Zentrale Aspekte der Alten Kirchengeschichte

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1.2 Das Urchristentum im Judentum
1.2.1 Die pluralistische Gestalt des Judentums und die ersten Christen

Zweifellos hält man das Christentum zunächst für eine der vielen Sekten, Gruppierungen oder Bewegungen des Judentums. Denn innerhalb des Judentums ist man schon lange religiöse Vielfalt gewohnt. So bestehen beispielsweise erhebliche Gegensätze zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern. Die Pharisäer bilden jene Gruppierung, die sich – in Abgrenzung zur römischen Oberherrschaft – am stärksten um die Aufrechterhaltung des theokratisch konstituierten Charakters der jüdischen Volksgemeinschaft bemüht und daher hellenistisch-heidnische Einflüsse konsequent abwehrt. Sie halten sich streng an das mosaische Gesetz (die fünf Bücher des Mose) sowie an die für sie normstiftende schriftgelehrte Auslegungstradition desselben. Selbstverständlich ist ihnen auch der Glaube an die Auferstehung der Toten und an die Engel.

Die zumeist führenden priesterlichen Aristokratengeschlechtern angehörenden Sadduzäer lassen dagegen nur das mosaische Gesetz gelten und fühlen sich nicht an die schriftgelehrte Überlieferung gebunden. Folglich verwerfen sie z.B. den Glauben an die Auferstehung, da sich diese Lehre erst in den verhältnismäßig jungen Büchern des Alten Testaments findet und daher für sie nicht verbindlich ist.8

Zu erwähnen ist schließlich die Gruppe der Zeloten oder Eiferer. Sie wollen dem Gesetz in Treue, aber in einer betont kämpferischen, martyriumsbereiten Haltung dienen, die alles Heidnische aggressiv zurückweist. Sie lehnen es ab, dem römischen Kaiser Steuern zu zahlen und rufen zum bewaffneten Widerstand gegen die heidnische Fremdherrschaft auf, da der Gehorsam gegenüber dem mosaischen Gesetz in diesem Fall zu einem heiligen Krieg verpflichte.

In diesem pluralistischen jüdischen Milieu, das in Wirklichkeit noch viel bunter war, wurzelt das junge Christentum. Folglich finden auch Vertreter der aufgezählten Gruppierungen den Weg zur christlichen Gemeinde. Als prominenter Pharisäer kann z.B. Paulus namhaft gemacht werden. Gläubig gewordene Mitglieder der sadduzäischen Priesterklasse werden in Apg 6,7 genannt. Unter den Zeloten zählt schließlich Simon der Zelot bereits in vorösterlicher Zeit zu den von Jesus erwählten Zwölf.

Angesichts dieser Phänomenologie des zeitgenössischen Judentums stellen die ersten christlichen Gemeinden eine Gruppierung unter vielen dar. Sie sind zunächst nichts Besonderes in ihrer jüdischen Volksgemeinschaft. Sie glauben an den einen Gott Israels, ihre heiligen Schriften sind die der Juden, der Jerusalemer Tempelkult ist der ihre und ebenso folgen sie dem mosaischen Gesetz. Sogar die wichtigsten Elemente des am Sabbat üblichen Synagogengottesdienstes, die Psalmen, Schriftlesungen, ihre Auslegung und entsprechende Gebete, bewahren sie in ihren gottesdienstlichen Versammlungen. Selbst die endzeitliche Ausrichtung der frühen Christen hat nichts Einmaliges an sich und findet Parallelen im zeitgenössischen Judentum. So hätten die frühchristlichen Gemeinden innerhalb des Judentums das bleiben können, wofür man sie zunächst hielt: die Sekte der Nazoräer.

Freilich löst Jesus von Nazaret innerhalb des Judentums eine eigene Dynamik aus. Zwar halten die Nazoräer am jüdischen Monotheismus fest, identifizieren aber auch Jesus mit Gott. Ebenso ist die Heilige Schrift der Juden die ihre, aber sie legen sie auf Jesus Christus hin aus. In gleicher Weise strukturieren sie den Ablauf ihrer Gottesdienste nach jüdischem Vorbild, aber ihr heiliger Tag ist nicht der Sabbat, sondern der erste Tag der Woche, der Sonntag (vgl. Apg 20,7). Schließlich ist auch ihre endzeitliche Ausrichtung schon festgelegt. Man erwartet nicht eine nach traditionellen Vorstellungen beschriebene Messiasgestalt, sondern hat in Jesus von Nazaret den Messias bereits gefunden. Hinzu kommt die Lehre dieses Jesus, die die Geister scheidet. Eine Neuerung ist auch die Taufe auf den Namen des Herrn Jesus als Aufnahmeritus in ihre Gemeinschaft (vgl. Apg 19,5). Vor allem brechen die ersten Christen am ersten Tag der Woche in ihren Häusern das Brot als eucharistische Vergegenwärtigung der rettenden Tat Gottes an Jesus Christus und vollziehen dieses Gedächtnismahl unter Ausschluss aller nicht Getauften.

So unterscheiden sich die ersten Christen schon deutlich vom zeitgenössischen Judentum. Dennoch fühlen sie sich im Judentum beheimatet und begreifen sich als endzeitliches Ereignis innerhalb des Volkes Israel. In der jungen Kirche – so ist man überzeugt – hat das auf die endzeitliche Vollendung ganz Israels ausgerichtete Wirken Gottes bereits begonnen. Folglich versteht man sich als neues Israel, als den von Gott schon hergestellten Kern seines Volks, um den sich künftig ganz Israel sammeln sollte, indem es den neuen Weg Jesu annehmen und zum Glauben an Ihn kommen werde. Die junge Gemeinde sieht sich daher zunächst zu den Söhnen und Töchtern Israels gesandt. Die Weigerung Israels, den Jesusglauben anzunehmen, führt dann aber zur Heidenmission.

„Theodotos, [Sohn] des Vettenos, Priester und Archisynagogos, Sohn eines Archisynagogos, Enkel eines Archisynagogos, renovierte die Synagoge zum Lesen des Gesetzes und Lehren der Gebote, und das Gästehaus und die Nebenräume und die Wasserinstallationen zur Herberge für diejenigen aus der Fremde, die [sie] benötigen. Sie [die Synagoge] haben begründet seine Väter und die Presbyter und Simonides.“

Abb. 3 Die 1913 in Jerusalem aufgefundene Theodotus-Inschrift (hier mit Übersetzung) bezeugt für das Jerusalem des 1. Jahrhunderts eine hellenistische Synagogengemeinde und ihre Presbyter.

Im Judentum lassen sich aber nicht nur verschiedene religiöse Gruppierungen wie Pharisäer und Sadduzäer voneinander unterscheiden. Die Existenz von jüdischen Diasporagemeinden in allen größeren Städten des Mittelmeerraums (z.B. in Alexandrien oder Rom) bringt auch eine sprachlich-kulturelle Scheidung zwischen den bodenständigen, aramäisch sprechenden Juden Palästinas und den vom griechisch-hellenistischen Milieu geprägten Juden des Mittelmeerraums mit sich. Daher existieren bereits im Jerusalem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts aramäischsprachige, traditionell-palästinische und griechischsprachige, hellenistisch beeinflusste Synagogengemeinden (vgl. Abb. 3). Letztere rekrutieren sich aus zurückgewanderten Diaspora-Juden und pflegen – im Vergleich zu ihren aramäischsprachigen Glaubensbrüdern – ein weniger intensives religiöses Verhältnis zum Land Israel, zum Tempel, Kult und Gesetz.

1.2.2 Sprachlich-kulturelle Gruppierungen im Urchristentum

Die Botschaft des Auferstandenen fasst in beiden sprachlich-kulturellen Gruppen des Judentums Fuß. Sowohl traditionsbewusste Juden aramäischer Sprache, als auch hellenistisch geprägte Diaspora-Juden griechischer Sprache werden Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde. Die Apostelgeschichte nennt die beiden Gruppen Hebräer und Hellenisten (vgl. Apg 6,1) und legt die Vermutung nahe, dass die beiden christlichen Teilgemeinden wegen der Sprachbarriere im Gottesdienst getrennt, in der karitativen Arbeit aber gemeinsam gehandelt haben. In diesem Sinn berichtet Apg 6,1-6 von einem Streit, der zwischen beiden Gruppen wegen der mangelhaften Versorgung der hellenistischen Witwen ausgebrochen und durch die Bestellung von sieben Männern behoben worden war.9 Diese Sieben übernehmen fortan den „Dienst an den Tischen“, während die zwölf Apostel nunmehr ungehindert den „Dienst am Wort“ wahrnehmen. Freilich ist von Stephanus und Philippus, den beiden Spitzenvertretern des Sieben-Männer-Kollegiums, bekannt, dass sie nicht nur „Armenpfleger“ der Jerusalemer Gemeinde, sondern auch verkündigende „Diener des Wortes“ sind. So dürften die Sieben – zumal sie durchwegs griechische Namen tragen – wohl Leitungsfunktionen im hellenistischen Teil der Jerusalemer Gemeinde ausgeübt haben.

Folgenschwer ist der heftige Konflikt der christlichen Hellenisten mit der griechischsprachigen Synagoge Jerusalems. Ein Ausschnitt dieses Streits spiegelt sich in der Stephanusgeschichte wider (Apg 6,8-7,60). Demnach dürfte die deutlich offenere und traditionskritischere Sicht der christlichen Hellenisten den Streit ausgelöst haben. Offensichtlich betonen sie besonders jene tempel- und gesetzeskritische Linie der Predigt Jesu, mit der sich schon Er den Hass pharisäischer und sadduzäischer Kreise zugezogen hatte. Wird Stephanus doch von den Zeugen und der jüdischen Behörde der Lästerung Gottes, Moses, des Tempels und des Gesetzes beschuldigt, ja, sogar der Absicht, unter Berufung auf Jesus den Tempel und das Gesetz abschaffen zu wollen (Apg 6,11-14; 7,48.53). Mit dieser wohl auch von anderen Hellenisten gepredigten Relativierung des Tempels und des Gesetzes überschreitet Stephanus aber die Grenze des von der Synagogendisziplin Zugelassenen. Die Behörde greift ein, er wird gesteinigt und die hellenistischen Christen sind nach seinem Martyrium um 31/32 gezwungen, als jüdische Ketzer aus der Stadt zu fliehen.10 Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass die beiden sprachlich-kulturellen Gruppierungen der Jerusalemer Urgemeinde nun auch räumlich voneinander getrennt sind, da nur die Hebräer in der Stadt verbleiben können. Schon an ihrem unterschiedlichen Schicksal wird deutlich, wie stark sich die beiden Gruppen theologisch voneinander unterschieden haben. Denn die Hebräer bieten der jüdischen Behörde offensichtlich keinen Anlass zum Einschreiten. Sie verkündigen Jesus als einen Messias, der – wie z.B. Mt 5,17-19 bezeugt – das Gesetz bis ins Detail zu halten lehrt. Während sich die geflohenen Hellenisten aufgrund ihrer in der Diaspora geformten Biographie aber immer mehr von einem lokal gebundenen religiösen Brauchtum lösen, verbinden die Hebräer ihren Jesusglauben weiterhin mit jüdischer Observanz. Freilich bleiben auch ihnen – vor allem wegen der im Judentum seit der Mitte des 1. Jahrhunderts wachsenden religiös-politischen Aufstandsstimmung gegen die Römer – Spannungen mit ihrer jüdischen Umwelt nicht erspart. Denn ihre auf Jesus und sein messianisches Verständnis zurückgehende friedliche Haltung gegenüber der römischen Staatsmacht reißt – neben den religiösen Differenzen – zwischen den christlichen Hebräern und den Juden auch einen politischen Graben auf, sodass die Hebräer um 66/67 kurzfristig in das ostjordanische Pella ausweichen.11

 

Abb. 4 Stephanus auf einem Mosaik des sechsten Jahrhunderts in der Basilika S. Lorenzo fuori le mura zu Rom.

Die spätestens seit der Verfolgung der Hellenisten beobachtbare Zweiteilung der Jerusalemer Gemeinde bringt aber nicht nur räumliche Trennung, sondern auch innerkirchliche Differenzen mit sich. Denn die geflohenen Hellenisten betreiben schon sehr bald außerhalb Palästinas eine erfolgreiche Heidenmission und vertreten dabei eine christliche Lehre und Lebenspraxis ohne Beschneidung und mosaisches Gesetz. Darauf reagieren die weiterhin jüdisch orientierten Christen mit heftigem Protest, weil sie überzeugt sind, dass die Taufe auf den Namen Jesu Beschneidung und Gesetzesgehorsam voraussetze. Als Folge dieser Unstimmigkeiten lässt sich ein Klärungsprozess erschließen, der etwa um 48/49 auf dem so genannten „Apostelkonzil“ verdichtet in Erscheinung tritt (vgl. Apg 15; Gal 2).

Unter den dazu in Jerusalem versammelten Christen lassen sich an erster Stelle christliche Hebräer pharisäischer Prägung namhaft machen. Sie bestehen gegenüber den Heidenchristen strikt auf deren Beschneidung und auf der Einhaltung des mosaischen Gesetzes. Vor allem der Herrenbruder Jakobus, eine maßgebliche Autorität und später das Haupt der Jerusalemer Gemeinde, plädiert nachdrücklich und offensichtlich über das „Apostelkonzil“ hinaus für diese Position. Petrus spielt eine eher vermittelnde Rolle, wenn er auch später gewissen judenchristlichen Eiferern aus dem Kreis um Jakobus bisweilen nachgibt (vgl. Gal 2,11-14). Nur der jüngst bekehrte Paulus – als eifriger Heidenmissionar in die Auseinandersetzungen hineingezogen – vertritt mit Entschiedenheit die Sache der bekehrten Heiden und kann die ausschlaggebenden Autoritäten der Jerusalemer Gemeinde, die Apostel und Presbyter, von einem gesetzesfreien Heidenchristentum überzeugen. So einigt man sich darauf, dass das Christentum bei den Heiden ohne jüdische Auflagen verkündet werden dürfe, bei den Juden aber an die jüdische Gesetzespraxis gebunden bleibe. Die Einheit bleibt also gewahrt; der juden- und der heidenchristliche Weg der Christusnachfolge ist gleichermaßen anerkannt.

BAUS (wie S. 4) 76f. (religiöse Gruppierungen im Judentum).

BROX (wie S. 4) 12-17 (religiöse und sprachlich-kulturelle Gruppierungen im Judentum; Apostelkonzil).

CHADWICK, Henry, Die Kirche in der antiken Welt, Berlin New York 1972, 6 (religiöse Gruppierungen im Judentum).

1.3 Die Lösung der Kirche von der Synagoge

Rabbi Jochanan ben Zakkai († ca. 80 n. Chr.) gilt als der Begründer eines neuen geistigen und politischen Zentrums des Judentums in Jabne (Jamnia) bei Jaffa. Unter ihm und seinem Nachfolger Gamaliel II. († ca. 120 n. Chr.) ergreift man auf jüdischer Seite Maßnahmen, um ohne Tempel und Hohen Rat das Weiterbestehen des Volks zu sichern. So müssen sich von nun an alle nach der Überlieferung der Ältesten (Halacha) richten, nach einer bisweilen eng wirkenden Gesetzessammlung, gegen die schon Jesus polemisierte (vgl. Mk 7,8-13). Der Tempelgottesdienst wird durch das regelmäßige Beten des Schema Israel (Dtn 6,4-9;11,13-21; Num 15,37-41) und des Achtzehnbittengebets ersetzt, die Opfer durch Almosen, Beten und Leiden.

Während anfangs zwischen Pharisäern und Christen, sofern Letztere gesetzestreu lebten, Duldsamkeit und bisweilen sogar Sympathie herrscht (vgl. Apg 15,5), wird etwa zwischen 70 und 132 in Jabne die birkat ham-mînîm des Achtzehnbittengebets, eine Fluchformel gegen religiöse Abweichler, auf auffällige Weise umformuliert. In dem Wort minim, mit dem man bisher ohne negative Konnotation die Vertreter jüdischer Sonderrichtungen bezeichnete, schwingt nun die Bedeutung häretische Abspaltung mit. Falls sich diese Sonderrichtungen fortan nicht unterwerfen, werden sie aus der Synagoge ausgestoßen und ihr Schrifttum vernichtet. In diesem Sinne betet man mit besagter Fluchformel:

„Den Abtrünnigen sei keine Hoffnung, und das anmaßende Reich rotte schnell aus in unseren Tagen, und die Nazoräer (notsrim) und die Häretiker (minim) mögen augenblicklich zugrunde gehen. ‚Sie seien aus dem Buch des Lebens getilgt und nicht bei den Gerechten verzeichnet‘ (Ps 69,29). Gepriesen seist Du, Herr, der die Anmaßenden niederbeugt.“

Ein Widerhall dieser Verschärfung findet sich möglicherweise in den Evangelien. Nach Mt 10,17 werden die Jünger zwar vor das Synagogengericht gebracht und durch Auspeitschung bestraft, sie verbleiben aber im Synagogenverband, freilich als Übeltäter. In Joh 12,42 heißt es dagegen, dass viele Juden an Jesus glaubten, ihren Glauben aber wegen der Pharisäer nicht offen bekannten, damit sie nicht aus der Synagoge ausgestoßen würden. Diese Nachricht passt genau zur Situation nach dem Jahr 80, weshalb Johannes hier also wohl seine Erfahrungen einfließen lässt.

Wenn auch der Nazoräer-Zusatz der obigen Fluchformel laut der neueren Forschung wohl etwas später eingefügt wurde, so bezeugt doch bereits Justin der Märtyrer († um 165) die Verfluchung von Christen in der Synagoge. Warum grenzen sich die Juden so entschieden von den Christen ab? Ohne Zweifel vollzieht sich zwischen 70 und 135 die grundlegende Wandlung des jüdischen Volks von einem in Israel ansässigen Gottesvolk zu einer heimatlosen, ihres Tempels beraubten Nation, die nur durch die stark spiritualisierte rabbinische Religion zusammengehalten wird. Um in dieser bedrängten Situation als Volk überleben zu können, muss die ursprüngliche religiöse Vielfalt nun zugunsten einer massiven Einheitlichkeit aufgegeben werden. Das hat zur Folge, dass fortan eine sehr verengte Gesetzesauslegung gilt, die andere Richtungen nicht dulden kann, schon gar nicht die Judenchristen.

Diese halten trotz ihrer Ausschließung aus der jüdischen Volksgemeinschaft an der Beschneidung fest und feiern weiterhin den Sabbat und die anderen jüdischen Feste, was freilich viele Heidenchristen verstimmt. So entwickeln sich die judenchristlichen Gemeinden allmählich zu einsamen, von der übrigen Christenheit isolierten Kreisen. Doch bestehen noch im 4. Jahrhundert und später kleine judenchristliche Gemeinden in Syrien. Der gelehrte, des Hebräischen kundige Kirchenvater Hieronymus († ca. 419/20) fertigte nach eigenen Angaben sogar eine lateinische Übersetzung ihres Hebräerevangeliums an, das gegenüber den kanonischen Evangelien leicht abweichende Traditionen enthält und die Stellung des Herrenbruders Jakobus besonders betont. Insgesamt geraten die Judenchristen aber immer mehr an den Rand. Die Juden können ihnen ihr Christsein nicht verzeihen und die heidenchristliche Mehrheit der Kirche akzeptiert nicht, dass sie weiterhin an den Bräuchen und Riten des Judentums festhalten. So verlieren sie immer mehr ihre zwischen Christen und Juden vermittelnde Relevanz und verschwinden allmählich aus der Geschichte.

Das Verhältnis zwischen Christen und Juden ist aber von Anfang an ambivalent. Einerseits verbindet sie der gleiche Ein-Gott-Glaube, dieselbe Heilige Schrift und viele gemeinsame gottesdienstliche Strukturen und Gebräuche, sodass noch das im ausgehenden 1. Jahrhundert entstandene Johannesevangelium Jesus zur Samariterin sagen lässt: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Andererseits ist Jesus der Stein des Anstoßes, den die Juden verwerfen und – so lautet der Vorwurf – sogar töten. Angesichts der verheerenden Folgen dieser Anschuldigung ist es wichtig, dieses spannungsreiche Verhältnis genauer zu betrachten.

Paulus ist stolz auf seine jüdische Herkunft (2 Kor 11,22; Gal 2,15; Phil 3,5). Für ihn ist Israel das auserwählte Volk, das berufen ist, den Messias hervorzubringen (Röm 9,3-5). Trotzdem fällt es ihm in Röm 9-11 nicht leicht, die momentane Ablehnung Jesu durch die Juden theologisch zu erklären. In 1 Thess 2,15 stellt er schließlich fest, dass die Juden Jesus und die Propheten getötet und die Christen verfolgt haben, weshalb sie „Gott missfallen und allen Menschen feind sind“.

Doch ist diese Stelle

1. eine Ausnahme in den paulinischen Schriften und

2. wird ihre Schärfe verständlich, wenn man bedenkt, welche Anfeindungen der Jude Paulus von seinen jüdischen Landsleuten zu erleiden hatte.

Die synoptischen Evangelien spiegeln nicht so sehr die tatsächlichen Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern und der jüdischen Führung wider, sondern das Verhältnis zwischen Juden und Christen zur Zeit ihrer Abfassung. Hinsichtlich des Leidens und Sterbens Jesu betonen sie, dass nicht in erster Linie menschliche Bosheit, sondern der Wille Gottes hinter diesem Geheimnis der Erlösung steht: „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“, heißt es beispielsweise bei Lk 24,26. Freilich findet sich bei Mt 27,25 der Ruf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, eine Verwünschung, die später von christlicher Seite sehr viel Unheil über die Juden bringen wird. Matthäus charakterisiert damit aber lediglich die konkrete Situation der Herrenpassion und beabsichtigt nicht eine auf ewig fortdauernde heilsgeschichtliche Verdammung der Juden.

Ein gewisser Antijudaismus, der sich schon in den synoptischen Schilderungen der Auseinandersetzungen Jesu mit den Pharisäern bemerkbar macht, verstärkt sich in den späten johanneischen Schriften des ausgehenden 1. Jahrhunderts. Aufgrund der nach 80 einsetzenden Ausgrenzung der Judenchristen aus dem jüdischen Synagogenverband, des dadurch verlorenen Status einer staatlich erlaubten Religion (religio licita), schließlich aufgrund der bisweilen bei den römischen Behörden vorgebrachten jüdischen Denunziationen ist die Offenbarung des Johannes sehr schlecht auf die Juden zu sprechen. Sie erkennt den Juden gar ihr Judentum ab und bezeichnet sie als „Synagoge des Satans“ (Offb 2,3; 3,9). Ähnlich schroff äußert sich das Johannesevangelium, indem es nicht – wie die Synoptiker – differenziert gegen einzelne jüdische Gruppierungen oder Führer polemisiert, sondern scheinbar ganz pauschal gegen die Juden. So haben die Juden nach Joh 8,44 „den Teufel zum Vater“, werden also – wenn man diese Stelle aus ihrem Zusammenhang reißt – auf eine Weise charakterisiert, die sich künftig verheerend auswirken sollte. Johannes meint damit freilich jene Juden, die Christus ablehnen, verfolgen und zu töten trachten, nicht aber die friedlichen und frommen Söhne und Töchter Israels.

In den nachfolgenden Generationen verschlechtert sich das Klima zwischen Juden und Christen noch mehr. So reklamieren die Christen bereits im frühen 2. Jahrhundert die Septuaginta (LXX), das in vorchristlicher Zeit von alexandrinischen Juden ins Griechische übersetzte Alte Testament, für sich und behaupten im Barnabasbrief, die Juden würden die rein geistig gemeinten Gesetzesvorschriften des Alten Testaments fleischlich missverstehen. Aus der Synagoge ausgestoßen, setzt man sich außerdem vom religiösen Brauchtum des Judentums ab, indem zu Beginn des 2. Jahrhunderts die syrisch-palästinische Didache die Fasttage keinesfalls mit den jüdischen zusammenfallen lässt und das althergebrachte Achtzehnbittengebet durch das mit sieben Bitten ausgestattete Vater unser ersetzt. Überhaupt wird der gegeneinander polemisierende Ton zunehmend schärfer, indem man die Juden z.B. pauschal als Heuchler oder als Denunzianten abqualifiziert.

 

Freilich begegnet im 3. Jahrhundert in der syrischen Didaskalia die Aufforderung, besonders in den Tagen des Pascha, während der Gedenkfeiern des Todes und der Auferstehung des Herrn, für die Juden zu beten. Auf dieser Linie bezeichnet die erneuerte Karfreitagsliturgie die Juden als das Volk, zu dem „Gott […] zuerst gesprochen hat. Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluß sie führen will.“

CHADWICK (wie S. 9) 17f. (Judenchristen).

DASSMANN, Ernst, Kirchengeschichte, Bd. 1 (= Kohlhammer Studienbücher Theologie 10) Stuttgart Berlin Köln 1991, 54-70 (Lösung der Kirche von der Synagoge).

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