

Laplace kratzte sich an der Stirn.

„Von Oben oder von Unten Adem?“, fragte sie.

Hier stimmte doch etwas nicht.

„Von Oben.“

„Okay, dann von Unten.“

Erst, nachdem sie es ausgesprochen hatte, merkte Frau Madic, dass Adem Aslan sie ausgetrickst hatte. Frau Madic würfelte eine Sechs und fuhr mit dem Finger über die Namen im Klassenbuch.

„Franz. Franz Timbherg, stehst du bitte auf?“

Stille.

„Der ist krank“, rief dann Jale Bayram. Frau Madic dreht sich ganz erschrocken um. Jale saß so weit vorn, sie hatte sie glatt übersehen.

„Achso, danke Jennifer, dann ist der Nächste, ehm, der Nächste ist Ian Teutschwitz. Ian stehst du bitte auf! Was hast du denn über den guten Herrn Laplace herausfinden können?“

„Nichts. Er war Franzose.“

„Na, das ist doch schon mal was. Was weißt du noch?“

„Nix!“

Ian war nach der Stunde stinksauer, für den restlichen Tag. Das merkt auch Leroy, der von Ian in der Hofpause die Treppe hochgeschubst wurde, weil er angeblich zu langsam lief. Dabei konnte Leroy sich noch glücklich schätzen. Denn zu diesem Zeitpunkt wusste Ian nicht, dass sich der ganze Spaß noch zwei weitere Mathestunden wiederholen würde. Dreimal sagte er nichts über Laplace und bis er in der vierten Stunde von Elen abgelöst wurde, die einen viertelstündigen Vortrag hielt, sammelte er insgesamt drei Sechsen. Damit versaute er sich den Schnitt seines besten Faches. Frau Madic verstand nicht, wie ein so junger Mensch schon so dumm und stur sein konnte, so ein paar Informationen hätte er sich ja ergoogeln können. Sie erwartete keinen Vortrag, aber ein wenig Anstrengungen mussten schon für die Schule erbracht werden. Das, wenn auch mit schöneren Worten, sagte sie auch Ians Mutter am Telefon. Sie war so großzügig und gab Ian schlussendlich doch nur eine Sechs, schließlich musste es ja eine Strafe für das aufmüpfige Verhalten geben. Hätte Ian gewusst, was ihm zuhause blühte, wäre er wahrscheinlich gar nicht in den Deutschraum gegangen.

Frau Lärmer-Nilmarch hatte eine Überraschung für ihre Schüler. Eine unangekündigte Leistungskontrolle. Sie sollten eine Reizwortgeschichte aus der Ich-Sicht über das Thema Glück schreiben. Die Geschichte sollte eine A4-Seite lang sein und dabei die Worte „Glaube, Lebensziele, Reue und Familie“ enthalten. Ian war ziemlich angepisst, gerne hätte er, wie SS-Sveni seinen Stift durch den Raum gefackt, doch er hatte nur den einen. Solche Aufsätze nervten ihn generell, außerdem würde er mit seiner kleinen Schrift mehr schreiben müssen als die anderen. Er zog die Kappe seines Kulis ab und schrieb den ersten Buchstaben. Er drückte nicht dolle auf. Alles sah wie immer aus, doch innerlich brodelte er.

Ian hätte größer schreiben können, doch deutsch sein, bedeutet treu sein, das konnte auch seine Schrift erwarten. Gerade wenn es schwerfällt, behaart man auf seinen Prinzipien. Dafür sind sie schließlich da.

Ich bin gerade sehr glücklich. Das zweite Johannisbeereis hat vorzüglich gemundet. Ist mein Lieblingseis. Eigentlich nur mein Zweitlieblingseis. Am besten finde ich Pfirsich-Walnuss. Aber da komme ich nicht ran. Das ist immer ganz oben auf dem Regal. Aber mein Bauch ist zu dick. Viel zu dick. Ich müsste mich an das Regal stellen, auf die Zehenspitzen gehen und meine Schwabbelarme nach oben strecken, geht aber nicht, weil Bauch. Also gibt es Johannisbeereis. Auch gut. Auch lecker. Das und Fernsehen macht mich glücklich. Sonst mach ich auch nicht viel. In meiner Freizeit zumindest nicht. Geh noch arbeiten, aber das war´s. Arbeite in der Schule. In meiner Freizeit geh ich manchmal noch in die Kirche. Früher dachte ich immer, der GLAUBE wäre etwas für Versager. Für Keks, die sich selbst verarschen. Gott, Schlange, geteiltes Meer und der ganze Plunder. Konnte nur ein Ort für Selbstzweifler sein. Heute bin ich auch Christ. Fühle mich da pudelwohl. Das Beste ist, dass alle auf mich Rücksicht nehmen müssen. Wegen meinen Gefühlen und so. Kann den größten Quatsch erzählen, Leute dürfen wegen mir Sonntags nicht Fußballspielen und Karfreitags nicht tanzen. Außerdem können wir sagen, was okay ist und was nicht. Die da oben hören auf uns. Wenn man Christ ist, gehört man zu einer FAMILIE, die die Stadt beherrscht. Geile Sache.

Es ist auch so, dass ich nie in der Bringschuld bin. Pfeif auf Argumente, ich habe ja Gefühle. Religiöse Gefühle und die darf niemand verletzen.

In der Gemeinde reden die Leute auch mit mir. Das ist toll. Rede nicht mehr so oft. Liegt auch an den schwarzen Shirts. Trage nur noch solche. Da sieht man nicht, wie fett ich bin. Als Christ kann ich nicht beleidigt werden, als fette Sau schon. Nicht toll. Die schwarzen Oberteile fusseln ganz stark, liegt aber auch an meinem Schweiß. Sieht immer so aus, als würde ich unter meinem T-Shirt noch ein zweites tragen.

Wenn ich mit meinen Kollegen draußen stehe, trinken wir Kaffee und rauchen Zigaretten. Ich trinke meinen Kaffee mit vier Esslöffeln Sahne und drei Schuss Weihwasser aus der Glasflasche. Wenn ich bei der Pause ganz wild unterwegs bin, reiß ich mir das Namensschild von der Brust und rufe „Gottverdammich“ . Während wir rauchen, wird viel gelacht. Wir lästern nämlich. Die ganze Zeit. Von früh bis spät. Das ist das beste am Lehrerberuf.

Blöd ist nur, dass die anderen auch lästern, wenn ich nicht da bin, über mich. Das macht mich unglücklich. Dann geh ich in die Kirche und suche Trost.

Mir wäre ja am Allerliebsten, dass ich lästern könnte, die anderen aber nicht über mich. Bin nämlich eine kleine Memme.

Aber irgendwie ist das ja ein kleiner Widerspruch. Erst vor kurzem konnte ich den auflösen. Papst Knabfig hat mir gesagt, dass die Kirche ein verdammt reicher Verein ist. Hätte mir auffallen können, schließlich trinke ich meinen Wein aus goldenen Bechern. Jetzt labern wir Christen aber von Nächstenliebe und den ganzen Bullshit, den Armen soll geholfen werden. Könnten wir ja machen, machen wir Christen aber nicht. Das Geld dazu hätten wir ja. Wichtig ist aber nicht, zu helfen, sondern zu sagen, dass man helfen sollte. Ich kann also getrost lästern und trotzdem von den anderen verlangen, dass sie aufhören. Gott sei Dank.

Bei meiner achten Zigarette fällt mir eine lustige Geschichte ein. Ich erzähle meinen Kollegen, wie meine Schüler letztens einen Aufsatz über ihre LEBENSZIELE schreiben sollten. Die dummen Plagen schrieben was von Tierarzt, Politiker oder Fußballer. Die sind alle so dumm. Die bekommen gerade mal einen Realschulabschluss. Meine Kollegen und ich, die übrigens alle ein Gymnasium besucht haben, lachten vorzüglich.

Es ist schon toll Lehrer zu sein. REUE habe ich nie gespürt und das, obwohl ich auch Musiklehrerin bin. Sinnloser kann ein Leben eigentlich gar nicht sein. Ich sage 1,75m ist das Ziel und wenn ein Schüler nur 1,60m ist, behaupte ich, dass jeder diese Größe schaffen kann. Am meisten Spaß macht mir der Lehrerberuf, wenn die Wänster nach vorne müssen und beim Singen vor Angst mit dem Knie zappeln. Außerdem kann ich darauf bestehen, dass christliche Lieder gesungen werden. Und wenn die Aisches und Mehmets das nicht wollen, dann bekommen sie wegen Missachtung ihrer Schulpflicht eine Sechs. Weil ich ein Arschloch bin, bin ich superglücklich.

Bis zum Klingen dauerte es noch fünf Minuten. Ian war aber schon fertig. Als Frau Lärmer-Nilmarch „Stifte weg“ rief, schrieben viele Mädchen noch, die meisten hatten mehr als eine Seite in Anspruch genommen. Ian gab seinen Aufsatz ab und hatte sich seiner Wut entledigt.

Lena und Ian würden Vivien gemeinsam etwas schenken. Lena hatte es besorgt und bezahlt. Sie trug es auch zur Party. Ian fühlte sich nie wohl, wenn andere für ihn etwas bezahlten. Lena hatte darüber aber gar nicht diskutieren wollen. Sie hatte Ian nur Bescheid gegeben. Zu der Geburtstagsfeier würde sie gemeinsam mit Franz Timbherg von ihrer Mutter gefahren werden. Ian stand an der U-Bahnstation „Paulmander Ring“ und schaute auf die beschmierte Karte. Sie war bedeckt mit Stickern und Graffiti. Ian konnte sein Ziel nicht erkennen. Es nieselte leicht, deshalb hatte er die Kapuze aufgesetzt. Die Jacke hatte seinem Vater gehört. Sie war ihm viel zu groß. Am Saum und an den Ärmeln gab es eingenähte Gummibänder, deshalb lag sie dort eng an. Doch der Rest der Jacke war wie ein Ballon aufgebläht. Ian stellte sich vor, dass er darin breit aussah. Nur mit viel Wohlwollen war das der Fall. Der Junge gab es auf, die Frieda-Goldmannstraße zu suchen. Es war jetzt 11:00 Uhr und in einer Stunde sollten sie sich bei Vivien treffen. Wenn er pünktlich sein wollte, musste er nun los. Vivien wohnte irgendwo am „Helmsblum“, das wusste er, er wusste auch, wie er dort hinkam. Ian fuhr nicht oft mit den Öffentlichen, aber er fand sich schon zurecht. Mal mehr, mal weniger. In der U6 Richtung „Max-Anole-Platz“ fühlte er sich trotzdem wie ein Tourist. Immer wieder schaute er auf den kleinen Bildschirm, vier Stationen musste er fahren. Ian saß in einen der mittleren Waggons, die Bahn war nicht voll. Man konnte von seinem Platz bis ganz nach vorne schauen. Ian mochte es, wie die Bahn sich in die Kurven zu werfen schien.

Am „Max-Anole-Platz“ angekommen. Ian stand zu spät auf. Musste sich durch die wartenden Mengen quetschen. Viele strömten schon rein. Hier stiegen viele zu. Mit einem Mal war die Bahn voll. An dieser Station war Ian noch nie umgestiegen, er fand sie riesig. Drei U-Bahnlinien und zwei S-Bahnlinien hielten hier. Oben gab es noch einen Busbahnhof für die Achter und die Hundertelfer, außerdem hielt der äußere Ringbus hier.

In Schaldstätten gab es drei Schnellbuslinien, die jeweils die großen Knotenpunkte abfuhren. Der Innere hatte nur eine ganz kurze Route, welche sich im Wesentlichen auf das Zentrum und den Hafen konzentrierte. Der mittlere Ringbus hielt an der Westgrenze von Weselsheim, am alten Rathaus, er hielt an der Südgrenze von Mauendorf, dort wo die Staatsanwaltschaft war, er hielt in Kleinsbeck und umfuhr einmal das Zentrum. Der äußere Ringbus nahm hauptsächlich die Bahnhöfe mit, bei denen auch Regionalzüge hielten. Wenn man aus den umliegenden Ortschaften kam, musste man nicht unbedingt bis zum Hauptbahnhof ins Stadtzentrum fahren. Man konnte die Außenstationen nehmen und hatte eine gute Anbindung. Das sparte viel Zeit.

Am „Max-Anole-Platz“ gab es keine Zuganbindung. Ian musste in die U3 umsteigen. Aber wo die gelbe Linie fuhr, wusste er nicht. Ein Wirrwarr aus Pfeilen und Hinweisschildern sollte den Weg zeigen. Ians Blick blieb auf einem großen Plakat kleben.

 

Das Max-Anole-Zentrum würde am 22.Dezember ein großes Fest veranstalten. Es gab einen Tag der offenen Tür beim Sportgymnasium. Den Hintergrund des Plakates bildete ein Klassenzimmer der Schule. Dafür war das Gymnasium stadtgrenzenübergreifend bekannt. Normale Klassenzimmer, in die dreißig Schüler gequetscht wurden, gab es nicht mehr. Sofas, bunte Tische und helle Wände ohne Schimmel ließen die Räume und dadurch auch das Plakat freundlich aussehen. Zwei Schüler standen an einem Whiteboard. Für Ian waren das Außerirdische. Er kannte keinen vom Gymnasium. Streber und Schaumschläger, die sich für etwas Besseres hielten, weil ihre Eltern Tierärzte, Politiker oder Boxer waren. Links am Bildschirmrand wurde auf den örtlichen Boxverein aufmerksam gemacht. Zwei Mittelgewichte standen in roten und blauen Dress Schulter an Schulter, die Boxhandschuhe zur Kamera gerichtet. Unter ihnen, die Bilder waren an der Hüfte abgeschnitten, standen zwei Jugendliche. Unter einem der jungen Sportler stand der Name Rocco Schneider. Ian kannte dessen Vater, Fritz „Kantenkiefer“ Schneider. Jeder im Viertel kannte ihn, Paulmanders ganzer Stolz. Stadtviertelüberschreitende Bekanntheit. Den Spitznamen hatte er sich redlich verdient. Bis auf seine beiden letzten Kämpfe war er nie zu Boden gegangen. Dazu sah er so aus, als würde er Okowenkos kantigen Schädel links und rechts einmal unterm Ohr tragen. Roccos Züge konnte man unter dem blauen Helm nicht so gut erkennen. Wie alt er wohl war? Nicht viel jünger als Ian. Roccos Vater hatte auch als Amateurboxer angefangen.

Neben den Boxern standen die Mädels des Handballvereins. Die spielten in der ersten Liga und mussten sich ihren Platz mit der Ablaufliste teilen. Ian las sie sich nicht durch. Er würde nicht zum Tag der offenen Tür gehen. Wenn er am 24.Dezember gewesen wäre, dann ja. Weihnachten bei den Teutschwitz war ein absoluter Fluchtgrund.

Dass die heilige Zeit vor der Tür stand, konnte man in Schaldstätten leicht übersehen. Ian hatte sich verirrt und war hinaus auf die Straße getreten. Mit Ausnahme von zwei Glühweinständen sah die Stadt aus wie immer. Es war auffallend dunkel, aber da Ian wieder kehrt machte und die Treppenstufen hinunterlief, störte ihn das wenig. Beim zweiten Suchen, fand er die Rolltreppe zur U3. Eine Bahn war im Inbegriff loszufahren, das „Bitte zurücktreten“ konnte man schon hören, doch Ian beeilte sich nicht. Erst schaute er auf eine Säule, die die Stationen anzeigte. Damit hatte er Glück gehabt. Wenn er zum „Helmsblum“ wollte, musste er nämlich zum „Sieversdamm“ fahren. Dafür musste Ian an den anderen Gleis. Er schlüpfte durch einen Durchgang in der Wand, schaute auf die Zeitanzeige und wartete drei Minuten, bis er sich in die U3 quetschte. Alle U-Bahnlinien führten zum Hauptbahnhof, aber die U3 startete am Flughafen und war deshalb immer voll. Ian konnte sich nirgends festhalten, er krallte seine Füße in den Boden und stemmte sich gegen die Fahrtrichtung. Er war froh, als er aussteigen konnte. Der „Sieversdamm“ war deutlich kleiner. Ian fand schnell den Weg nach oben. Hier war die Karte lesbar. Er befand sich am nördlichen Ende des „Helmsblum“, die Frieda-Goldmann-Straße war im Süden. Ian schaute auf sein Handy, er hatte noch fünfundzwanzig Minuten Zeit.

Der „Helmsblum“ hatte von oben die Form einer Träne. An der spitzen Seite befand sich die U-Bahnstation, aus der Ian gelaufen kam. Die Ludwigsallee wurde von dem Park getrennt. Links und rechts gab es zwei große Straßen, die an der südlichen Seite des Parks wieder zu der großen Alle wurden, die fast schnurgerade einmal durch den Stadtteil Weselsheim führte. Links neben Ian standen mehrere große Gebäude im Jugendstil. Es handelte sich um das Amtsgericht Weselsheim, welches örtlich für die Viertel Paulmander und Weselsheim zuständig war. Daneben standen das Mahngericht, davon hatte Schaldstätten nur eins und die UHA Neilbrunn. Auf der anderen Seite des Parks stand ein großes Einkaufszentrum, auf der zweiten und dritten Etage befand sich eine riesige Buchhandlung. Ian wollte sie unbedingt Freya zeigen. So wie es aussah, konnte man sich auf Sessel an die Fensterfront setzen und über den großen Park schauen. Ian müsste ihn einmal queren. Es fuhr auch ein Bus, aber er hatte nur noch 2,80 € im Portmonee, so viel kostete die Rückfahrt. Ian bekam kein Taschengeld, so genau wusste er gar nicht, woher er die Münzen hatte.

Die Häuser neben den Gerichten und dem Einkaufspark sahen alle ziemlich ähnlich aus, einige waren älter, andere jünger, doch sie alle hatten ein Geschäft im Erdgeschoss und Wohnungen darüber. Die Viertel Paulmander und Weselsheim gingen an dieser Stelle fließend ineinander über.

Man merkte kaum, dass es Winter war. Sicherlich, es war nass und stürmisch, aber von Schnee war weit und breit keine Spur. Manche Pflanzen sahen sogar aus, als würden sie knospen. Ian lief auf dem mittleren, geteerten Weg. Ihm kamen nur ein paar Jogger und Gassigeher entgegen. Die Straßen an der Seite waren allerdings gut gefüllt. Die Fußgänger hielten sich im Trockenen unter den Vordächern der Geschäfte. Kurz bevor Ian bei den Basketballfeldern ankam, grüßte er zwei Polizisten. Die grüßten nicht zurück. Ian würde später froh sein, dass er von Polizisten oft übersehen wurde.

Haut und Haare waren zu hell.

Zwischen den Körben spielte niemand. Die Plätze in Paulmander waren immer belegt. Deutsche durften da nicht spielen, sie gehörten den Türken und Arabern. Ian und die anderen spielten manchmal in der Nähe des Jotta-Liebermann-Parks Fußball. Es gab nur ein Tor, aber Ranzen und Trinkflaschen bildeten die anderen Pfosten. Das Grundstück war begrenzt von zwei Mehrfamilienhäusern, einer Freifläche, auf der das Unkraut wucherte, den Park und zwei Reihenhäusern, die mitten im Nirgendwo standen. Paulmander war, was den Baustil betraf, ein riesiger Flickenteppich. Zwischen Park und Tor gab es einen kleinen Spielplatz, ab und an flog der Ball zu den kleinen Kindern. Als die Polizei kam, dachte Ian, dass eine der Mütter auf der Bank sich beschwert hatte. Doch die Polizisten sagten etwas von Ruhestörung. Sie waren am Anfang ganz nett. Doch SS-Sveni fing an sie zu beleidigen.

So war er.

Ein Anwohner hatte sich beschwert. Beim nächsten Mal bekamen die Kinder Platzverbot und beim dritten Mal war das Tor abgebaut. Jetzt hatten sie keinen Platz mehr zum Ballspielen.

Der Fußweg gabelte sich. Ian lief schnurgerade aus. Die Häuserfront wurde von einer Ausfallstraße unterbrochen, an deren Rand eine Tankstelle stand. Die beiden großen Straßen, die den Helmsblum umrahmten, verbanden sich zu der großen Allee. In der Mitte fuhr der Schnellbus. Ein Zusammenspiel aus Tunneln und Überführungen trennte die Fahrbahn von den Fußgängern. Ian lief über die rechte Brücke und befand sich nun inmitten der Menschenmenge. Eine Traube von Passanten drängte sich in den Bus. Ian versuchte sich seinen Weg zu bahnen. Der Schatten der riesigen Häuser ließ, die ohnehin nur spärlich vorhandene Sonnenstrahlung gänzlich verschwinden. Einmal bog Ian nach rechts ab, musste wegen einer Baustelle die Straßenseite wechseln und ging dann links in die Frieda-Goldmann-Straße. Die Hausnummer 27 lag eingeengt zwischen einem neuen Gebäude, in dessen ersten beiden Etagen sich ein Geschäft mit geschwungenen Scheiben und dem Namen „Fireheim“ befand und einem Lagerhaus. Vor dem Haus stand ein türkisfarbener Seat aus dem Lena und Franz stiegen, Mama Kraft winkte Ian beim Vorbeifahren zu. Vivien kam zum Tor gelaufen und begrüßte ihre Geburtstagsgäste. Der Yorkshire Terrier Amsel und der Mischling Timon wuselten zu ihren Beinen. Amsel war fein frisiert. Timon sah aus, als hätte man zu viel in den Mixer gelegt.

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