Kandenberg-Alt Schmiede

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„Ach ich habe mir nur Nudeln gemacht, aber ja, die haben wirklich sehr gut geschmeckt, du bist eine Superköchin“, sagte Terrier und stolperte. Er konnte sich gerade so an Elifs Schulter festhalten.

„Also das ist ja wirklich ein stumpfer Flirtversuch. So suchst du Nähe?“, scherzte Elif. Sie lachte nicht wie eine Taube.

„Nein, hab ich nicht, wollte ich gar nicht. Bin gestolpert. Hier guck, die Kante.“

„Alles gut. Ich kenne den Weg ja. Es ist doch mein Uniweg. Hier stolpere ich oft. Das Moos hebt die Platten sehr stark an. Wenn ich hier mit Musik laufe, dann stolpere ich eigentlich so gut wie immer. Guck mal hier die Kerbe. Da läuft man automatisch wie auf Eiern.“

Jetzt waren sie am Ende der Einkaufsstraße angelangt und mussten wieder eine Kreuzung überqueren. Elif flitze noch schnell rüber. Terrier hingegen wartete als Rot wurde. Er fühlte sich erneut wie ein Trottel.

Elif stand nun in der Mitte des gegenüberliegen Platzes. Der trug den Namen einer Größe des deutschen Reiches und würde spätestens in zehn Jahren umbenannt werden. Der Platz war mit einer Kunstfigur geschmückt. Man konnte nicht erkennen, was sie darstellte. Der graue Stein sah aber auch zu langweilig aus, als dass man sich die Mühe einer Deutung machen wollte. Um den Sockel, auf dem die Kunstfigur stand, waren mehrere im Kreis gebogenen Bänke, auf denen aber nie jemand saß. An den Füßen der Skulptur lag trotzdem Müll. Der Platz wurde von der langen Straße begrenzt, auf der Elif und der Terrier gerade gelaufen waren. Dann führte eine kleinere Straße zu der ersten Kneipengasse und bog man auf der Kreuzung ab und fuhr nicht gerade aus, so kam man zum Bahnhof von Kandenberg. Bei den anliegenden Häusern handelte es sich um eine verlassene Schule und um einen grauen Bürokomplex. Die unteren Räume der Schule wurden noch von der Volkssolidarität genutzt, trotzdem wirkte das Haus trist. Genau wie der Bürokomplex, passte es einfach nicht in das Gesamtbild der schönen Altstadt. Früher war in dem Bürokomplex noch eine Bank gewesen. Nicht so weit früher, dass nur Kandenberger oder Terrier sich daran erinnern konnten. Elif konnte sie, nach ihrem Umzug zum Studienbeginn, noch einen Monat lang nutzen. Dann wurde die Filiale geschlossen. Am Anfang stand noch ein Bankautomat vor der Tür.

Elif achtete immer ganz penibel auf die Augen ihres Hintermannes, wenn sie ihren Code eingab.

Sie kannte nach einmaligem Gespräch von jedem den Namen und hatte immer ein paar Fakten zu der Person parat. So wirkte sie immer supernett und kam schnell ins Gespräch, aber Zahlen waren ihr Feind. Den Pin ihrer Bankkarte konnte sie sich einfach nicht merken. Einmal wurde die Karte sogar eingezogen, da sie die Zahlen zu oft falsch eingegeben hatte. Dann hatte sie aber einen Stress gehabt, das brauchte sie kein zweites Mal. In der Konsequenz dieses Unglückes, entschied sie sich die Zahlen immer im Portmonee zu haben. Sie erinnerte sich noch daran, wie ihre Mutter sie immer davor gewarnt hatte. Aber bisher war noch nichts schief gegangen. Elif beruhigte sich damit, dass sie ja auch keinen Zettel, mit der Aufschrift „Pin für die Bankkarte“, in ihrer Geldbörse hatte. Die Zahlen hielt sie für geschickt versteckt. Das Kärtchen ihres Zahnarztes erinnerte sie an ihren Termin am 23.6 um 7 Uhr.

Jetzt kam Elif allerdings auch gar nicht mehr so oft in die Verlegenheit, den Pin benutzen zu müssen. Den Bankautomaten am Platz gab es nicht mehr. Sie musste nun bis vor zum Bahnhof gehen, um Geld abzuheben. Als sie das erfuhr, entschied sie sich, mehr mit der Karte zu bezahlen. Deshalb hob sie auch das Limit ihrer Karte für Aufträge ohne Pineingabe, an. Manchmal verlor sie den Überblick über die Summen, aber da sie ja spendierfreudige Eltern hatte, war das kein Problem.

Gestern war sie jedoch trotzdem bei der Bank gewesen, denn in den Bars konnte man selten mit Karte zahlen. Auch wenn sie jetzt genug Scheine einstecken hatte, vermutete sie, auch heute den Überblick zu verlieren. Aber das hätte andere, schönere Gründe.

Der entfernte Bankautomat hatte ein Loch zurückgelassen, die Scheiben waren mit Schriftzügen bemalt. Unter dem zurückgelassenen Plakat des bausparvertragverkaufenwollenden Mannes mit schmaler Krawatte und Hitlerbärtchen hatte sich der „jewdestroyer69“ mit einem Hakenkreuz verewigt. Elif sprach den Terrier darauf an und beide wunderten sich, dass dies stehen bleiben durfte, aber der Heiratsantrag von vorheriger Woche schon penibel entfernt wurden war.

Terrier, der dachte, dass Kalendersprüche einen schlau wirken lassen, sagte: „Tja Hass schlägt halt Liebe.“

Und zwischen alledem steht das Geld. Die Buchstaben der Bank waren noch klar zu erkennen.

Die Etage darüber stand leer. Ganz oben war ein Fitnessstudio von einer kleinen Kette, die in einer Studentenstadt keine Kunden hatte, da man sich drei Jahre binden musste. Die meisten jungen Menschen wussten noch gar nicht, was sie wollten.

Der Terrier war froh, dass er seine Fitnessclubmitgliedschaft in Kandenberg schon vor dem Studium hatte. Aber die Muskeln bringen nichts, wenn die Augen einem Streiche spielen.

Elif und er warteten auf Astra und Lion, sie schauten in die Richtung, aus der sie kommen würden. Und in der Zeit kamen andere Gruppen vorbei, hauptsächlich Jungs.

Der Terrier machte sich Sorgen, dass sie Elif und ihn anmachen würden. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen, wusste nicht, wie sie drauf waren. Er musste sich etwas ausdenken. Ins Dunkle deuten. Wenn sie dann da waren, erkannte er, dass sie kleiner waren als er und, dass es sowieso nie eine Gefahr gab.

Einige von denen waren nicht nur kleiner als er, sondern auch kleiner als Elif. Elif war eine von den jungen Frauen, die größer wirkten, als sie eigentlich waren. Erst wenn man sich neben sie stellte, merkte man den Schwindel? Den Trugschluss?

Während sie auf ihre Freunde warteten, gingen Elif und dem Terrier allmählich die Gesprächsthemen aus. Elif stellte lieber persönliche Fragen, aber der Terrier wollte diese nicht beantworten. Hätte er Elif persönliche Fragen gestellt, hätte sie diese gerne beantwortet, aber er tat es nicht.

Ihnen zur Rettung kamen Lion und Astra. Sie waren schon an dem Eingang der Volkssolidarität vorbei, als Terrier sie erkannte.

Lion machte seinen Namen alle Ehre. Als Mähne trug er einen Vollbart, der den Terrier neidisch machte. Lion war über 1,90 m groß und ein geborenes Schwergewicht. Er begrüßt erst Elif und dann Terrier. Seine Augen strahlten und er konnte seine Vorfreude auf den heutigen Abend überhaupt nicht verbergen. Während der Begrüßung schien es, als würde Astra, wie ein Welpe um sie herumspringen, wartend, bis er an der Reihe war. Astra war kleiner als Elif und ein Typ der Sorte, die unironisch Fischerhüte und Bauchtaschen trugen. Naja, zumindest halbironisch. Er wusste schon, dass der Hut ziemlich dämlich aussah aber gerade das mochte er.

Sie wollten sich in Bewegung setzen, als Lion begann zu reden: „Ihr glaubt nicht, was uns gerade passiert ist. Ihr kennt doch den Park bei uns. Wo seit der neu ist die Obdachlosen sitzen. Jedenfalls hat die Stadt da so Fitnessgeräte hingestellt. So Airwalker, Legpressen, Armrotationsachen. So was halt. Und dann turnen die da ja immer drauf rum, während ihre Hunde bellen und mitspielen wollen. Da bricht auf einmal der Hebel von dem einen Gerät ab und ein Hund, so ein Großer. Hier Schatz du kennst dich doch mit Hunden aus. Was war das? Ein Rottweilermischling. Jedenfalls nimmt der den Hebel, beißt in diesen Gummibezug und hebt das ganz Teil hoch. Rennt damit weg. Quer über den Basketballplatz und die Wiese. An sich ja kein großes Problem, um die Uhrzeit ist ja niemand mehr da. Aber dann beginnen die anderen Hunde den Rottweiler nachzujagen und irgendwann auch die Leutchen. Aber der lässt sich nicht jagen oder zumindest nicht erwischen. Rennt die Gasse hoch und donnert mit dem Metallteil durch zwei parkende Autos durch.“ Lions tiefe Stimme klang, als würde man zwei große Steine unterschiedlichen Materials gegeneinanderschlagen und reiben.

„Und dann gingen die Alarmanlagen los. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich Alarmanlagen in Reallife gehört habe. Bisher nur im Film“, führte Astra weiter.

„Was ist dann passiert?“, fragte Terrier

„Habt ihr die Polizei gerufen?“

„Die hätten eure Zeugenaussage bestimmt gebraucht.“

„Ne, wir müssen gestehen, dass wir einfach weitergegangen sind. So im Nachhinein denkt man sich schon, es wäre gut gewesen zu warten. Aber naja, was soll´s? Jetzt kann man nichts mehr machen.“

Jetzt, da das Wichtigste geklärt war, ging die Gruppe doch los. Astra sprang über eine der Bänke. An der Ampel mussten sie wieder warten. Wenn andere dabei waren, hielt sich auch Elif an die Regeln. Es mussten halt die Richtigen sein. Sie gingen zu der Seitenstraße. Ein Torbogen vom Weihnachtsmarkt war noch nicht weggeräumt. Als sie unter den Bogen, an dem durch Metallgitter gezogene Lichterketten in blau, rot und weiß leuchteten, hindurch gingen, ließen sie den Fastnazigrößenplatz hinter sich.

Astra fragte sich und die Gruppe, ob der Torbogen und die Weihnachtskränze an den Laternen es gut oder schlecht finden würden, dass sie noch nicht weggeräumt waren. Freuten sie sich, da sie noch weitere Tage an der frischen Luft zubringen durften und sogar das Glück gehabt hatten, dem schönen Silvesterfeuerwerk zuzuschauen? Oder vermissten sie ihre Kameraden, mit denen sie gemeinsam Kandenberg in ein Winterzauberland verwandeln können und die jetzt wahrscheinlich schon in einer warmen Halle am Nordpol gelagert waren?

„Ist das Silvesterfeuerwerk hier wirklich schön? Ich habe es noch nie gesehen. Zu der Zeit bin ich immer zuhause“, sagte Elif.

„Ich habe es auch noch nie gesehen. Aber du warst doch einmal hiergeblieben, oder?“, wendete sich Lion an Astra.

 

„Yes, das war mein erstes Jahr in Kandenberg und ich konnte nicht in die Heimat, weil ... Und dann bin ich halt auf den Markt gegangen. Es war schon okay“

„Der Torbogen kennt ja auch keine anderen Silvesterfeuerwerke. Er steht nur hier in Kandenberg. Als ganz kleines Kind war ich mit meinen Eltern mal zu Silvester in der Stadthalle feiern, da gab es den Torbogen auch schon. Er wird wohl oft vergessen. Und solange seine Freunde am Nordpol nicht viel weiter herumkommen als er, werden diese auch nur das Kandenberger Spektakel kennen. Also werden sie es schön finden, denn sie wissen ja nicht, dass es Schöneres gibt“, sagte der Terrier.

Die Gruppe war heute nicht wirklich auf der Suche nach dem Schönsten. Die beliebten Bars ließen sie links liegen. Sie kannten ihr Ziel und genossen trotzdem den Weg durch die erste Kneipengasse. Sie liefen auch an der Schlippe vorbei, die man von Elifs Balkon aus sehen konnte. An diesem Samstagabend war für eine Studentenstadt ziemlich viel los. Wenn man bedenkt, dass die meisten Studenten in der Woche feierten und am Wochenende nachhause fuhren. Vor den Türen der Lokale standen einige Gruppen und rauchten. Das Klientel war älter als sonst. Wenn man durch die Scheiben sah, konnte man erkennen, dass viele Tische belegt waren. Die Vier gingen weiter, bis zum Ende der Straße. Da hier keine Autos fuhren, auch manchmal in der Mitte der Fahrbahn. Am Ende des Weges bogen sie nach links ab.

Der Weg war sehr schmal, passend zum restlichen Ambiente bestand auch der Boden aus Kopfsteinpflastersteinen. An beiden Seiten erhob sich eine gut zwei Meter hohe Mauer und engte den Weg weiter ein. Die Gruppe wartete und ließ drei Mädchen vorbei. Die hatten mit ihren hohen Schuhen nicht nur Probleme auf dem Belag, sondern auch blaue Lippen.

„Wenn man so aufgetakelt ist, könnte man sich auch ein Taxi zum Club nehmen“, sagte Elif, die sich von den Mädchen dahingehend unterschied, dass sie eine Hose und flache Schuhe immer dem Kleid vorziehen würde.

Da der Weg enger wurde, konnten sie nicht mehr alle nebeneinander laufen, sie bildeten Paare.

Lion ging mit Elif voran, Terrier und Astra dahinter. Als der Weg sich wieder öffnete, sahen sie den Dom von Kandenberg. Der Domplatz war drei-, viermal so groß wie der Platz mit der verlassenen Bank.

An Wochenenden tummelten sich hier die Touristen. Das waren dann ausnahmsweise tatsächlich viele Rentner, die sehr erfreut waren, so viele Sitzmöglichkeiten zu haben. Jetzt am Abend saßen nur zwei Paare auf den Bänken. Sie schauten abwechselnd auf den, mit großen, runden Scheinwerfern beleuchteten Dom und die Miniaturnachbildung an ihrer Seite.

Jeweils zwischen zwei Bänken waren solche Skulptürchen angebracht, die Straßenzüge der Stadt zeigten. Der Domplatz war von Häusern eingeschlossen und konnte nur über den kleinen Mauerweg, eine Straße, die in Richtung von Terriers Bude ging und durch einen Tunnel erreicht werden. Die Gruppe wollte zu dem Tunnel und ging dafür quer über den Platz. Noch waren sie nüchtern und lachten verhalten. Die Einteilung in Zweiergruppen hatten sie noch nicht aufgegeben. Die Häuser um den Domplatz waren teilweise vor und teilweise nach dem Krieg erbaut worden. Doch sie sahen alle wunderschön aus. Das älteste Haus thronte bei dem Tunnel. Es schien ein Teil der alten Stadtmauer zu sein, stand dafür jedoch an der völlig falschen Stelle. Der Tunnel war zwanzig Meter lang, aber ziemlich hoch, so dass keine beengte Stimmung aufkam. Dahinter begann die zweite Kneipengasse. Die Häuser standen nur auf der linken Seite, rechts begann der Stadtpark und das Flüsschen, über das der Terrier vorhin gegangen war, schlängelte zu den Füßen durch die Nacht in den See. Auch hier standen Grüppchen vor den Türen.

Sie ließen drei, vier, fünf Bars außen vor, bis die vor dem „Paradiso“ stehen blieben. Dass die Bar wie ein Puff klang, war das Aufregendste an ihr.

„Ihr könnt schon rein gehen, wir rauchen noch eine, oder?“, meinte Lion.

Astra und der Terrier zuckten mit den Schultern und öffneten die Glastür. Sie ließen den Jackenständer im Flur, an dessen Ende die Toiletten lagen, unbeachtet und gingen in den Schankraum, der unbedingt so genannt werden wollte. Nadine stand hinter dem Tresen. Sie begrüßte die beiden. Der Raum war rechteckig. An den Kopfseiten standen Bänke und Stühle, wie man sie aus Imbissen kannte.

Dort, wo auf der einen Seite die Tür, ein zweiter Jackenständer und attraktivitätserzeugenderweise eine Jukebox standen, waren auf der eingangsabgewandten Seite ein Billardtisch und eine Dartscheibe. Der Tresen war in der Form einer halben Ellipse geschnitten und bestand aus billig aussehendem, schwarz angemaltem Holz. An einer der Holzleisten waren Bilder geklebt. Sie erinnerten an das Korkbrett in Elifs und Hannas Wohnung. An dem Tresen konnte man auf Barhockern sitzen. Von denen standen auch welche an der Fensterfront. Astra und Terrier setzten sich darauf. Auf Brusthöhe war eine Steinplatte montiert. Aus den Lautsprechern kam Musik der Zeit, in der deutsche Indiemusik cool wurde.

Der mit zwei Zigaretten befüllte Glasaschenbecher und die ganz leicht müffelnde Luft, deuteten darauf hin, dass sich in dieser Bar nicht alle an das Rauchverbot hielten.

„Wieso willst du hierhin? Wir sitzen doch eigentlich immer da drüben“, wunderte sich Astra und zeigte auf den Billardtisch.

Terrier wollte sich an die Fensterfront setzen, da er so hoffte eher mit Elif ins Gespräch zu kommen. Rechts neben ihm war ein Platz frei. Da sollte Elif hin. Links neben ihm saß Astra und er vermutete, dass sich Lion neben seinen Freund setzen würde. Die Fensterscheibe war wie eine Kinoleinwand und zeigte auf die Gasse und den Stadtpark hinaus. Deshalb konnte man auch sehen, wie Lion und Elif ihre Zigaretten in den Mülleimer an der Wand schmissen und auch in die Bar kamen. Astra stand auf, um Platz für Lion und Elif zu machen.

Der Terrier wollte in die Steinplatte beißen. Wenigstens müsste er nicht ganz außen sitzen.

„Können wir bitte tauschen?“, fragte Astra.

„Jo, safe, klar Mann.“

Terrier fühlte sich wieder wie ein Trottel.

Da nicht viel los war in der Bar, kam Nadine zu ihnen und fragte, nachdem sie sich über die ungewöhnliche Platzwahl gewundert hatte, was sie denn trinken wollten.

Der Terrier und Lion bestellten sich ein Bier. Astra und Elif einen Weißwein. Dann stießen sie auf einen Abend an, der besser als die Gewöhnlichen werden sollte.

Die Bar

So richtig damit gerechnet hatte Nadine nicht. Dass sie mit sechsundzwanzig Jahren immer noch hinter dem Tresen des „Paradiso“ stehen würde, hätte sie vor einiger Zeit für unmöglich gehalten.

Allein, dass sie immer noch in Kandenberg wohnte, hätte sie nicht geglaubt.

So sahen ihre Pläne nach dem Abitur auf keinen Fall aus. Wenn sie zurückdachte, an ihr Abitur, wie sie im roten Kleid mit ihren Freundinnen aus dem Dom gelaufen kam, wie sie sich aufreihten und in die Kamera lächelten, war sie nicht wehmütig, aber ein bisschen erstaunt. Denn diese Bilder schienen aus einem anderen Leben zu kommen. Eine andere Nadine zu zeigen. Vielleicht war das auch einfach nur normal, dachte sie sich, denn sie wird ja nicht die Einzige sein, die sich nach der Schule verändert hatte. Und warum sollte sie darüber auch enttäuscht sein? Schließlich war ihr Ziel nach der Zeugnisausgabe ja auch das „Sichselbstfinden“. Und damit sie nicht vollends dem abgegriffenen Lisaklischee entsprach, machte sie ihr „work and travel“-Jahr nicht in Australien, sondern in Neuseeland. Lieber Kiwis statt Spinnen, das hatte sie sich erhofft. Fleischfressende Papageien und unglaubliche Erfahrungen hatte sie bekommen. Aus der heutigen Sicht und mit dem Wissen, dass sie als Barfrau gesammelt hatte, bereute sie es, dass sie diese Erlebnisse nicht mit ihren Freunden in der Heimat geteilt hatte. Damals wollte sie es nicht und kann bis heute nachvollziehen, weshalb das so war. Sie kannte sie ja, diese dümmlichen Kinder aus reichem Elternhaus, die sich eine Weltkarte auf den Knöchel oder das Schlüsselbein tätowieren lassen.

Die in ihre Instabio schreiben, dass sie #worktraveler sind und ihre Heimat die Welt ist. Diese Leute, die kein Gespräch führen können, ohne zu sagen: „dass man sich erst richtig kennt, wenn man gereist ist.“ Und wenn man Nadine nach ihrer Meinung fragte, musste sie sagen, dass diese Leute absolut Recht haben, und zwar mit allem was sie sagen. Keinen Schritt auf fernen Boden, keinen Bissen exotischen Essens, keinen Atemzug fremder Gerüche wollte sie missen.

Kandenberg war ihr immer zu klein gewesen. Nach der Reise war es größer geworden. Aber noch nicht groß genug. Dafür leerer. Denn die meisten ihrer Freunde waren weggezogen. Hätte sie während ihres Jahres in Neuseeland mit ihnen Kontakt gehalten, dann hätte sie auch gewusst wohin. Doch sie wollte die anderen nicht nerven, wollte keine lästige Lisa sein.

Als sie wieder in Kandenberg war, musste sie sich erst wieder anmelden. Sagen, dass sie da war. Sie hatte sich in Neuseeland gefunden und ihre Heimat irgendwie verloren.

Kandenberg hat die komische Eigenschaft, dass kein Kandenberger hier studiert. Es zieht sie alle hinaus in die Welt. Aus dem kleinen Flüsschen wird der Rhein. Aus dem Domplatz wird der Alexanderplatz. Aus dem Stadtpark der englische Garten. Und man geht lieber über die Reeperbahn als durch die Kandenberger Kneipengassen.

Nadine konnte die alten Häuser mit den eingemauerten Gesichtern nicht mehr sehen, wollte nicht mehr über Kopfsteinpflasterwege laufen.

Die zwei Jahre Studium in Schaldstätten waren ein Traum. Weil sie unecht und verflossen wirkten. Nicht greifbar für die heutige Nadine. Sie erwachte daraus, als sie für ihren Bafög-Antrag Kontakt zu ihrem leiblichen Vater aufnehmen sollte, das konnte sie nicht. So verschlug es sie wieder zurück zu ihrer Mutter nach Kandenberg. Hinein in die Wohnung über dem Laden. Nadine war versorgt mit schicken, warmen Socken und hatte einen tollen Regenschirm. Sie überlegte im Laden ihrer Mutter zu arbeiten, die besorgte ihr allerdings einen Job im „Paradiso“.

Nadine war damals davon ausgegangen, nur wenige Monate in der Bar zu arbeiten. Dort zu bleiben, bis sie ihren Kompass neu ausgerichtet und ihr Ziel gefunden hätte.

Die Neujustierung des inneren Magnetfeldes war nach zwei Jahren abgeschlossen. Zwischen ihren Ruhepolen, dem „Paradiso“ und ihrer Wohnung in der Altstadt, hatte sie sich ein stabiles Leben aufgebaut.

Das „Paradiso“ gehörte Herr Hinden, der hatte es vor beinahe vierzig Jahren eröffnet. Die Studenten kamen und gingen. Viel musste sich nicht verändern, da sich das Publikum veränderte. Dazu kam noch eine Handvoll ältere Stammkunden, die Stunden an dem Tresen saßen, erst Herr Hinden anschauten und dann Nadine. Die Mitarbeiterfluktation im „Paradiso“ war immer groß. Hinter der Bar wollte man nicht lange stehen. Meistens überhaupt nur dann, wenn etwas schiefgelaufen war. Wenn das Semester nicht wie geplant lief, wenn die Ausgaben doch höher waren oder wenn Papi nicht mehr zahlte. Dann kam man hinter dem Tresen. Wenn alles glatt lief, saß man davor.

Da Nadine kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag nach Neuseeland gegangen war, war sie als Gast nicht oft in der Bar gewesen. Im „Paradiso“ gab es zwei ungeschriebene Regeln. Erstens, die festgeschriebene Regel des Rauchverbotes darf gebrochen werden, wenn man es nicht übertreibt und zweitens, alle passen auf, dass keine Minderjährigen in den rechteckigen Raum kommen. Einen Türsteher, der die Ausweise kontrollierte, gab es natürlich nicht.

Als Nadine volljährig wurde, feierte sie ihren Abschied zuhause und im „Sägewerk“. Für das „Paradiso“ war da kein Platz. Dann ging sie weg und erst, als sie in die Wohnung ihrer Mutter zog, war sie als Gast im „Paradiso“.

Den Kontakt zu Herr Hinden stellte trotzdem ihre Mutter her. Erst nach drei Monaten machte ihr die Arbeit Spaß. Herr Hinden merkte schnell, dass er Nadine Verantwortung übertragen konnte. Das „Paradiso“ wurde mit den Jahren zu Nadines Baby. Herr Hinden zog sich mehr und mehr zurück. Wollte so langsam in den Ruhestand gehen. Seine Bar wusste er in sicheren Händen. Ganz trennen konnte er sich natürlich nicht. Aber zumindest hatte er eine Ausrede für das Wohlstandspläutzchen, welches er vor sich her trug. Wenn Herr Hinden überlegte, faltete er immer seine Hände auf dem aus Bier und Fleisch geformten Ball, der stets von einem schwarzen Pullover umschlossen war. Am meisten Gedanken machte er sich über die Aushilfen, die er Nadine zur Verfügung stellte, denn sie konnte die ganze Arbeit natürlich nicht alleine machen.

 

Die Aushilfen blieben weiterhin nur für ein paar Monate, nur Nadine blieb länger. Ihnen war das „Paradiso“ nicht so wichtig. Ihnen war auch Kandenberg ziemlich egal. Sie fanden es schön, das war es aber auch. Kandenberg war eine schöne Zwischenstation auf der Bahnfahrt zur großen Welt. Und Nadine verstand das, da sie selber einmal so gedacht hatte. Doch für sie war es eher ein Heimathafen, denn ein Zwischenhalt. Jetzt noch viel mehr als früher.

Nadine war mit den Arbeitszeiten und dem Gehalt zufrieden, außerdem bekam man von niemanden so viel Trinkgeld, wie von Besoffenen. Sie hatte auch das Glück, an Wochenenden nur bis 23 Uhr arbeiten zu müssen. Dann war es nicht zu spät, um noch mit Freunden etwas zu unternehmen, aber auch nicht zu spät, um am nächsten Tag ganz normal aus dem Bett zu kommen. Manchmal war es schon schöner im Dunkeln nachhause zu gehen.

Nadine hatte zwei Möglichkeiten für ihren Arbeitsweg. Beide waren ungefähr gleich lang. Um 22:30 Uhr kam meist ihre Ablöse. Eine halbe Stunde war für die Übergabe des Tresens und des Schlüssels eingeplant, dann ging Nadine hinaus auf die Straße. Die Straßenlaternen standen fest an der Seite, trotzten dem Fortschritt und warfen ein altes, gelbes Licht auf die Steine am Boden. Vor den Kneipen standen immer noch kleine Grüppchen. In den Rillen des Kopfsteinpflasters sammelten sich die Kippenstummel. Aus den offenen Türen der Bars drang unterschiedliche Musik, die sich vermischte. Nadines Heimweg führte an ihnen vorbei. Sie konnte auf der Straße laufen und musste sich nicht auf dem Fußweg an den anderen vorbei quetschen. Sie bewegte sich in Richtung Tunnel, mit dem Eintreten in das Rund verstummten das heitere Gelächter von Betrunkenen und die Musik. Auf dem Domplatz wurde es in der Nacht schnell kalt und der Wind zog durch die Gassen. Nadine querte den Platz, ohne auf die Bänke und die Skulpturen zu achten. Ihr Weg führte nicht durch die mit Mauern eingegrenzte schmale Gasse, sondern auf den Pfaffenstieg. Das Kopfsteinpflaster wich Asphalt und der Gehweg bestand aus langen Platten. Statt den Straßenlaternen zogen sich Kabel über die Fahrbahn und in der Mitte waren Lampen befestigt. Das Licht reichte kaum bis zu den Häuserwänden. Allerdings war der Himmel über Kandenberg wolkenbehangen und eine Lichtkuppel streckte sich über die gesamte Stadt. So richtig dunkel wurde es an solchen Tagen nie. Nadine wusste schon, dass sie die Rollläden ihres Schlafzimmers benutzen würde. Der Pfaffenstieg fiel gerade hinab und bot an starken Wintertagen Möglichkeiten für eine gefährliche Schlitterpartie. Nadine konnte sich aber an keinen starken Winter in Kandenberg erinnern. Ziemlich am Ende des Weges, kurz bevor der Pfaffenstieg eine Linkskurve machte und das große Studentenheim am Horizont auftauchte, bog Nadine nach rechts ab. Ihre Straße war eindeutig ein Teil der Altstadt. Die Sackgasse nahm wieder die Bodenform der Kneipengassen an und drehte sich wie ein Arm um den Pfaffenstieg. Am Ende der Sackgasse stand das größte Haus. Es überragte die Nachbargebäude um zwei Stockwerke. Nadine holte ihren Schlüssel aus der Handtasche und begab sich in den nach Zitrone riechenden Flur. Die Steinstufen der Treppe glänzten noch und leuchteten auf, als der Bewegungsmelder die Lampen anschaltete. Nadine nahm nicht die Treppen, sondern den neu eingebauten Fahrstuhl, der sie bis in das Dachgeschoss beförderte. Sie teilte sich die oberste Etage mit einem mittelalten Mann, der häufig nicht zuhause war. Vor seiner Tür, an der ein Haus aus Filz hing, stapelten sich Schuhe. Die meisten hatten abgewetzte Sohlen und Löcher. Nadine war am Tag zumeist daheim und nahm deshalb nicht nur für diesen Nachbarn die Pakete an. Sie hatte mit ihm ausgemacht, dass sie die Päckchen in das untere Fach des Schuhregals stellen sollte. Dort schienen sie sicher. Nadine schloss dann ihre Wohnungstür auf und trat in den langen Flur. Ihr eigenes Schuhregel stand hier und war an der Wand befestigt. Sie zog die Sneakers aus und stellte sie in das oberste Fach, dann ging sie den Flur hoch. Sie musste das Licht nicht anmachen. Die Kandenberger Wolkenstrahler schienen durch die in der Dachschräge angebrachten Fenster. Am Ende des Flures konnte man links in die Küche gehen. Nadine trank noch ein Glas Wasser, dann ging sie aus der Küche hinaus in das Bad, welches sich am Ende des Flures befand. Als sie fertig war, ging sie auch da hinaus und betrat das Schlafzimmer. Der langgezogene Raum streckte sich über die gesamte Länge der Wohnung. In der Mitte stand ein großer Raumteiler. Seine Fächer waren mit Büchern und Blu-Rays bestückt. Von ihrer Lieblingsfilmreihe „Krieg im Kopf“ hatte sie alleine fünf verschieden Boxen, die die Sicht auf das Wohnzimmer versperrten. Ein Poster von der Hauptfigur Melur hing über dem blauen Sofa. Das Dachfenster über dem Fernseher im Wohnzimmer ließ sie in der Nacht unabgedunkelt. Die Lichter drangen kaum bis zu ihrem Bett vor und konnten sie so beim Schlafen nicht stören. Wenn die Sonne allerdings früh herum kam, so fassten die Sonnenstrahlen nach ihr und weckten sie sanfter, als es der Wecker tun würde.

Wenn Kandenberg von der Sonne erhellt wurde, wählte sie einen ganz anderen Weg zum „Paradiso“. Nachdem sie auf den Pfaffenstieg trat, bog sie nicht nach links ab und ging die Steigung hinauf, sondern ein kleines Stück nach rechts. Sie erblickte dann das Studentenwohnheim. Nadine wusste, dass der Terrier dort wohnte. Sie hatte ihn vor zwei Jahren beim „Fressmeilenfest“ in der Innenstadt kennengelernt. Nadine war mit einigen Freundinnen, ein paar war es so wie ihr ergangenen und ein paar waren doch in Kandenberg geblieben, außerdem unternahm sie jetzt auch mehr mit Leuten, zu denen sie in der Schule keinen großen Kontakt gehabt hatte, durch die Buden gelaufen. Nadines beste Freundin hielt Ausschau nach einem Stand, an dem man Insekten essen konnte. Die beiden Mädels waren dem Konzept grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber und wollten wissen, wie so ein Grillenburger schmecken würde. Doch sie fanden diesen Stand nicht. Und so begnügten sie sich mit Knoblauchbrot. Dafür waren sie ja eigentlich nicht auf das Fest gegangen, aber nachdem sie sich auf die volle Treppe vor der Marienburger Kirche gesetzt hatten, war es trotzdem schön. Sie beobachten zusammen, mit den anderen auf den Stufen, das geschäftige Treiben auf der Promenade. Vor jedem Stand warteten eine Menge Leute. Nachdem sie das Brot aufgegessen hatten, holten sie sich, an einem nahen Craftbierstand, Bananenweizen. Nadine und ihre beste Freundin hielten die Plätze reserviert. Sie rutschten dann allerdings ein Stück, um Platz zu machen für zwei Jungs, die in der Schlange vor den Mädchen standen und sich mit ihren Biergläsern jetzt neben Nadine setzten. Der kleinere von beiden, Astra, begann gleich zu reden. Er hatte ein fipsiges Auftreten und eine Stimme, die gar nicht dazu passte. Sein Kumpel, der sich selbst als „Terrier“ vorstellte, was Nadine ziemlich albern fand, war offensichtlich froh, mit Astra jemanden an der Seite zu haben, der das Gespräch suchte. Er selber wusste nicht ganz so viel zu sagen. Nadine und er nippten an ihren Biergläsern.

Das Bananenweizen schmeckte Nadine überhaupt nicht.

„Das ist Pech. Ab jetzt wird nämlich jedes Weizen wie Bananenweizen schmecken“, sagte der Terrier. Nadine glaubte das nicht und während sie sich vom Terrier überzeugen ließ, beobachteten sie den Straßenmusiker. Als ein Lied gespielt wurde, welches beide besonders mochten, standen sie auf und legten etwas Kleingeld in die auf den Boden gelegte Tasche. Auch der Student Terrier leistete sich das. Nadine kam zunächst der Gedanke, dass es die kleinen Dinge waren, die einen glücklich machten.