Kalte Sonne

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Anfang August, 2015
Lordtom99\2\Wien:Neumann.docx

Es war kurz vor acht Uhr, als die U-Bahn-Linie 2 in der Station »Donauspital« einfuhr. Ich drängte mich an zwei Botox-Omas vorbei und nahm die Rolltreppe im Vollsprint. Oben umrundete ich das Krankenhaus und lief zum Eingang C.4, der direkt ins Untergeschoss führte. In der Garderobe schlüpfte ich aus meinen Jeans und dem Sakko. Nur mit einer Unterhose bekleidet passierte ich die Schleuse und holte mir aus einem Kästchen mit meiner Dienstnummer die keimfreien OP-Sachen. Im Saal 5 bereitete der Anästhesist die Narkose für das zweijährige Mädchen vor, das auf dem Operationstisch lag. Mit einer Tastatur regelte er die Fließgeschwindigkeit des Betäubungsgases und stülpte der kleinen Patientin die Saugöffnung über den Kopf. Sie fragte ständig nach ihrer Mutter. Ich trat näher an den Operationstisch heran und streichelte ihre Hand. »Deine Mama wartet draußen«, sagte ich. »Du wirst ein bisschen schlafen. Du bist doch müde?«

Die Kleine nickte. Nach drei tiefen Atemzügen hatte das Narkosegas ihr Zentralnervensystem erreicht und ihre Augen wurden schwer. Während die OP-Schwester den Brustkorb der Kleinen desinfizierte, warf ich einen Blick auf die Rönt genbilder und blätterte durch die Krankenakte. Nichts Auffälliges. Alter: zwei. Gewicht: neun Kilo. Keine Krankheiten, aber ein Herzscheidewanddefekt. Bei der Geburt festgestellt. Standardprogramm. Ich überließ das Abhaken der Checkliste dem Anästhesisten und ging in den Waschraum. Dort reinigte ich meine Finger und Hände in mehreren Waschgängen mit Seife und Octenisept. Am Ende kam eine Schwester in steriler Kleidung und half mir in die keimfreien Handschuhe.

»Wo ist Garstner?«, fragte ich, als ich in den Operationssaal zurückkehrte. »Er wollte mir doch assistieren.«

»Notfallhubschrauber«, antwortete der Anästhesist. »Professor Haliovic hat ihn mitgenommen. Er wird kommen, sobald er fertig ist.«

»Ein Notfall. Meinetwegen«, antwortete ich und warf einen Blick auf den reglosen Körper auf dem Operationstisch. Alles war vorbereitet. Die Röntgenbilder hingen wie Poster an den Wänden. Der Brustkorb war desinfiziert, die Schnittstelle war eingezeichnet. Der Anästhesist und der OP-Gehilfe nickten mir zu. Die Schwester reichte mir das Skalpell, und ich setzte einen sauberen Hautschnitt. Anschließend öffnete ich mit der oszillierenden Säge, einer Art Stichsäge, den Brustkorb des Mädchens. Der Spalt war schmal, kaum größer als drei Zentimeter. Ich schob zwei Klammern in die Öffnung und presste den Brustkorb auseinander. Vor mir lag der Herzbeutel. Ein rötlich-weißer Sack, der das Herz umschloss und so seine Funktionsfähigkeit gewährleistete. Mit einem Skalpell setzte ich einen zehn Zentimeter langen Schnitt in den Beutel und öffnete die rechte Herzkammer, um so an die defekte Herzscheidewand zu gelangen.

Während der Arbeit musste ich mehrmals absetzen. Meine Konzentration war schlecht. Ich sah auf die Uhr. Garstner ließ auf sich warten. Morgen flog er zu einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt nach Massachusetts. Ich hatte extra veranlasst, dass wir noch einmal zusammenarbeiteten, und jetzt funkte mir Haliovic dazwischen. Aber gut, so war es eben. Ich bat die Schwester, mir den Schweiß von der Stirn zu tupfen und lokalisierte mit einer Schlauchkamera die Löcher in der Herzscheidewand. Mit dem Skalpell schnitt ich aus dem Beutelgewebe ein Perikard-Patch, ein körpereigenes Pflaster zur Behandlung von verletzten Organen. Bevor ich das Patch anbrachte, musste ich es zur Stabilisierung in eine Glutaraldehydlösung legen. Während das Stück Gewebe in der Petrischale an Festigkeit gewann, ging die Schiebetür auf und Garstner betrat den OP. Seine OP-Haube war verrutscht, und er wirkte ziemlich angespannt.

»Haliovic hat einen Fahrradunfall drüben in Saal acht«, sagte er. »Zusammenstoß mit einem Lastwagen in der Speisinger Straße. Er will mich.«

Ich deutete mit einer Kopfbewegung mein Einverständnis an. Dann suchte ich Augenkontakt zu Garstner. Als sich unsere Blicke trafen, zog er ein Kuvert aus seinem Hosenbund und legte es in eine Lade unter der Lichtwand. Ich nickte ihm zu. Die anderen taten so, als hätten sie unsere Transaktion nicht bemerkt.

Nachdem Garstner den Saal verlassen hatte, holte ich das Patch mit einer Pinzette aus der Lösung und zerschnitt es in drei gleich große Teile. Die Schwester bereitete währenddessen die polyfilen Fäden und eine Nadel vor. Jetzt kam der heikle Teil: Ich musste die körpereigenen Pflaster an der Herzscheidewand anbringen. Da ich wenig Platz hatte, um mit dem Operationsbesteck zu hantieren, arbeitete ich sehr gewissenhaft. Ich benötigte fast zwei Stunden für diese eigentlich einfache Tätigkeit.

Kurz vor elf Uhr war es dann soweit. Die Löcher in der Herzscheidewand waren verschlossen. Nachdem der erste Assistent meine Arbeit kontrolliert hatte, bat ich den OP-Gehilfen, die Kaliumlösung abzulassen. Das Herz übernahm wieder seine Funktion im Körper, die während der OP die ECMO-Maschine ausgeführt hatte.

Mit zehn Stichen schloss ich den Herzbeutel. Den Rest überließ ich dem ersten Assistenten. Während ich am Notebook das Operationsformular ausfüllte, holte ich beiläufig Frieds Kuvert aus der Lade. Ich kontrollierte die Vitalfunktionen des Mädchens und strich ihm sanft über die Wange. Dann kehrte ich zurück in die Garderobe und warf meine OP-Kleidung in den Müll. Im Aufenthaltsraum der Chirurgie I holte ich mir einen Kaffee und aß ein Stück einer verwaisten Geburtstagstorte. Auf der Terrasse setzte ich mich in die Mittagshitze und öffnete das Kuvert. Auf einem schmuddeligen Notizzettel stand in Garstners nicht gerade erwachsen wirkender Schrift: Heute 17 Uhr, Südeingang, Axel (Militärjacke), bringe 500 Euro.

Garstner hatte erwähnt, dass der Sozialarbeiter im Kinderdorf nur gegen Bezahlung kooperierte. Von 500 Euro hatte er nichts gesagt. Aber egal, ich bekam Zugang zum geschlossenen Bereich, und darum ging es mir.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Bereitschaftsdienst im Aufwachraum. Dort konnte ich mich in ein stilles Zimmer zurückziehen und die Operationsprotokolle der vergangenen Tage fertigschreiben. Nach eineinhalb Stunden hatte ich den gröbsten Rückstand aufgearbeitet.

Aus dem Schwesternzimmer holte ich mir einen Milchkaffee und ein mürbes Croissant. Ich setzte mich in meinem Zimmer an den Glastisch, auf dem ich eine Mappe mit Zeitungsartikeln, Blogbeiträgen und Diskussionsverläufen aus dem Netz abgelegt hatte. Seit sich die Staatsanwaltschaft mit Hanna Mahlers und Manuel Sommers Geschichte befasste, hatte ich mich bemüht, alles über die beiden Ärzte zu lesen und aufzubewahren. Inzwischen umfassten meine Recherchen zwei dicke Ringordner. Ich hatte niemandem von meiner Sammelwut erzählt. Ein wenig schämte ich mich für mein Verhalten, da solche Projekte eher zu Typen, die in der neurologischen Ambulanz ein- und ausgingen, passten.

Zum ersten Mal hörte ich von der Festnahme der beiden Ärzte beim Rückflug von der jährlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, die vor zwei Wochen in Göttingen stattgefunden hatte. Kurz vor dem Abflug in Hannover scrollte ich durch die App einer Tageszeitung. In der Rubrik »Panorama« fand ich einen Artikel, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Polizeieinsatz am Bahnhof Wien Meidling: Wiener Spitzenärztin festgenommen«, lautete der Titel. Darunter ein Foto von Mahler. Weißer Kittel, kurze blondierte Haare, einen Spachtel in der Brusttasche.

In den folgenden Tagen las ich alles über Mahlers und Sommers Festnahme. Die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe gegen die beiden fesselte mich, wie ich es noch nie erlebt hatte. Manuel hatte mich nach seiner Rückkehr von der türkisch-syrischen Grenze im Morgengrauen angerufen, als er Hanna nicht in der Wohnung vorgefunden hatte. Wenig später war er bei mir im Donauspital mit einem Mädchen aufgekreuzt. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, aber jetzt, nachdem der Fall der beiden öffentlich geworden war, hatte ich große Schuldgefühle. Warum war mir damals nicht aufgefallen, welches Mädchen Manuel mitgebracht hatte? Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich sehr viel Unheil verhindern können. Es würde der Kleinen besser gehen und wahrscheinlich auch meiner Mutter, die sich die ganze Zeit über große Sorgen gemacht hatte. Gerade meiner Mutter wollte ich jetzt eine Freude machen. Die Nachricht, dass die Polizei das Mädchen gefunden hatte, konnte sie wegen ihrer Demenz-Erkrankung nicht mehr richtig verarbeiten. Ich hatte mich daher entschlossen, ein Foto von der Kleinen zu machen, damit meine Mutter sie immer bei sich hatte.

Es war schwierig gewesen, persönlichen Kontakt zu der Kleinen herzustellen. Nachdem ich abgelehnt hatte, die Sorgepflicht zu übernehmen, verwehrte mir die Polizei das Besuchsrecht. Ich musste also anderweitig aktiv werden. Als ich mich im Ärztemilieu umhörte, gab mir Garstner einen Tipp. Einen, der weit mehr als 500 Euro wert war, wenn er stimmte.

Um halb vier Uhr packte ich den Ordner mit meinen Recherchen ein und machte eine letzte Kontrollrunde im Aufwachraum. Mit der U-Bahn und der Straßenbahn brauchte ich fast eine Stunde bis zum SOS-Kinderheim in Strebersdorf. Ich ging zwischen Buschenschanken und Weinkellern zum Südeingang des Heims, vor dem ein Typ mit Camouflage-Jacke eine Zigarette rauchte und dabei nervös über sein Smartphone wischte. Das musste Axel sein. Als er mich bemerkte, zog er einen Schlüsselbund aus seiner Jacke und öffnete die Stahltür. »Georg Neumann?«, fragte er und musterte mich wie ein Grenzwachebeamter einen Kleinwagen mit rumänischen Gastarbeitern. »Garstner hat gut über Sie gesprochen.«

»Garstner ist mein Assistent. Wir kennen uns seit fast sechs Jahren«, sagte ich.

Axel zuckte mit den Schultern, dann schnippte er die Zigarette auf den Gehsteig und öffnete das Tor.

 

Das Pflegeheim bestand aus einem großen, beigefarbenen Hauptgebäude und einer Reihe von Bungalows, in denen die zehnjährigen und älteren Kinder lebten. In der Mitte des Geländes lag ein Spielplatz mit einer Baumhütte, von der Strickleitern und Seile hingen. »Haben Sie das Geld?«, fragte Axel und strich mit der Zunge über seine rissigen Lippen.

Ich zog die fünf grünen Scheine aus der Brusttasche und gab sie dem Pfleger.

»Für mich ist Ihre Anwesenheit ein Risiko«, sagte Axel. »Ich könnte den Job verlieren.« Er lächelte angestrengt.

Für meine Begriffe reagierte Axel überzogen, auch wenn der Fall für das Heim zweifellos unangenehm war. Seit Hannas und Manuels Namen in der Öffentlichkeit zirkulierten, berichteten die Zeitungen regelmäßig über das Mädchen. Anfang des Monats prangte ein Bild von der Kleinen auf dem Cover eines Boulevard-Blattes, acht Monate alt mit schwarzen Haaren, aber es war ein Fake gewesen, wie sich nach einigen Tagen herausgestellt hatte. Die Zeitung hatte ein falsches Foto gehabt.

Ich folgte Axel ins Hauptgebäude. In der Babystation verteilten die Betreuer gerade die Milchfläschchen. Es roch nach Desinfektionsmittel und säuerlichem Babyschweiß. Mich wunderte, dass niemand die Fenster öffnete. Vor den einzelnen Zimmern lagen Berge von Schmutzwäsche. Kinder lagen in ihren Gitterbetten und quengelten.

Axel winkte ins Schwesternzimmer, schlüpfte aus seiner Jacke und begleitete mich in den hinteren Teil der Station. Dort waren die drei- bis sechsjährigen Kinder untergebracht. Vier von ihnen saßen in abgetragenen Sportsachen in einem Aufenthaltsraum und tranken heiße Milch. Sie musterten mich wie einen Außerirdischen. Axel bedeutete mir, mich zu beeilen.

Er führte mich in ein Zimmer mit einem Gitterbett, einem Schrank und einem Waschbecken mit einer Ablage zum Windelwechseln. In dem Bett lag ein kleines Mädchen. Neben dem Bett saß eine junge Frau mit starker Akne und blätterte in einer Illustrierten. Sie verließ unaufgefordert das Zimmer, als Axel einen Stuhl für mich heranzog.

Ohne Platz zu nehmen, beugte ich mich über die Kleine. Kein Zweifel, ich hatte sie schon einmal gesehen. Ich kannte ihre breite, nach oben gekrümmte Nase, die wulstigen, an den Winkeln leicht eingerissenen Lippen und das runde Kinn. Ein Kloß bildete sich in meinem Magen, und ich atmete zweimal tief durch.

»Zufrieden?«, fragte Axel und ließ sich selbst auf den Stuhl fallen.

»Nein«, antwortete ich.

»Nein?« Axel lachte verlegen und kratzte sich mit seinen Wurstfingern am Kinn.

»Ich brauche Fotos von der Kleinen.«

Axel machte große Augen. »Fotos? Kommt nicht infrage. Ich habe es Garstner erklärt. Wenn die irgendwo auftauchen, ist es klar, woher sie stammen.«

»Ich brauche die Fotos trotzdem.«

Axel strich über seine rasierte Glatze. Seine Augen wurden groß, und etwas Unbestimmtes flackerte darin, als ich mein Handy nahm und die Kamera anklickte.

Axel baute sich vor mir auf. »So geht das nicht«, sagte er.

»Warum gehen Sie nicht für drei Minuten auf die Toilette? Wenn Sie zurückkommen, werde ich auf dem Stuhl sitzen und nichts wird passiert sein.«

»Und wenn ich bleibe?« Axel machte einen Schritt auf mich zu.

»Ich möchte mit den Bildern einer alten Frau eine Freude machen«, sagte ich.

Axel kniff die Augen zusammen.

Ich zog einen weiteren Hunderter aus meinem Sakko.

»Drei Minuten«, sagte Axel. »Machen Sie keinen Scheiß, sonst sind Sie dran.«

Anfang April, 2015
Lordtom99\3\Wien:Mahler.docx

»Wer sind Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen. Kommen Sie, ich habe Ihnen nichts getan.«

Stille.

»Sie sehen mich nicht einmal an. Wie alt sind Sie? 22? 23? Hat Ihnen Brandner verboten, mit mir zu sprechen?«

Keine Antwort. Nur das monotone Klicken des Aufzugs bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifuhr.

»Hören Sie, ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Wo ist Dr. Brandner, Nikolaus Brandner? Wo ist mein Kind? Meine Tochter. Ich suche meine Tochter.«

Der Aufzug ruckelte. Erdgeschoss, 1. Stock. Hanna zog sich am Seitengitter ihres Bettes hoch und blickte in das Gesicht des Mannes. Spitze Nase. Pferdeschwanz. Zerknittertes Hemd mit einer Zivildiener-Plakette an der Brust. »Sie wird gewaschen. Sie wird gewogen. Mehr ist nicht. Was soll das also? Sagen Sie mir gefälligst, wo meine Tochter ist.«

Der Zivildiener strich eine Strähne aus seinem Gesicht und blickte starr auf den Lageplan neben der Aufzugtür. »Alles Routine«, sagte er. »Alles unter Kontrolle. Beruhigen Sie sich.«

Hanna sank zurück. Bei jeder Bewegung wogte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Im dritten Stock öffnete sich die Schiebetür und der Zivildiener schob Hanna in ein Doppelzimmer. Er stellte sie auf den Platz neben dem Balkon, nahm die Krankenmappe und ging. Hanna stützte sich auf die Unterarme und sah sich um. Ihre Zimmerkollegin hatte die Decke über den Kopf gezogen. Hanna konnte nur ein braunes Haarknäuel und aufgeklebte Fingernägel erkennen. Am Nachtkästchen der Frau stand ein Orchideenstrauß. Auf der anderen Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt, lag ein Neugeborenes in einem roten Gitterbett und strampelte vergnügt.

Während Hanna die walnussgroße Faust des Kindes betrachtete, die sich ungelenk öffnete und schloss, klopfte es an der Tür. Ein Arzt, höchstens ein paar Jahre älter als der Zivildiener, betrat schwungvoll das Zimmer, nahm sich einen Stuhl und schaltete seinen Pieper auf lautlos. »Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte er. »Untersuchungen, Frau Mahler, Sie kennen das Prozedere.«

»Welche Untersuchungen?«, fragte Hanna. »Wo ist mein Kind?«

»Nun, Frau Dr. Mahler …« Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit der Innenseite seines Kittels.

»Sparen Sie sich das ›Frau Dr. Mahler‹. Ein Anruf bei der Patientenanwaltschaft und hier ist die Hölle los«, sagte Hanna. Die Aufregung machte sie ganz schwach. Sie hielt sich am Seitengitter fest und schluchzte. »Jeder Küchenpsychologe weiß, dass so ein Verhalten nicht in Ordnung ist. Nicht nach einer Geburt. Nicht gegenüber einer Mutter.«

Die Frau im Nachbarbett regte sich. Sie schlug die Decke zur Seite und holte, offenbar ohne Hanna und den Arzt wahrzunehmen, ihr Neugeborenes zu sich ins Bett.

»Frau Mahler, wir sind keine Idioten.«

»Dann sagen Sie mir, was los ist.«

Der Arzt war für die Jahreszeit braungebrannt und ließ sich offensichtlich die Augenbrauen zupfen. Er holte ein Notizbuch aus seinem Kittel und schlug es dort auf, wo das rote Leseband eingeklemmt war. »Ich habe mir Ihre Ultraschallbilder angesehen.« Kurze Pause. »Sie haben ein Mädchen erwartet, nicht wahr? Eine Tochter.«

Hanna nickte. Hinter ihrer Stirn pochten die Schmerzen. Sie fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Nicht einmal vor der Defensio ihrer Habilitationsthesen war es ihr so schlecht gegangen. »Es ist kein Mädchen«, sagte sie.

Der Arzt klappte das Notizbuch zu.

»Es ist ein Junge«, sagte Hanna.

»Der Frauenarzt hat das Geschlechtsteil auf den Ultraschallbildern übersehen.«

»Ein Junge. Wo ist das Problem?«

»Dr. Brandner wird mit Ihnen sprechen. Er wird in wenigen Minuten da sein.«

»Ich will nicht warten. Ich will den Jungen sehen. Jetzt. Sofort.« Hanna zog sich am Seitengitter hoch. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um nicht sofort wieder umzukippen. Als sie aufrecht saß, wurde ihr schwarz vor den Augen.

»Frau Mahler, bitte beruhigen Sie sich. Sie haben eine sechsstündige Geburt hinter sich. Dr. Brandner wird gleich kommen.« Verlegen lächelnd drückte der Arzt Hanna sanft zurück ins Bett.

Als Hanna wieder alleine war, trank sie einen Schluck Früchtetee. Mit der Tasse in der Hand blickte sie aus dem Fenster. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag. Die Eichen und Tannen im Park der Semmelweis-Klinik glänzten im Sonnenlicht. Es war still, außergewöhnlich still für so ein großes Krankenhaus.

Eine falsche Bestimmung des Geschlechts kam gelegentlich vor. Hanna wusste das. Meistens handelte es sich um einen unachtsamen Frauenarzt oder um ein veraltetes Ultraschallgerät, das den Innenraum der Gebärmutter unscharf reproduzierte. Es konnte auch passieren, dass das Kind schlecht lag und so das Geschlecht nicht vollständig zu erkennen war.

Aber das alles traf nicht zu. Davon war Hanna überzeugt. Der Frauenarzt war ein Profi mit modernster Ausstattung, den sie seit Jahren konsultierte. Sie selbst hatte sich das Ultraschallbild angesehen. Zuerst in der Praxis und dann noch einmal daheim. Ihr Kind war ein Mädchen.

Im Nachbarbett regte sich das Neugeborene. Es streckte seine Arme und kreischte. Die Mutter legte das Kind an ihre Brust. Hanna beobachtete den Stillvorgang. So in etwa hatte sie sich die Stunden nach der Geburt vorgestellt. Zu zweit im Bett. Sie und das Mädchen ganz nah, so nah, dass sie sich gegenseitig einatmen konnten.

Als das Neugeborene gegenüber seinen Hunger gestillt hatte, schlief es augenblicklich ein. Die Frau legte das Kind in das rote Gitterbett zurück und tapste mit nackten Füßen ins Bad. Duschgeräusche. Der Ventilator brummte.

Seit dem Gespräch mit dem jungen Arzt waren zwanzig Minuten vergangen und Brandner war noch immer nicht da. Mistkerl. Hanna entschloss sich, bei nächster Gelegenheit tatsächlich den Patientenanwalt zu kontaktieren oder gleich den Vorstand der Semmelweis-Klinik. Aber zuvor brauchte sie Informationen über den Zustand ihres Kindes.

Hanna drückte den Notfallknopf am Nachtkästchen. Einmal. Zweimal. Sie wartete. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Nichts. Sie setzte sich an den Bettrand und atmete tief ein. Sie schlüpfte in die Krankenhausschuhe und machte sich auf den Weg zur Tür. Langsam. Bedächtig. Mit zur Sicherheit ausgestreckten Armen. Sie schaffte es ohne Schwindelanfall bis zum Waschbecken neben der Tür. Dort machte sie eine Pause. Wehmütig blickte sie zu dem schlafenden Kind. Ein Junge. Wenigstens deutete der blaue Strampler daraufhin. Er hatte dichte, schwarze Haare und eine Boxernase. Seine Hände lagen ruhig auf der Bettdecke.

Hanna schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war zu schwach, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Kehle war trocken. Die Beine zitterten. Mit letzter Kraft trat sie auf den Gang. Sie tastete sich an der Mauer entlang und klopfte an die Glastür des Schwesternzimmers. Sie hörte Stimmen. Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken. Ein Telefon läutete. Schritte. Die Tür ging auf. Das bleiche Gesicht einer Mittvierzigerin war das Letzte, das Hanna wahrnahm.

Weißes Licht. Ein Luftzug vom Fenster. Ein Vorhang, der sich aufbauscht.

Schmerzen. Im Kopf. Im Unterleib. Schmerzen. Am Handgelenk. Am Oberkörper.

»Frau Mahler, hören Sie mich? Ich bin Marija. Bitte geben Sie mir Ihren Arm. Keine Sorge, es tut nicht weh.«

Hanna öffnete die Augen. Eine Schwester mit einer Tätowierung am Handgelenk beugte sich über sie. »Ich gebe Ihnen Kochsalzlösung. Sie haben lange geschlafen.«

Hanna stützte sich auf die Ellbogen. »Was?« Sie fühlte einen Verband auf ihrer Stirn. »Wie lange?«

»Sie sind in Ohnmacht gefallen. Gestern.«

»Gestern?«

»Der Arzt kommt gleich.«

Marija hängte die Kochsalzlösung an den Haken über ihrem Bett. Das Bett der zweiten Frau im Zimmer war leer. Im Gitterbett quengelte ihr Junge. Aus dem Bad kamen Duschgeräusche.

»Bitte geben Sie mir mein Kind«, sagte Hanna.

Hanna zeigte auf ihr Nachthemd, das nass war von der austretenden Muttermilch.

»Ich hole eine Pumpe«, sagte Marija.

»Ich will keine Pumpe«, antwortete Hanna. »Ich will mein Kind.«

Brandner kam mit seinen Assistenten zwanzig Minuten später. Unter dem weißen Mantel trug er ein weißes Hemd mit einer roten Krawatte. Er blätterte in Hannas Mappe und erzählt währenddessen seinen Assistenten von Hannas Arbeit in der Embryonenforschung und ihren gemeinsamen Studienjahren an der Universitätsklinik. Er schmeichelte Hanna dabei ein wenig.

»Ich weiß, wer ich bin«, unterbrach ihn Hanna. »Ich kenne meine Geschichte.«

Brandner nestelte an seinem Krawattenknoten. »Schon gut«, sagte er.

Als Ärztin hasste es Hanna, schlechte Nachrichten zu überbringen. Auch deswegen war sie nach dem Studium in die Forschung gegangen. Forschung bedeutete für sie, den Kontakt zu den Patienten auf elegante Weise zu reduzieren. Es gab nur sie und die konzentrierte Sterilität des Labors. Es gab keine schlechten Nachrichten. Es gab nur in Paraffin fixierte Versuchsanordnungen, die keine Schmerzen empfanden.

 

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Brandner. »Noch nie hat so ein Junge in Wien eine Geburt überlebt.«

»Was ist mit meinem Kind?«, schrie Hanna. »Ich will es sehen.«

Brandners Assistenten senkten die Blicke.

»Der Junge liegt auf der Intensivstation«, sagte Brandner. »Die Psychologen meinten, wir sollen noch warten, bis wir ihn dir zeigen. Du weißt ja, wie das ist.«

»Vergiss die Psychologen. Bring mich sofort zu dem Jungen.« Hanna rutschte aus dem Bett. Als ihre Fußsohlen den Boden berührten, musste sie sich am Nachtkästchen festhalten. »Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du dir einen Job als Pharmareferent suchen.«

»Wie du meinst.« Brandner schickte die Assistenten ins Schwesternzimmer. »Komm mit«, sagte er, und befestigte Hannas Infusionsbeutel auf einem Ständer.

Mit dem Lift fuhren die beiden ins Erdgeschoss zur Intensivstation für Neugeborene. Brandner öffnete mit einer Karte eine Schiebetür und bat Hanna, ihm zu folgen. Die Intensivstation war ein schmaler Raum mit einer langen Reihe von Brutkästen. Auf einem Mauervorsprung standen dreißig Fläschchenwärmer mit vollen Milchflaschen. Ein EKG-Gerät piepste leise. Hannas Hände zitterten. Sie hatte sich alles so anders vorgestellt. Was passierte hier?

Ganz hinten lag ein Neugeborenes in einem Gitterbett mit einem leeren Namensschild. Am Kopfende stand ein Herzfrequenz-Überwachungsgerät. Von der Decke hing eine höhenverstellbare Halogenlampe, die wohl dazu diente, die Körpertemperatur des Säuglings zu regulieren.

»Dein Sohn«, sagte Brandner.

So lange hatte Hanna auf diesen Augenblick gewartet, nun wagte sie es nicht, näherzutreten. Eine blassrosa Bettdecke. Vier Schläuche, die seitlich aus dem Bett hingen, und eine Infusion für die künstliche Ernährung. Am Namensschild war nichts als eine grau gepunktete Linie. ›Lisa‹ sollte dort stehen.

Monatelang hatte sie mit Manuel über den Namen nachgedacht. Er hatte ausgefallene Namen vorgeschlagen. Naima. Keisha. Tessa. Hanna lehnte solche Namen nicht rundheraus ab. Manche fand sie schön. Aber die Namen sprachen nicht zu ihr. Sie drängten sich nicht auf.

Bei ›Lisa‹ war das anders. Der Name war einfach, aber er erzeugte Bilder eines Alltags, der Hanna an ihre eigene Kindheit erinnerte. Butterbrote, Buntstifte, Hausübungsgutscheine. Geburtstagspartys, Faschingskostüme, Wasserfarbenspritzer. Hannas Vergangenheit und Lisas Zukunft.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Brandner.

Hanna trat an das Gitterbett heran. Der Kopf des Jungen war mit weißem Mullverband verbunden und der Körper war in eine weiße Decke gepackt. Nur das Gesicht lag offen da. Die Haut war rot und an den Wangen von dicken, violetten Adern durchzogen. Die Oberlippe war bis zur Nase gespalten. Die Augen waren geschlossen. Hanna sah, dass sie sich nie öffnen würden. »Er wird sterben«, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker neben dem Gitterbett.

Brandner nickte.

»Welche Chromosomenstörung ist es? 13 oder 18?«

»Das klären wir gerade.«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Kleine keinen Ton von sich gab. Inmitten des Geschreis der Frühgeborenen war ihr Sohn vollkommen still. Er wirkte, als sei er noch gar nicht auf der Welt angekommen. Die anderen Kinder kreischten, bis sie rot anliefen und beinahe an ihrer Angst oder ihrem Schmerz erstickten. Ihr Sohn lag einfach da. Blind. Kraftlos. Mit einem Turban aus tausendundeiner Nacht.

Brandners Pieper ertönte. »Wir reden am Abend«, sagte er. Ehe er ging, drehte er sich noch einmal um. »Der Kleine wird viel Fürsorge brauchen.«

Hanna sah auf. »Fürsorge? Er braucht Infusionen. Er braucht künstliche Ernährung. Er braucht ein Beatmungsgerät. Das nennst du Fürsorge?«

Hanna blieb noch eine Stunde bei ihrem Sohn. Seine Hand war feucht und weich wie Plastilin. Sie blickte abwechselnd vom Gesicht des Kleinen zum Monitor, der seinen Pulsschlag aufzeichnete. Er braucht einen Namen, dachte sie. Ihr fiel ein mittelalterlicher König ein, der für seine geringe Körpergröße in ganz Europa bekannt war. Pippin, sagte sie zu sich selbst. Einen passenderen Namen konnte sie sich nicht vorstellen.

Zu Mittag bat sie Marija, sich bei der kleinsten Veränderung von Pippins Gesundheitszustand bei ihr zu melden. Egal, was von nun an mit dem Jungen geschah, Hanna wollte dabei sein. Das Schlimmste von allem war die Warterei auf der Station gewesen.

Während sie zum Lift ging, fragte sie sich, ob sie Manuel anrufen sollte. Was sollte sie ihm sagen? Wie würde er reagieren? Hanna vermutete, dass er sehr liebevoll sein würde. Er würde sie trösten. Die Vorstellung, dass sie getröstet werden musste, verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend.

In der Station verteilten die Pfleger die Tabletts mit dem Mittagessen. Hanna setzte sich mit einem vegetarischen Menü auf den Balkon. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Tannen im Park warfen kaum Schatten. Hanna kostete ihre Ravioli mit Gorgonzolasauce und verzog das Gesicht. Die Nudeln waren weich und schmeckten nach gekochten Styroporplatten. Nach einem zweiten Bissen legte Hanna das Besteck weg und betrachtete die Tannen. Alles war ihr gleichgültig. Die Schmerzen. Der Durst. Die Sonne. Manuel. Nichts hatte Bedeutung. Die Bilder, die Gedanken, die Wünsche, die Hoffnungen, die Hanna in den vergangenen Tagen und Wochen begleitet hatten, waren weg. Sie fühlte sich leer. Sie empfand nicht einmal Schmerz über Pippins Zustand oder Zuneigung zu ihm, es war eher eine Art ungläubige Verwunderung.

Das ist mein Kind?

Das wird meine Zukunft sein?

Hanna wunderte sich. Über die Tannen, die Sonne, die Autos am Parkplatz. Sie wunderte sich, dass die Welt mit der gleichen unerbittlichen Folgerichtigkeit ihrer Zukunft entgegenstrebte. Ein wahnsinniger, irrer Flug ohne Zwischenstopp, ohne Ziel, mit Passagieren, die starr nach vorne blicken.

Nachdem der Pfleger das Tablett mit ihrem kaum angerührten Mittagessen abgeholt hatte, kontrollierte sie ihre E-Mails. Sie hatte eine Nachricht von Manuels Eltern und eine von Sylvia Bergmann erhalten. Manuels Eltern wussten nichts von der verfrühten Geburt. Sie erkundigten sich nach ihrem Befinden. Bei Sylvia lagen die Dinge komplizierter. Während Hanna am Vortag auf die Rettung gewartet hatte, hatte sie per SMS einen Vortrag und einen Besprechungstermin im AKH abgesagt. Sylvia wusste also von der Geburt. Ihre Mail klang entsprechend aufgeregt. Glückwünsche, Emojis, ein Foto von der Labormannschaft.

Hanna strich sich eine Strähne aus der Stirn. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war ein Besuch ihrer Arbeitskollegen. Sie hatte keine Ahnung, was sie in die Mail an Sylvia schreiben sollte. Am liebsten wäre ihr: Lass mich. Aber das würde Sylvia nur neugierig machen.

»Geht’s Ihnen gut?«

Hanna fuhr herum.

Marija. Sie hatte die Ärmel ihres blassblauen Schwesternkleides hochgekrempelt. Das Tattoo an ihrem Handgelenk zeigte eine blaue Rose. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie mit weicher Stimme und gab ihr einen Folder des Kriseninterventionszentrums für Eltern von behinderten Kindern.

Hanna blätterte darin. Sie empfand die darin zelebrierte Kopf-hoch-Haltung als entwürdigend.

»Im dritten Stock finden Sie Frau Dr. Bayer«, sagte Marija. »Sie ist Psychologin. Die Dienstzeiten stehen auf der Rückseite. Reden Sie mit ihr. Es wird Ihnen guttun.«

Psychologie? Hanna hatte eine Abneigung gegen dieses Fach. Es war eine halbe Geisteswissenschaft, ein Hort von schiefen Wahrheiten und kruden Thesen. Schon an der Uni hatte Hanna die Psychologiestudenten belächelt. Meist waren es junge Frauen gewesen, halbe Mädchen, die schon einen ausgeprägten Mutterinstinkt zu haben schienen und bei jedem noch so großen Unsinn, den jemand von sich gab, verständnisvoll nickten.