Baupläne der Schöpfung

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Gibt es einen genetischen Auftrag von Gott?

Alles eine Frage der Bestimmung. Glaube und Unglaube hängen weder von Intelligenz noch von Argumenten ab, sondern sind – und das ist ebenfalls meine Hypothese – epigenetisch determiniert.

Vor allem in den drei biologischen Fenstern wird das spätere Leben vorentschieden: In diesen Perioden gibt es Freiheiten, zu formen: unsere hormonellen und sensitiven Reaktionen, unsere Neurotransmitter und damit das, was wir Charakter und Einstellung nennen. Hier fällt auch die epigenetische Entscheidung darüber, ob man einen Weltenbaumeister akzeptiert oder nicht.

Nachher ändert sich das kaum mehr. Deshalb ist es nahezu sinnlos, epigenetisch entschiedene Menschen missionieren zu wollen, in die eine oder andere Richtung; da tut sich nichts mehr.

Die religiöse Prägung muss nicht von den Eltern kommen: Es gibt gläubige Eltern mit nichtglaubenden Kindern und umgekehrt. In den Prägemomenten können völlig unterschiedliche Variablen auftreten. Dafür gibt es jede Menge Beispiele, wie etwa eine bekannte Molekularbiologin aus Wien, die sich – auch öffentlich – an den Zeitpunkt erinnert, ab dem sie sich gegen einen Weltenbaumeister entschied. Ihre bornierten Religionslehrer verstörten sie derart, dass sie sich gegen Gott aussprach und diesen Moment heute noch weiß. Argumente oder wissenschaftliche Erkenntnisse waren nicht ausschlaggebend. Natürlich hinterfragt die europäische Geistesgeschichte diese epigenetische Determinierung und versucht Erklärungsmodelle zu finden, warum sich der eine für und der andere gegen Gott entscheidet. Warum in den Prägemomenten gerade dieser oder jener Würfel so oder anders fiel.

Der Kirchenvater Augustinus wählte dafür das Wort gratia, Geschenk, Gnade: Man hat es, oder man hat es nicht. Was für den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz das Pfeifen oder Berühren war, mit denen die eben geschlüpften Küken auf ihn und für ihn geprägt wurden, das ist bei der weltanschaulichen Prägung zweifellos komplizierter. Menschen vermitteln Argumente für oder gegen Gott. Die oft bemühte Blutspur der Religionen ist ein Prägedetail, das offene junge Menschen epigenetisch imprägnieren kann. Dieser Gott ist grausam, denken sie, herzlos und blutrünstig. Entsetzt vom Mittelalter, wenden sie sich ab vom Glauben.

Ethik und Epigenetik

Wissenschaftler meinen, wir kämen mit einem angeborenen ethischen Kompass zur Welt. Meine Frage geht weiter: Gibt es so etwas wie eine epigenetische Codierung ethischen Verhaltens?

Eine Erbmoral?

Die gängige Meinung: Das Ethische hat sich evolutionär nur deshalb behauptet, weil es sich für die Genprogramme auszahlte, ethisch zu handeln. Die Moral hatte weniger Verlierer. In der allgemeinen Konkurrenz waren jene Gruppen im Vorteil, die über eine effiziente Binnenmoral verfügten. Das ermöglichte ihre Stärkung nach außen. Demnach würden Überlebensdeterminanten – epigenetisch – bestimmen, was ethisch wäre.

Dieser soziobiologische Standpunkt wurde durch das Christentum überhöht. Die Vertreter der epigenetisch Glaubenden verweisen darauf, dass mit dem Christentum, vor allem auch zur Zeit der Aufklärung, ein weiteres Erklärungsmodell für die Wurzeln der Ethik in die geistige Landschaft Europas kam. Etwas, das von den Soziobiologen völlig ausgeblendet wird: Die Brüderlichkeit sei deswegen zu akzeptieren, weil alle Menschen ihre Existenz einem gemeinsamen Weltenbaumeister verdanken und deshalb Brüder im wörtlichsten Sinn des Wortes seien.

Nicht nur Brüder im Geiste, sondern tatsächlich.

Damit begann ein zusätzliches Argument, unabhängig von theologischen Überlegungen, in die geistesgeschichtliche Diskussion einzufließen: Was Ethik ist und wodurch sie entsteht. Für die Entstehung mögen die Soziobiologen recht haben. Mittlerweile gibt es in der Interpretation ethischer Normen einen Fortschritt, der den reinen Überlebensvorteil auf eine brüderliche, gotteskindhafte Ebene hievt.

Mit Epigenetik und Ethik betritt ein weiterer naturwissenschaftlicher Vorgang die Bühne, der das unterstreicht: die Spiegelneuronen.

Inverse Information: Abbild und Spiegelungen

Männer haben ein Gehirn. Erstaunlich, aber wahr.

Elferfrage an alle: Was sind Erinnerungen, und wo sind sie gespeichert?

Medizin und Biologie siedelten in vergangenen Jahrzehnten das Gedächtnis ausschließlich im Gehirn an, in den Neuronen. Bis die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärte: Sorry, folks. Nicht nur jede Zelle, sondern das Genom selbst hat – von Nerven unabhängig – ein Gedächtnis. Und das reagiert auf die Umwelt, die es im weitesten Sinn widerspiegelt.

Natürlich ist für den Alltag unser Gedächtnis im Kopf angesiedelt. Sollte es zumindest sein. Aber selbst dort fand man schon vor einiger Zeit Mechanismen, die im neuronalen Bereich das bestätigen, was im epigenetischen für intellektuelle Aufregung gesorgt hatte. Dass sich nämlich im Gehirn die Umwelt abbildet und widerspiegelt. Konkret: Über Spiegelneuronen haben wir ein mental universe.

Im Kopf eines Menschen, der leidet, und im Kopf eines Menschen, der ihn dabei beobachtet, feuern die gleichen Neuronen. Dadurch kann der Mensch die Empfindungen seines Gegenübers im eigenen Kopf ablaufen lassen. So entwickelt er seine Gefühlswelt. So entsteht seine Ethik.

Diese Spiegelung wird auch dann registriert und akzeptiert, wenn man momentan und pro futuro, also zeitlos, agiert und weder für sich noch für die Gruppe einen egozentrischen Vorteil erwirbt. Das ist dann Mut zur Mitmenschlichkeit.

In dieser Ethik ist eine evolutionäre Zweckorientiertheit veraltet, ja längst überholt. Die neue Begründung sieht nicht mehr den Nutzen allein, sondern die Brüderlichkeit unter der Schirmherrschaft eines Schöpfers.

Der Naturforscher Charles Darwin begriff schon im 19. Jahrhundert: In jedem Erdzeitalter haben sich die Arten immer zum Höheren entwickelt. Warum sollte das nur für körperliche Merkmale gelten? Warum kann der Mensch nicht das Konrad-Lorenz-Steinzeitkorsett seiner Ethik ablegen und seine Art ebenfalls zu Besserem führen? Vom Egoismus zum Altruismus. Man kann es Schicksal nennen oder Karma. Der Mensch, der Gutes tut, sieht: Es lohnt sich. Gutes kommt auf anderen Wegen zurück.

Spiegelneuronen, auch wenn sie im Detail noch kontrovers beurteilt werden, sind weitere Hinweise dafür, dass unsere Vorstellungen ein Gegenüber haben. Die Zellen, der Körper, die Neuronen, unsere Gedanken spiegeln eine Wirklichkeit wider. Nicht wir schaffen uns die Wirklichkeit oder die Vorstellung eines Weltenbaumeisters, sondern die Wirklichkeit – die primär uns umgibt – schafft uns, unser Genom, unser Bewusstsein und auch unsere Vorstellungen. Das Denken ist nicht die Präsentation von realen oder irrealen Möglichkeiten.

Denken ist Teilhaben am Wirklichen.

Wir denken in Kausalitätskategorien, weil die Physik unseres Alltags kausalitätsbezogen ist. Alle unsere biologischen Reaktionen spiegeln die Schwerkraft wider, weil sie bei der Entstehung des Lebens a priori vorhanden war.

Für den Weltenbaumeister gilt Gleiches: Gäbe es ihn nicht, wir hätten von ihm keine Ahnung.

Dem Begründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, war dieser Einblick schon ersichtlich, als er seinen Missionaren den Rat mitgab: »Wo immer ihr auch hinkommt, vergesst nicht, dass Gott schon vor euch da war.«

Die Evolution, eine Spiegelung unserer ­Umgebung

Der Zufall sollte dem Glauben ins Gesicht spucken. Biologische Systeme, hieß es trotzig, seien durch reinen Zufall entstanden. Mutation per random auf Wissenschaftsdeutsch. Gott existiert nicht, es regiert der Zufall. Allerdings war das keine naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine Propagandathese. Sie sollte Gedanken an ein »Design« hinter der Evolution im Keim ersticken.

Ausgerechnet im Charles-Darwin-Jubiläumsjahr 2009 mehrten sich die Hinweise, dass es neben der genetischen Evolution auch eine schneller wirksame Adaptionsstrategie gäbe: die gerichtete Verpackung der Gene, die deren Aktivität beeinflusst und den akuten Bedürfnissen der Umwelt rascher Rechnung trägt als zufällige Mutationen. Und dass es natürlich eine Höherentwicklung der Arten und damit eine Evolution gibt, die bestimmten Gesetzen unterliegt und sich keineswegs nur per random ereignet – wenn das Schicksal Schnackerl hat.

Anstelle der zufälligen Evolution thematisiert die Naturwissenschaft immer öfter die gerichtete Entwicklung, genannt directed evolution. Wobei die Blaupause für die Entfaltung der Arten die Außenwelt ist. Somit wird die Evolution selbst zu einem Spiegel. Viele Argumente sprechen für diese directed evolution, in der erworbene Eigenschaften weitervererbt werden. Es handelt sich um das Resultat eines wundersamen Gesprächs zwischen Genom, Epigenom und Umwelt. Wobei gezielt auf verborgene Genprogramme zurückgegriffen wird, wenn die Umwelt das fordert.

Begonnen hatte es mit der Beobachtung eines ungewöhnlichen Typs von Genmutation bei E.coli-Bakterien. Es wird jetzt ein bisschen kompliziert: Bei der Mutation mit der unverständlichen Bezeichnung lac – fehlt den Bakterien die Fähigkeit, Laktose abzubauen. Würde ein E.coli-Stamm des Typs lac-, dem das für die Ernährung mit Laktose notwendige Enzym fehlt, nur mit Laktose versorgt werden, müssten die meisten Zellen absterben. Ein paar wenige dürften sich zufällig in den Typ lac+ verwandeln, der von Laktose leben, daher wachsen und sich vermehren kann. Die Realität verblüffte die Forscher im Labor: Deutlich mehr E.coli-Zellen des Types lac – mutierten zu lac+, wenn Laktose vorhanden war, als im anderen Fall, obwohl sie vordergründig keine Informationen darüber hatten, dass Laktose auch nach der Mutation zur Verfügung stehen würde.

 

Das sah, wie eine breite Diskussion damals vermeinte, nach »Magie« aus. Ähnlich wie manche physikalische Phänomene, die schwer erklärbar sind, als »Spuk« bezeichnet wurden; übrigens auch von Einstein (seine These von der »spukhaften Fernwirkung« wurde 2015 bei einem Quantenexperiment überprüft, das nur nebenbei).

In Wirklichkeit greift die Evolution auf ein, sagen wir, »schlafendes«, noch nicht aktiviertes, aber vorhandenes Genprogramm zurück, das den Laktoseabbau ermöglicht. Reaktionen in der Genverpackung, also epigenetische Mechanismen, könnten den Effekt auslösen.

Ein anderes Erklärungsmodell für dieses Phänomen bedient sich des Superposition-Prinzips. Superposition bedeutet: Im Quantenkosmos können sich einander ausschließende Zustände überlagern. Sinngemäß: Plus und Minus existieren gleichzeitig. Tot und lebendig zur selben Zeit.

Das Paradoxon demonstrierte der österreichische Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger, einer der Urväter der Quantenmechanik, in seinem berühmten Gedankenexperiment mit der Katze. Man sperre, schlug Schrödinger 1935 vor, eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Atom in eine geschlossene Kiste. Das Atom zerfällt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, worauf ein Hammer eine Giftampulle zerschlägt und die Katze umbringt. Solange man den Deckel dieser Höllenmaschine nicht öffnet, befindet sich das Tier in einem Überlagerungszustand von tot und lebendig. Erst wenn jemand nachschaut, löst sich der duale Zustand der Katze auf. Miau. Oder aus die Maus.

Im konkreten Fall, bei unseren E.coli-Zellen, hieße das: In jeder Zelle könnte bei der Mutation von lac – nach lac+ ein einzelnes Proton von einem Ort in einen benachbarten hineintunneln. Der Tunneleffekt beschreibt das Phänomen, wenn ein atomares Teilchen eine Barriere überwinden kann, obwohl seine Energie geringer ist als die Höhe der Stufe. In der klassischen Physik wäre das undenkbar, in der Quantenmechanik ist es möglich.

Die Wellenfunktion des Protons beinhaltet quantenmechanisch eine bestimmte Wahrscheinlichkeit für beide Orte: eine Superposition von getunnelt und nicht-getunnelt. Es tanzt auf zwei Bällen gleichzeitig.

Sofern sich diese Quantenkohärenz – eine Art wellenartiger Tanzschritt, ein Teilchensamba – in der Zelle lange genug aufrechterhalten lässt, sollte sich die gesamte DNA als Superposition von mutiert zu nicht-mutiert entwickeln. Die Laktose würde es sozusagen übernehmen, den Kasten mit Schrödingers Katze zu öffnen und den Zustand der Zelle in der einen oder der anderen Richtung kollabieren zu lassen.

Der Grund ist, dass beim richtigen E.coli-Stamm chemische Reaktionen stattfinden, die auch die Laktose betreffen und Dekohärenz bewirken. Geschieht das bei vorhandener Laktose schneller als bei fehlender, dann wäre das eine Erklärung für die überraschenden Ergebnisse der Mutation, die sich anpasst.

Obwohl das noch Spekulation ist, unterstreicht es eines: Mutationen und Evolution könnten nicht nur zufällig stattfinden, sondern auch »gerichtet« verlaufen, directed. Und damit nicht mehr vom Zufall allein abhängig sein, sondern von einem epigenetischen Dialog, möglicherweise mit quantenmechanischem Design.

Auch Pflanzen registrieren die Umwelt. Sie können genauso in ihrer Genanordnung directed sein und geben diese Information dann an ihre Nachkommen weiter. Seit langem weiß man, dass Stresssituationen, pathogene Infektionen oder ultraviolettes Licht die Mutationsgeschwindigkeiten in Pflanzen beschleunigen. Sie passen sich epigenetisch der Umwelt an. Dass diese erworbene Eigenschaft weitervererbt wird und nach Generationen, wenn der Korrekturbedarf sinkt, wieder verschwindet, definiert genau das Modell der adaptiven Mutation.

Diese Weitervererbung erworbener Eigenschaften wurde von Neodarwinisten scharf bekämpft. Aus dem einfachen Grund, weil es einen »Dialog« zwischen Umwelt und Genom nahelegt und damit der reinen Zufälligkeit abträglich ist. Kurzum, es passt nicht in deren Weltbild.

Mit Verlaub: Die Kommunikation zwischen Umwelt und Genom reicht, ohne dass man mit diesem Gedanken eine intellektuelle Sünde begeht, über die reine Zufälligkeit hinaus. Das Erbgut tastet die sie umgebende Umwelt ab und führt, im Interesse des Überlebens, gezielte Veränderungen durch, die mit einer lottospielartigen Zufälligkeit allein nicht zu erklären sind. Es muss einen Grund haben.

Die adaptive Evolutionstheorie wäre wert, weiter­verfolgt zu werden, allerdings hat sie viele Gegner: Jeder, der diese Zufälligkeit der Evolution in Frage zu stellen versuchte, wurde in der Vergangenheit von der wissenschaftlichen Gemeinde dem Scheiterhaufen übergeben. Der prominenteste war der französische Botaniker Jean-Baptiste de Lamarck. Er formulierte noch vor Charles Darwin eine Evolutionstheorie, deren Hauptprinzip ist: Es gibt eine gerichtete Höherentwicklung von Organismen, die durch sogenannte wiederholte Urzeugung, also spontan, entstandenen sind. So bilden sich die einzelnen Klassen. Als Nebenprinzip nahm er die Vererbung erworbener Eigenschaften an, die zur Artenvielfalt führt.

Lamarck hatte einen Gedanken ins Spiel gebracht, der später in der Zeit des Kulturkampfes erst abgelehnt, dann aggressiv bekämpft wurde. Sein dreistes Vorpreschen hätte die reine Zufälligkeit der Evolution beschnitten. Trotz Gegenwindes vertrat er die Meinung, dass nicht alleine das Zufallsprinzip die Evolution steuert, sondern exogene Designerfaktoren für Richtung und Geschwindigkeit mitverantwortlich seien. Obwohl Lamarck ein äußerst verdienter und kundiger Naturwissenschaftler war, verzieh man ihm die Wortmeldung über eine »designte Evolution« nicht. Er wurde dem wissenschaftlichen Anathema übergeben, der Verfluchung, und das Wort »Lamarckismus« wurde zum Synonym für »Unwissenschaftlichkeit«.

Ein ähnliches Schicksal ereilte den Gelehrten Paul Kammerer aus Wien. Auch er vertrat die Meinung, dass die Evolution nicht nur würfle, sondern dass es Umweltdesigner gäbe, die für die Ausbildung von Phänotypen, Erscheinungsbilder in der Genetik, und damit für die Richtung der Evolution verantwortlich seien. Wenn man die neuen Aufarbeitungen des damaligen Skandals studiert, mutet der Fall wie eine kleine Dreyfuss-Affäre an, deren Hauptakteur, der französische Offizier Alfred Dreyfuss, einer Intrige und einem gehörigen Antisemitismus zum Opfer gefallen war. Die Zuhilfenahme von einfachen grafischen bildunterstützenden Maßnahmen wurde Kammerer als Fälschung vorgeworfen. Man überschüttete ihn mit Schmutz und Schmach, Schimpf und Schande.

Späte Unterstützung bekamen beide Herrschaften durch eine kürzlich publizierte Arbeit, die ein reproduktionsmedizinisches Phänomen näher untersuchte, nämlich die Abnahme der Spermienqualität. Dass das auch im Säugetierbereich stattfindet, weiß man seit Jahrzehnten, und immer wieder wird die Umweltbelastung als Grund dafür präsentiert. Jetzt ist es durchaus verständlich, dass freie Radikale, aber auch Xenosteroide die Spermatogenese schädigen können. Dass dieser Schaden zukünftigen Generationen weitergegeben wurde, war für die wissenschaftliche Welt nicht nur neu, sondern überraschend. Angeborene Eigenschaften galten bis dato nicht als im Genom verankert. Also doch kein Zufall?

In der Zwischenzeit scheint man sogar den Ort gefunden zu haben, wo die Umwelt »designtt« wird. In den Methyl – und Acetylresten des epigenetischen Codes. Das beweist immerhin eines: Was emotional und dogmatisch als »reiner Zufall« interpretiert wurde, dürfte viel hintergründiger sein. Die Evolution läuft nicht blind umher, sondern orientiert sich über die Epigenetik an einem vorgegebenen Design, das man im Environment findet. Lange bevor sie die entstandene Spezies dem Überlebenskampf überlässt.

Übrigens war auch Darwin von einer gerichteten Evolution überzeugt, zumal er den natürlichen Ausleseprozess weniger im Lichte des Überlebenskampfes, sondern mehr in Anlehnung an die fortlaufende Anpassung an die Umwelt zu erklären suchte. In seinem Grundsatzwerk Von der Abstammung des Menschen schreibt er über das Prinzip der Nachahmung, des Verstandes und der ständigen Modifizierung dieser intellektuellen Kräfte, ohne dass er sie nachweislich darstellen konnte.

In gewisser Weise war er auch Lamarckist.

Gesprengte Ketten, freier Wille: Was ist uns bestimmt?

Das antike Hellas war vom Schicksal geprägt und nicht vom Willen. Die sokratische Lehre, dass niemand mit Absicht Böses tue, war tief im griechischen Denken verwurzelt. Vorstellungen von einem guten freien Willen, der auch bei eingeschränktem Erkenntnisvermögen den Menschen davor bewahren könnte, moralisch schlecht zu handeln, gab es nicht.

Tatsächlich determinieren uns Physik und Biologie. Zwar ist, wie Voltaire es formulierte, Freiheit »das Vermögen, etwas zu tun, was man will«, aber »in keines Wesen Macht steht es zu wollen, was es will«, wie schon Leibniz gesagt hat.

Allerdings ist das Kohlenwasserstoff-System der belebten Welt mobiler als das des Diamanten. Weil es aufgrund eines thermodynamischen Segmentes einerseits die Bereitschaft, sich zu vergrößern und zu vermehren, besitzt, andererseits bemüht ist, das effizient vorzunehmen, sich immer wieder anzupassen an eine Umwelt, die letztendlich der Spiegel der biologischen Existenz ist. Dort gibt es Freiheit, in dem immerwährenden Versuch, sich erfolgreich zu reproduzieren. Das ist tatsächlich ein apartes liberum arbitrium, ein kleines Stück echten freien Willens.

Um ein schnelles Anpassungssystem zur Verfügung zu haben, entwickelten die höheren Säuger drei Prägephasen, in denen dieses liberum arbitrium ruht: die Schwangerschaft, die ersten fünf Lebensjahre und die Pubertät. In diesen biologischen Fenstern herrscht insofern Freiheit oder auch Zufall, da es unterschiedliche Prägedeterminanten gibt, die bis zu einem gewissen Grad gewählt werden können. Und es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf Stress und Belastung zu reagieren. Das Gehirn hat verschiedene Reaktionsoptionen, wenn das Testosteron oder andere Substanzen aus den Geschlechtsdrüsen den Hypothalamus oder den Cortex betreten, und letztendlich entscheidet sich in diesen Lebensphasen auch, mit wie viel Vertrauen man Geschäfte abwickelt, dem Ehepartner begegnet oder seinen Mitarbeitern entgegentritt. Das alles ist durch die Epigenetik formbar. Damit existiert ein Generator für Plastizität, und dadurch gibt es im System ein kleines Stück Freiheit – allerdings mit großen Folgen für später.

Unterstützt wird das alles durch die bereits erwähnten Spiegelneuronen. Durch sie lernen die Vögel das Singen und Fliegen: Wenn sie die Eltern dabei ansehen, werden in ihrem Gehirn die gleichen motorischen Neuronen aktiv, die bei den Eltern den Singakt bewirkten.

Ultraschallbilder zeigten bei Menschen Ähnliches: Singt die schwangere Mutter, dann formieren sich mitunter die Lippen des Kindes in der Gebärmutter, als wolle es mitsingen. Diese sonografischen Bilder gingen um die Welt.

Nun gibt es Menschen mit unterschiedlichen Spiegelneuronen, und dadurch gibt es auch unterschiedliche Empathien. Die Freiheit liegt weniger im empathischen Akt, vielmehr im Augenblick, in dem entschieden wurde, wie viele Spiegelneuronen man bekäme.

Der holländische Psychiater Christian Keysers versuchte in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten die Basis des Einfühlungsvermögens zu beschreiben. Er stellt dabei die These einer Spiegelaktivität unseres Gehirnes auf, die Ereignisse und Eindrücke, die wir aus unserer Vergangenheit aufnehmen, widerspiegeln. Emotionen, die wir bei anderen Menschen beobachten, können in unserem Gehirn analog abgerufen werden. Diese Spiegelaktivität sei Teil jener neuronalen Mechanismen, die Empathie erzeugen.

In weiteren Untersuchungen konnte Keysers nachweisen, dass selbst das Hören von bestimmten Geräuschen Spiegelaktivitäten hervorruft. Werden bestimmte Laute, zum Beispiel vom Kauen, wahrgenommen, so regt das Hirnareale an, die in einer ähnlichen Aktivität involviert wären. Diese auf Hörsignale beruhenden Spiegelaktivitäten sind vor allem in der linken Seite des Gehirns angesiedelt, dort wo auch die Sprachbegabung zu Hause ist. Das unterstreicht die Hypothese, dass – ähnlich wie das Erlernen des Gezwitschers von Singvögeln – auch die Aneignung der Sprache und der Gestik von Kindern über Spiegelneuronen erfolgt. Kinder machen es nicht bloß nach, sie aktivieren bestimmte Hirnneuronen, in denen das Imitierte gespeichert bleibt. Damit wird selbst die Sprache gespiegelt.

 

Das bestätigt frühere Meinungen, dass Menschen mit einer höheren Empathie auch über eine höhere Spiegelaktivität verfügen.

Im mittleren präfrontalen Gehirn gibt es unterschiedliche, von den Spiegelaktivitäten in Anspruch genommene Regionen. Stimmt man mit einem Menschen überein, so wird eine bestimmte Region aktiviert und dort zu spiegelbildlichen Reaktionen angeleitet. Die Ablehnung ist an einer anderen Stelle im medialen präfrontalen Cortex beheimatet. Dort, wo sich ebenfalls ein Spiegelphänomen ereignet, wenn man mit seinem Gegenüber nicht einer Meinung ist.

Zweifellos hängen Empathie und soziales Verhalten zusammen. Aktiviert man im eigenen Gehirn jene Enttäuschungsgefühle und Schmerzen, die man durch eigene Aktivitäten dem anderen zuführt, so wird das soziale Gewissen präziser ausgeprägt sein. Die Hemmungen sind dann größer, andere Menschen zu verletzen. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Spiegelneuronale Reflexe benötigen epigenetische Nahrung. Die Rezeptionsfähigkeit der jungen Amsel, wenn sie das Singen der Mutter erlernt, entspricht der Musikalität für Altruismus und Nächstenliebe. Diesen Feinsinn, Gutes zu tun, kann sich höchstwahrscheinlich auch der Mensch epigenetisch aneignen, wenn er die entsprechenden Determinanten antrifft.

Dabei ist man selbst nicht immer Herr des spiegelbildlichen Prägeverfahrens. Die Umwelt, die Eltern und die Umgebung tragen gehörig dazu bei, um einen Menschen die Empathie erlernen zu lassen oder nicht. Vor allem dem Elternhaus scheint eine entscheidende Prägefunktion zuzukommen. Fehlen Menschen ausreichend positive Einflüsse, kann sich das mangelnde Einfühlungsvermögen in der stillen Kommunikation mit den Mitmenschen zeigen: Nächstenliebe wird defizitär. Oder überhaupt durch andere Motive ersetzt. Gier zum Beispiel.

Deswegen hat sich die christliche Tradition in ihrem jahrtausendalten Ringen um Gut und Böse und um deren Beurteilung langsam, mit vielen Kriegen und Schmerzen von der Überzeugung gelöst, dass es ausschließlich Taten im Namen des Herrn wären, die das Himmelreich öffnen. Gläubige wissen: Letztendlich kann das nur die Barmherzigkeit Gottes schaffen. Denn ob man über ausreichende Spiegelneuronen verfügt oder nicht, entzieht sich der Kompetenz des einzelnen Menschen. Und kann nicht Richtschnur für die Moral sein.

Es ist ein Geschenk, das man nicht einfordern kann. Man hat es bekommen, oder man besitzt es nicht. Warum, entzieht sich unserem Forderungskatalog. Im Gebet Der Engel des Herrn heißt es: »Gratiam Tuam, quaesumus, Domine, mentibus nostris infunde …« Zu deutsch: »Allmächtiger Gott, gieße Deine Gnade in unsere Herzen ein.«

Trotzdem soll einem charakterlichen Egalitarismus nicht das Wort geredet werden. Dass eine Empathie, die sich an der Nächstenliebe orientiert, besser ist als eine Veranlagung, die das nicht kann, ist die Kernaussage der Bergpredigt, die seit Jahrtausenden nichts an Faszination eingebüßt hat. Es ist letztlich unchristlich – und auch das hat das Christentum erst mühevoll und durch viele Opfer erlernen müssen –, mit Steinen zu werfen, wenn jemand über wenige Spiegelneuronen verfügt, wiewohl das Zielgebot nie verdrängt werden darf: Der Altruismus, und sei er durch Spiegelneuronen bedingt, ist der goldene Schnitt des christlichen Denkens. Ihn zu erreichen, selbst wenn man in den Prägephasen nicht die Gnade der »Bespiegelung« hatte, ist zwar schwer, aber nicht unmöglich. Der Mensch kann sich ändern, wenn er wirklich will. Bis zu einem gewissen Grad.

Denn dieser freie Wille, auf den Menschen stolz sind, ist womöglich nur Illusion. Oft hat das Gehirn sich schon auf eine Handlungsalternative festgelegt, wenn der Mensch noch fest glaubt, seine Optionen seien offen. Allerdings muss der freie Wille differenzierter gedeutet werden: Im Endeffekt dient auch er der Erhaltung der Art und ist einer Anpassung und damit einem dafür notwendigen Freiraum unterworfen.

In der Hirnforschung entwickelt sich eine Dialektik der Interpretation: eine materialistische und eine für das Metaphysische offene Deutung. Der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer ist vermutlich ein Vertreter materialistischer Zuspitzung und überzeugt, »dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, Aufbau und Funktion den gleichen Prinzipien gehorchen«. Zunächst diagnostiziert er, von niemandem so wirklich bezweifelt, die materielle »Bedingtheit« des Verhaltens. Die Verfeinerung neurobiologischer Messverfahren lasse »die als psychisch bezeichneten Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen werden«.

Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Somit erweisen sie sich als Phänomene, die in kohärenter Weise durch naturwissenschaftliche Beschreibungssysteme erfasst werden können.

Gegen diesen Denkanspruch richtet sich der Neurologe Gerhard Roth. »Die ernstzunehmende Gefahr«, schreibt er, »liegt in der von Neurowissenschaftlern nicht selten vertretenen Auffassung, es gäbe jenseits der neuronalen Vorgänge nichts mehr zu erklären.«

»Was soll denn da noch zu erklären sein?«, fragen dann die Hirnbiologen. Das ist doch gerade unser Ziel, dass wir den Menschen exakt und sicher mit unseren Messverfahren verstehen. Dass es für Spekulationen keinen Raum mehr gibt.

Die Freiheitserfahrung sei eine frühkindliche Illusion, denn unser Verhalten wird durch die sogenannte Autopoiese, die Selbsterschaffung des psychischen Systems, von einem sich selbst organisierenden Wettbewerb der neuronalen Erregungsmuster reguliert. Diese Autopoiese würde gleichzeitig den freien Willen töten.

Dabei scheint sich Wolf Singer selbst zu relativieren, wenn er schreibt: »Offen bleibt, nach welchen Kriterien unser Gehirn seine internen Zustände, in denen sich die Ergebnisse von Datenerfassung und logischen Schlüssen letztlich manifestiert, kohärent und stimmig beurteilt.« Also was jetzt?

Mag sein, dass unser Gehirn und unser Bewusstsein operational geschlossen sind. Ein Schnellkochtopf für Ideen und Sonstiges. Evolutionär bleibt es jedoch offen – ein Grundgesetz der adaptiven Evolution. Dafür kann mit gutem Gewissen die epigenetische Plastizität als Erklärungsmodell verwendet werden, die auch das Gehirn zu einem permanenten Zwiegespräch mit der Außenwelt öffnet. Natürlich in Grenzen, aber mit seiner anatomischen, epigenetischen Struktur.

Die Auffassung Singers, unser Gehirn wäre ein Paralleluniversum, das mit dem externen Universum nichts mehr zu tun hätte, ist evolutionsbiologisch schwer zu halten.

Der Geist, gegen den sich Singer wendet, ist die »immaterielle« geistige »Identität«, nicht eine materiell integrierte geistige Formung. Er verharrt dabei in einem Physikalismus, allerdings muss offen bleiben, ob nicht auch in unserem Gehirn Prozesse ablaufen, die nicht unbedingt der »Teilchen« bedürfen. Vor allem liegt dem Weltbild Singers eine abgelaufene Auffassung des Transzendenten zu Grunde: Er schlussfolgert offenbar, dass der »Geist« jenes Rückzugsgebiet ist, das gottgläubige Menschen als Beweis des Göttlichen brauchen.

Dem ist nicht so. Der Mensch könnte auch mit einem auf Materie fußenden Geist geschaffen sein, ohne dass es das Konzept eines Weltenbaumeisters berührte. Er aber bedient sich einer im Stoff begrenzten Geistigkeit.