Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #15
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2.4 Hegemoniale Männlichkeit

Auch das Konzept der hegemonialen Männlichkeit entstand in Auseinandersetzung mit Foucaults Machtbegriff.170 In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde es 1985 von den Soziologen Tim Carrigan, Robert Connell171 und John Lee in dem Aufsatz „Toward a new sociology of masculinity“ (1985). Breitere wissenschaftliche Rezeption erlangte es jedoch erst durch Connells nachfolgende und mittlerweile vielfach neu aufgelegte Klassiker der Gender-Studies, die Monographien Gender and Power (1987) sowie Masculinities (1995).172 Mit Rückgriff auf Antonio Gramscis Begriff der kulturellen Hegemonie definiert Connell hegemoniale Männlichkeit darin folgendermaßen:

The concept of ‚hegemony‘, deriving from Antonio Gramsci’s analysis of class relations, refers to the cultural dynamic by which a group claims and sustains a leading position in social life. At any given time, one form of masculinity rather than others is culturally exalted. Hegemonic masculinity can be defined as the configuration of gender practice which embodies the currently accepted answer to the problem of the legitimacy of patriarchy, which guarantees (or is taken to guarantee) the dominant position of men and the subordination of women.173

Hegemoniale Männlichkeit beschreibe demnach eine kulturell herausgehobene Position und fungiere als Legitimierung der aktuell herrschenden patriarchalen Ordnung einer Gesellschaft. Dies impliziere gleichsam die Unterordnung von Frauen. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit versteht sich damit auch als analytische Weiterentwicklung der lange den feministischen Diskurs bestimmenden Patriarchatstheorien. Diese sollten die strukturelle Dominanz der Männer wissenschaftlich greifbar machen. Während beispielsweise der radikale Feminismus Männer in der Täter-, und Frauen in der Opferrolle festschrieb, argumentierte der sozialistische Feminismus zusätzlich mit dem kapitalistischen System als Mechanismus für die Unterdrückung der Frau. Beide Patriarchatsbegriffe, sowohl der radikal-feministische als auch der sozialistisch-feministische, ignorieren Gewalt-, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Geschlechter und betrachten allein die Frau als Opfer männlicher physischer, psychischer und systemischer Gewalt.174

Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit sei hingegen nur pluralistisch und relational fassbar.175 Zum einen beschreibe es ein Abbild von, je nach historischem und kulturellem Kontext veränderlichen gesellschaftlichen und sozialen Realitäten.176 Zum anderen basiere es auf der Annahme, dass nicht die eine, singuläre Männlichkeit existiere, sondern eine Vielzahl an Männlichkeiten. Daraus folge, dass (mitunter gewaltgeprägte) Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter Männern bestünden. Das heißt, das Konzept der hegemonialen Männlichkeit umfasst immer auch zusätzliche Männlich- und Weiblichkeiten und berücksichtigt nicht nur heterosoziale, sondern auch homosoziale Kontexte und Hierarchisierungen:

‚Hegemonic masculinity‘ is always constructed in relation to various subordinated masculinities as well as in relation to women. The interplay between different forms of masculinity is an important part of how a patriarchal social order works.177

Daraus wiederum leitet Connell ab, dass alle Akteure eines gesellschaftlichen Systems an der (Re)Produktion dieser hegemonialen Männlichkeit teilhaben – sei es als die Person, die hegemoniale Männlichkeit verkörpert, als Komplize oder als Diskriminierte/r. Obschon nicht jede/r aktiv daran mitwirke, könne er/sie sich dem System nicht entziehen. Während der erste und der letzte Typus weitgehend selbsterklärend sind, insofern der eine dominiert und der/die andere untergeordnet ist, bedarf der Begriff der Komplizenschaft einer kurzen Erläuterung. Connell definiert sie folgendermaßen: „Masculinities constructed in ways that realize the patriarchal dividend, without the tensions or risks of being the frontline troops of patriarchy, are complicit in this sense.“178 Die patriarchale Dividende wiederum beschreibt „the advantage men in general gain from the overall subordination of women“.179 Nicht jeder Mann sei demnach aktiv und direkt an der physischen oder psychischen Unterdrückung und Abwertung von Frauen oder anderen Männern beteiligt – eine Annahme, die jedoch vor allem den radikalen Feminismus der 1960er und 1970er Jahre prägte und gegen die sich Connell wendet. Gleichwohl profitiere ein Mann als Angehöriger des hegemonialen Geschlechts unter Umständen von diesen Strukturen. Allerdings zögen nicht alle Männer in gleicher Weise Vorteil aus dieser strukturellen Hegemonie, denn auch unter Männern, und das ist einer der entscheidenden Punkte an Connells Konzept, existieren Momente von Ab- und Ausgrenzung.180 Die komplementären Prozesse, die eine Person oder Gruppe an das eine oder andere Ende der Hierarchie (also entweder in eine dominante oder untergeordnete bzw. diskriminierte Position) rücken, bezeichnet Connell als Ermächtigung und Marginalisierung. Diese beiden Begriffe beschreiben die sozialen Vorgänge unter Männern und stehen in Relation zu anderen strukturellen Kategorisierungen wie Klasse, Alter oder Ethnie.

Über das Konzept der hegemonialen Männlichkeit lässt sich also Geschlechterdifferenz in spezifische Geschlechterverhältnisse übersetzen.181 Oder anders formuliert: Männlich- und Weiblichkeiten bilden gesellschaftliche Effekte der im Prozess des doing gender reproduzierten Geschlechterdifferenz ab, indem sie eine bestimmte Hierarchisierung repräsentieren.182 Geschlecht definiert Connell als „a way in which social practice is ordered“183. Sie betont dabei die Prozesshaftigkeit, die auch für den sozialkonstruktivistischen Ansatz des doing gender essentiell ist. Während letztgenannter vor allem die wechselweise Verschränkung von Darstellung und Ansicht oder Erkennen fokussiert, hebt Connell zudem die körperliche, sprich reproduktive Interaktion zwischen den Geschlechtern als immanent für soziale Geschlechterkonstruktionen hervor:

In gender processes, the everyday conduct of life is organized in relation to a reproductive arena, defined by the bodily structures and processes of human reproduction. This arena includes sexual arousal and intercourse, childbirth and infant care, bodily sex difference and similarity.184

Das Feld der Reproduktion wird damit zum Verhandlungsraum zwischen unterschiedlichen Männlich- und Weiblichkeiten und Körperlichkeit zum bestimmenden Faktor bei der Analyse von Geschlechterverhältnissen.185 So fasst Connell den Körper als sozialen agens: „We need to assert the activity, literally the agency, of bodies in social processes.“186 Körperreflexive Praxen seien sozial bedeutsam, insofern sie den Körper in soziale Prozesse und historische Kontexte einbetteten, ohne ihn seiner Materialität zu berauben:187

[B]odies […] do not turn into symbols, signs or positions in discourse. Their materiality (including material capacities to engender, to give birth, to give milk, to menstruate, to open, to penetrate, to ejaculate) is not erased, it continues to matter. The social process of gender includes childbirth and child care, youth an ageing, the pleasure of sport and sex, labour, injury, death from AIDS.188

Körperreflexive Praxen schaffen demnach soziale Realitäten und gesellschaftliche Strukturen.189 In diesem Sinne wirken sie, wie Connell mit Rückgriff auf den tschechischen Philosophen Karel Kosik feststellt, „onto-formative“ (d.h. weltgestaltend).190

Gestützt wird hegemoniale Männlichkeit nicht von der Macht Einzelner, gegen die auch Foucault argumentiert, sondern von kollektiver, institutioneller Macht: „It is the successful claim to authority, more than direct violence, that is the mark of hegemony (though violence often underpins or supports authority).“191 Das wiederum bedeute, dass hegemoniale Männlichkeit nicht (zwingend) auf Gewalt beruhe, diese jedoch strukturell begünstige.192

Wie Connell weiter schreibt, besteht einer der wichtigsten Aspekte hegemonialer Männlichkeit in ihrer Fluidität und damit ihrer historischen Gebundenheit. Für die vorliegende Arbeit bedeutet das, Connells Begriff konzeptuell zu verwenden, d.h. nicht nach den von ihr für die australische Gesellschaft erforschten Ausprägungen hegemonialer Männlichkeit zu suchen, sondern vielmehr herauszuarbeiten, inwiefern in Onettis Texte ein spezifischer hegemonialer Männlichkeitsdiskurs eingeschrieben ist. Dass dennoch eine australische Theoretikerin, die sich grundlegend auf eine angloamerikanisch-französische Forschungstradition (Michel Foucault, Judith Butler et al.) beruft, zur Untersuchung lateinamerikanischer Männlichkeiten ins Feld geführt wird, ist der Tatsache geschuldet, dass sich auch lateinamerikanische Wissenschaftler*innen auf diese Theorien berufen und den möglichen Vorwurf einer neokolonialen, okkzidental-zentrierten Forschungsperspektive somit obsolet werden lassen.193

In Auseinandersetzung mit bereits existierenden Forschungsarbeiten zu lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten versucht die vorliegende Arbeit also zu bestimmen, welche Verhaltensweisen, Mimik, Gestik, welches sexuelle Begehren, welche soziale Stellung, welche körperreflexiven Praxen im kulturellen Kontext der La-Plata-Region, in dem Onetti seine Erzählungen verortet, als hegemonial dargestellt werden und wie sich davon ausgehend die Geschlechterverhältnisse innerhalb des Analysekorpus lesen lassen. Die Hauptuntersuchungsachse verläuft dabei über das Feld der Reproduktion, männliche Disziplinierungsmaßnahmen über den weiblichen Körper sowie widerständige weibliche Sexualität. Die Frage, an welche Räumlichkeiten diese Mechanismen gebunden sind, schlägt den Bogen zurück zu Foucaults Machtbegriff.

 

2.5 Spezifisch lateinamerikanische Männlich- und Weiblichkeiten

Eine Arbeit, die sich mit lateinamerikanischen Männlich- und Weiblichkeiten in Verbindung mit machträumlichen Aspekten befasst, kommt nicht umhin, sich mit den Phänomenen Machismo und Marianismo auseinanderzusetzen, insofern deren Komplementarität auf einer klaren räumlichen Dichotomie und entsprechenden genderspezifischen Machtzuschreibungen beruht. Oder anders gewendet: Machismo beschreibt eine Männlichkeit, die auf die Sphäre des Öffentlichen gerichtet ist, Marianismo eine Weiblichkeit, welche die Frau in ihrer sozialen Funktion als Mutter fasst und exklusiv im Inneren des Hauses verortet. Die daraus resultierende machträumliche Ordnung weist der Frau die Herrschaft über den häuslichen, dem Mann über den öffentlichen Bereich zu. „Entsprechend“, so Barbara Potthast, „verkündet die lateinamerikanische Frau: ‚la reina del hogar soy yo‘ […] oder ‚en la casa, mando yo‘ […].“194 Diese räumliche Segregation, die auch Foucault, Beard, Massey und Lorey als grundlegend für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis konstatieren respektive kritisieren, bildet den Kern des Verhältnisses zwischen Machismo und Marianismo. Inwieweit dieses reziproke Verhältnis auch in Onettis Texte eingeschrieben ist und für die Analyse genderbezogener machträumlicher Zusammenhänge innerhalb des Diskursraums Santa María fruchtbar gemacht werden kann, soll in den Kapiteln 4 und 5 diskutiert werden.

In einem ersten Schritt sollen nun die Implikationen dieser beiden Konzepte sowie deren wissenschaftliche Einbettung erläutert werden, in einem weiteren Schritt die soziologische Engführung auf die Darstellung spezifischer Geschlechterverhältnisse innerhalb des Tangodiskurses, insofern ein Teil des Onetti‘schen Figurenkabinetts im Tango-Milieu verortet ist und dieses somit als außerliterarische Referenz für die Textanalyse herangezogen werden soll.195 Während Machismo keine exklusiv lateinamerikanische Männlichkeit beschreibt und auch innerhalb des Kontinents in seiner Ausprägung variiert, wird Marianismo ausschließlich zur Beschreibung einer spezifisch lateinamerikanischen Weiblichkeit verwendet. In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde der Terminus Anfang der 1970er Jahre von der US-amerikanischen Anthropologin Evelyn Stevens.196 „Marianismo“, schreibt sie, „is the cult of feminine spiritual superiority, which teaches that women are semidivine, morally superior to and spiritually stronger than men.“197 In Analogie zur heiligen Maria verstehe sich die Frau im Marianismo als dem Mann moralisch und spirituell überlegen – und wird auch so wahrgenommen. Sie gelte als das Abbild der Muttergottes, deren passive Geschlechterrolle durch die unbefleckte Empfängnis festgeschrieben ist:

In the patriarchal Catholic culture – where God was the father and only men could become priests – the Virgin Mary stood as the most prominent image of what an ideal woman should be.198

Die ‚echte Frau‘ ist laut Stevens‘ Untersuchungen moralisch unfehlbar, bleibt keusch bis zur Ehe und betrachtet Geschlechtsverkehr als exklusiv eheliche Pflicht im Dienste Gottes.199 Sie bete für die Vergebung der Sünden ihrer männlichen Verwandten, vor allem die des Ehemannes und der Söhne – wohlwissend, dass diese Gebete ob der grundsätzlichen männlichen Fehlbarkeit und deren kindlicher Unreife200 weitestgehend wirkungslos blieben. Die wichtigste Fähigkeit dieser idealisierten Frauenfigur sei indes die Mutterschaft. Als solche erlange ‚die Frau‘ einen halbheiligen (semidivine) Status innerhalb der Familie. Das Erdulden der Geburtsschmerzen und das Wissen um die moralischen Fehlbarkeiten des Ehemannes spiegle sich, wie Stevens fortfährt, im Bild der mater dolorosa201 wider: Es steht für mütterliche Leidensfähigkeit, die Erduldung von Trauer und Schmerz.202

Indem Stevens Marianismo in Abhängigkeit zum Begriff des Machismo setzt, argumentiert sie gegen ein als ungleich wahrgenommenes Machtverhältnis zwischen lateinamerikanischen Männern und Frauen: „It is time to set the record straight: from the Rio Bravo south to Patagonia it is at least 50 percent a woman’s world, even though the men don’t know it.“203 Machismo sei demnach kein Phänomen rein männlicher Alleinherrschaft, sondern könne seine Suprematie über die Frau erst im Zusammenspiel mit dem weiblichen Analogon, dem Marianismo, entfalten: „Our historical perspective enables us to see that far from being an oppressive norm dictated by tyrannical males, marianismo has received considerable impetus from women themselves.“204 Sie betont damit die Reziprozität beider Phänomene oder anders gewendet: ‚Die marianistische Frau‘ begehre nicht gegen ihre Unterordnung auf, sondern stütze und reproduziere die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern – da sie selbst, so Stevens weiter, innerhalb eines großfamiliären Verbundes von diesem Arrangement profitiere. Zugespitzt spricht Stevens in diesem Zusammenhang auch von „female chauvinism“205, denn Frauen seien innerhalb dieser stark christlich heteronormativ geprägten Geschlechterordnung keineswegs machtlos. Ihre gesellschaftliche Machtposition finde ihre Ausprägung insbesondere in der Erziehung (männlicher) Kinder. Als Manifestationen der Muttergottes profitierten sie von der moralischen und spirituellen Erhöhung, die ihnen durch die kulturelle Hegemonie des christlichen Glaubens in Lateinamerika zukomme – solange sie sich an die ihnen zugewiesene passive sexuelle Rolle hielten:

For women do enjoy great power in Latin America, based on their acknowledged spiritual superiority. In the hierarchy of values of Latin American culture, matters of the spirit stand undisputedly above all others. […] A married woman can be lazy, bad tempered, improvident, but as long as she is not found to be sexually promiscuous, she will be regarded as a good wife and mother.206

Entscheidend für eine positive gesellschaftliche Reputation seien demnach ihr Status als verheiratete Frau, sowie ihre Mutterfunktion. Das heißt, das marianistische Bild der ‚guten Frau‘ ist sowohl an eine erfüllte Reproduktion als auch an den rechtlichen Rahmen der Ehe gebunden, woraus sich wiederum eine Limitierung weiblicher Sexualität auf eben diese Institution, oder wie Foucault schreibt, eine exklusive räumliche Verortung im ehelichen Bett ergibt.

Machismo definiert Stevens als ‚Männlichkeits-‘ oder ‚Virilitätskult‘, welcher tief im gesamten lateinamerikanischen Kulturraum verwurzelt, und je nach historischen Kulturkontakten der Bevölkerung stärker oder schwächer ausgeprägt sei:

[T]he term Machismo will be used to designate a way of orientation which can be most succinctly described as the cult of virility. The chief characteristics of this cult are exaggerated aggressiveness and intransigence in male-to-male interpersonal relationships and arrogance and sexual aggression in male-to-female relationships.207

Machismo zeichne sich demnach vor allem über einen hohen Grad an Aggression aus. In homosozialen Kontexten zeige sich dies in der Härte und Unnachgiebigkeit gegenüber anderen Männern. In heterosozialen Kontexten finde diese Aggression ihren Ausdruck oftmals in sexualisierter Gewalt und einer grundsätzlichen Abwertung der Frau. Die beschriebenen Aggressionen ließen sich daher nur in den wenigsten Fällen in „business or professional activities [that] can be nonphysical expressions“208 kanalisieren – in der Mehrzahl entlade sie sich in heterosozialen Konstellationen, sprich: gegen Frauen. Machistische Männlichkeit erfordere außerdem, die eigene sexuelle Potenz ständig unter Beweis zu stellen – bestenfalls durch das Zeugen von Kindern, im Idealfall von Söhnen, oder zumindest durch das öffentliche Sich-Zeigen mit Geliebten. Diese stammten häufig aus sozial niedrigeren Schichten und profitierten ihrerseits von diesem gesellschaftlich akzeptierten Arrangement, indem sie für ihre Rolle als Geliebte materielle Zuwendungen erhielten.209 Auffällig ist, dass die machistischen Codices überwiegend innerhalb eines homosozialen Referenzahmens verortet sind; das bedeutet zum Beispiel, dass laut Stevens der Beweis sexueller Aktivität und Potenz, die in der Zeugung eines Kindes manifest werden, für eine ausschließlich männliche Peergroup außerhalb des eigenen Hauses erbracht werde.210 Machistische Männlichkeit ist demnach mit einer kontinuierlichen ‚Beweispflicht‘ bezüglich der eigenen Potenz verbunden, marianistische Weiblichkeit hingegen mit der Negierung der eigenen Sexualität. Innerhalb des Machismo und Marianismo ist Sexualität damit stark kontrastiv markiert; der Mann als sexuell aktiver, die Frau als sexuell passiver Part. Was beide, männliche und weibliche Sexualität als reflexive Körperpraxis wiederum eint, ist die grundsätzliche Ausrichtung auf Reproduktivität. Doch auch darin unterliegen sie einer starken Dichotomie: Männliche reproduktive Fähigkeiten gelten als Affirmation ihrer Potenz und sind nicht an den christlich-institutionellen Rahmen der Ehe gebunden, weibliche Reproduktionsfähigkeit ist hingegen exklusiv darauf beschränkt. Die Rigidität dieser Dichotomie birgt ein starkes Subversionspotential, welches in Kapitel 5.3 am Beispiel mehrerer weiblicher Figuren in Onettis Texten analysiert werden soll.

Kritik, die das Konzept des Machismo erfährt, zielt unter anderem auf die Tendenzen zu Generalisierung und Exotisierung, die einige Untersuchungen aufweisen.211 So sieht etwa Rafael L. Ramírez Machismo als einen vielgebrauchten, medial überstrapazierten und damit als Beschimpfung in die Alltagssprache eingegangenen Begriff. Er kritisiert dessen konzeptuell schlechte Ausarbeitung, da durch dessen Singularität die Vielfalt lateinamerikanischer Männlichkeiten nicht abgebildet und in den meisten Fällen die positiv konnotierten Eigenschaften des typischen ‚Macho‘ ausgespart würden:212

Although many authors (Abad, Ramos, and Boyce 1974: Padilla and Ruiz 1973) pointed out some purportedly positive aspects of Machismo, such as courage, responsibility, and perseverance, the fact remains that the term is associated with male traits or behaviors to which negative qualities are attributed: ‚the sum total of simultaneous brutality, arrogance, and submissiveness (De Jesús Guerrero 1977, 37).213

Ramírez‘ Kritik richtet sich damit gegen eine essentialistische Form von Rollenzuschreibung, wie sie etwa Robert Brannon und Elisabeth Badinter in den 1970er und 1990er Jahren formulierten.214 Ramírez plädiert jedoch trotz seiner Kritik an den „conceptual limitations of studies on Machismo and their limited explanatory power“ für einen Erhalt von Machismo als wissenschaftlichem Terminus. Allerdings fordert er eine kritische Diskussion und stärkere Kontextualisierung des Begriffs in Bezug auf die grundsätzliche Pluralität von Männlich- und Weiblichkeiten.215

Mit Fokussierung auf Männlichkeiten in Peru leistet dies Norma Fuller in ihren Forschungsarbeiten:216

Uno de los objetivos que me propuse al iniciar mis investigaciones sobre las identidades masculinas fue criticar la identificación del llamado macho con la masculinidad típica en América Latina. Buscaba demostrar que este estereotipo nos impide comprenderla bien y encontrar un camino alternativo para explicar por qué el discurso de sentido común –y en algunos casos el académico– lo aceptan como un hecho.217

Fuller fasst Machismo nicht als die lateinamerikanische Männlichkeit, sondern als eine von vielen lateinamerikanischen Männlichkeiten. Gleichwohl weist sie dem Machismo eine hegemoniale Position innerhalb der Geschlechterordnung zu. Allerdings verwendet sie den Begriff nicht in seiner populären, mitunter pejorativen Verwendung (gegen die sich eben auch Ramírez verwehrt). Stattdessen betont sie die Ambivalenzen innerhalb der Konstruktion des lateinamerikanischen Machos:

A medida que avanzaba en mis investigaciones encontré que muchos rasgos atribuidos al macho eran parte integrante de la noción de masculinidad hegemónica pero convivían con otros que los contradecían. Así por ejemplo, la potencia sexual y la capacidad de seducir mujeres es una cualidad que en ciertos momentos o espacios puede ser festejada, en otras puede ser considerada como un rasgo de falta de hombría. […] Parecería, pues que no se trata de que el llamado Machismo no exista sino que la difusión de esta imagen ha distorsionado nuestra comprensión de las masculinidades en América Latina porque ha enfocado solo ciertos aspectos, los más llamativos, de ellas ignorando que éstas incluyen muchas facetas.218

 

Sie differenziert in ihren Untersuchungen zu Männlichkeiten zwischen verschiedenen Lebensphasen und damit verbundenen unterschiedlichen Konzepten hegemonialer Männlichkeit. Grundlegend für Normas Forschung ist, wie schon bei Connell beschrieben, die heteronormative Abhängigkeit von (einer nicht näher spezifizierten) Weiblichkeit und damit verbunden die genderspezifisch dichotomische Unterscheidung zwischen häuslichem, also privatem, und öffentlichem Bereich. Der häusliche stehe unter der Verwaltung der Frauen (Mütter oder Ehefrauen!), der öffentliche unter der der Männer. Letztgenannter teile sich wiederum in zwei Sphären auf, die jedoch beide homosozial organisiert seien: zum einen den Bereich der Arbeit und zum anderen den Bereich der männlichen Peergroups. Die drei Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, für die Fuller jeweils bestimmte Kriterien hegemonialer Männlichkeit herausarbeitet, sind jede für sich an bestimmte Räumlichkeiten gebunden. Während das männliche Kind auf den häuslichen Raum beschränkt und dort der mütterlichen Macht untergeordnet sei, habe der Jugendliche seine Virilität im öffentlichen Raum zu beweisen. Entscheidend sei dort das Urteil seiner homosozialen Peergroup. Ein wichtiger Teil des jugendlichen Virilitätskodex‘ sei das Brechen mit häuslichen Regeln, d.h. die Ablösung vom weiblich dominierten Raum des Hauses, von der Mutter und grundsätzlich von allem Weiblichen.219 In einem nächsten Entwicklungsschritt, dem Erwachsenwerden, gelte es, beide räumlichen Sphären zu vereinen und die jugendliche Virilität (virilidad) in ein Mannsein (hombría) zu überführen. So impliziert die von Fuller herausgearbeitete hegemoniale Männlichkeit die Gründung einer Familie, d.h. das Schaffen eines eigenen häuslichen Bereichs, dem der Mann vorstehen kann, und gleichzeitig bestehe sie darin, dass er seine außerhäusliche Reputation nicht vernachlässige. Das wiederum bedeute, sowohl den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen als auch innerhalb der Peergroup zu reüssieren:220

[L]a vida conyugal les proporciona una vida sexual plena y la oportunidad de demostrar a sus pares que son sexualmente activos. Al tener un hijo de una relación públicamente reconocida, el joven se convierte en padre y jefe de familia: el eje de un nuevo núcleo social. Se inaugura así un nuevo período del ciclo vital y, sobre todo significa el punto en que el varón se consagra como tal al obtener los símbolos de la hombría: comprueba que es potente sexualmente, es jefe de una unidad familiar y responde por ella ante el mundo exterior. Es decir confirma su virilidad y se inserta definitivamente en los ejes doméstico y público.221

Dieses Anforderungsprofil sei jedoch, wie Fuller fortfährt, eng an eine heteronormative Zweigeschlechtlichkeit sowie die Institution der Ehe gebunden. Reproduktion, die außerhalb der Ehe stattfinde, sei seitens des Mannes gesellschaftlich geduldet, führe jedoch auf Seiten der ledigen Mutter und der entstandenen Kinder zu sozialer und ökonomischer Marginalisierung, da das oben beschriebene heteronormative ‚Ernährer-Gebärerinnen-Modell‘ mit den entsprechenden genderspezifischen machträumlichen Zuschreibungen dort nicht greife. Grundlegend dafür sei die ‚Möglichkeit‘ der Väter, die Vaterschaft zu verweigern bzw. nicht anzuerkennen, während die Mütter bei ihren Kindern blieben.222 Dieses sozioökonomische Phänomen sei laut Fuller ein Klassenproblem, da die beschriebenen Väter oftmals der Mittel- oder Oberschicht, die entsprechenden Mütter niedrigeren Klassen zuzuordnen seien.223

Die hegemoniale Männlichkeit, die Fuller in ihren Ausführungen beschreibt, ist damit zum einen an institutionalisierte Heteronormativität gekoppelt und bedingt andererseits ein räumlich stark segregiertes Geschlechterverhältnis. Durch die räumliche Zweiteilung werde auch, wie Potthast formuliert, Konkurrenz unter den Ehepartnern vermieden:

Die Mütter bestimmen in Lateinamerika nicht nur über die Küche und das Haus [sic] sondern auch über die Erziehung der Kinder. […] Die Frauen erhalten somit eine starke Stellung innerhalb bestimmter Räume, und zwar in Familie und Haus. Dies bedeutet, dass keine Konkurrenz zu den männlichen Machtansprüchen entsteht. Die Geschlechterrollen und -sphären sind derart deutlich voneinander abgegrenzt, dass sie einander kaum tangieren, zumal der weibliche Bereich als privat deklariert wurde und eine eventuelle Einschränkung männlicher Dominanz hier für die Männer nicht ehrenrüchig ist.224

Doch was, wenn diese genderspezifische Dichotomie nicht eingehalten wird? Oder was bedeutet es für das geschlechterspezifische Machtgeflecht, wenn Frauen zwar als mütterlich dargestellt werden, tatsächlich jedoch kinderlos, sprich keine Mütter sind? Beide Fälle bilden in Onettis Texten mehr die Regel denn die Ausnahme. Dementsprechend soll im fünften Kapitel dieser Arbeit auch der Frage nachgegangen werden, welche Macht- und Raumzuschreibungen mit kinderlosen Frauen verbunden sind – insofern durch die Kinderlosigkeit ja das christlich heteronormative Raum-Geschlechter-Verhältnis unterlaufen wird. Ebenfalls zu untersuchen sein werden die Männerfiguren, mit denen es sich ähnlich verhält: Denn auch sie werden bei Onetti überwiegend als kinderlos dargestellt – oder als solche, die kompensatorische Formen der biologischen Vaterschaft praktizieren, wie im vierten Kapitel noch ausführlich zu erläutern sein wird. Daraus wiederum lässt sich die Vermutung ableiten, dass ein Großteil der männlichen Figuren bei Onetti zwar Komplizen der hegemonialen Männlichkeit, wie sie Fuller expliziert, sind, zu dieser jedoch im Verhältnis als Marginalisierte oder Untergeordnete stehen. Eine Untersuchung, die sich diesen untergeordnetten Männlichkeiten im soziokulturellen Kontext des La-Plata-Raums und insbesondere in dem von Onetti vornehmlich dargestellten Milieu der Nachtclubs und Cabarets widmet, stammt von Eduardo P. Archetti und soll im Folgenden vorgestellt werden.225 Ein detaillierter Abgleich dieser Männlichkeiten mit jenen in Onettis Texten erfolgt in Kapitel 4.3.

Im Unterschied zu Stevens‘ anthropologischer und Ramírez‘ ethnographischer Herangehensweise basieren Archettis Untersuchungen auf der narrativen Analyse klassischer Tango-Texte: „The analysis of tango lyrics is rooted in the classical period of the tango-canción (tango-song) from 1917 to 1935. Most significant tango narratives were produced in that period […].”226 Archetti setzt eine stereotypisierte, heterosexuelle Männlichkeit, die vor allem auf einer Unterordnung der Frau basiert, als hegemonial für den rioplatensischen Kontext. In Abgrenzung (Unterordnung oder Subversion) dazu, arbeitet er mehrere plurale Männlichkeiten innerhalb des Tango-Diskurses heraus:

The comparative masculinities depicted in the universes of tango […] appear as fluid, ambiguous, on occasion contradictory, perhaps subversive of a dominant and hegemonic heterosexual Argentine masculinity based on the institutionalization of men’s dominance over women. The active men in the ritual arenas of […] tango are dispossessed of social power and wealth, and, therefore, less concerned with the reproduction of the image of a dominating middle-class ‚pure‘ heterosexual male.227

Wenngleich Archetti in seinen Ausführungen den Terminus Machismo vermeidet, ist anzunehmen, dass er auf eben dieses Phänomen anspielt, wenn er in obigem Zitat die Schlüsselbegriffe ‚heterosexuell‘, ‚Ehe‘ (die er als institutionalisierte Herrschaft der Männer über die Frauen paraphrasiert) und ‚dominant‘ aufruft. Außerdem stellt er die verschiedenen Männlichkeiten in einen Klassenkontext, indem er auf die Aspekte von sozialem und ökonomischem Kapital (social power and wealth) eingeht. Ein weiterer Punkt, den obiges Zitat addressiert, ist die Fluidität der untersuchten Männlichkeiten. Sie stehen damit in einem mitunter gegensätzlichen, ambivalenten und konkurrierenden Verhältnis zueinander, da es laut Archetti mitnichten das eine gültige Tango-Narrativ gibt, sondern auch hier wieder von einer Pluralität, diesmal innerhalb der verschiedenen Texte ausgegangen werden muss.