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Heidis Lehr- und Wanderjahre

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»Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?«, fragte Sebastian jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im Schrank zurechtlegte.

»Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?«

»So, gerade so«, und er machte den großen Fensterflügel auf.

Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können; es langte nur bis zum Gesims hinauf.

»Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was unten ist«, sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf wieder zurück.

»Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts«, sagte das Kind bedauerlich; »aber wenn man um das ganze Haus herumgeht, was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?«

»Gerade dasselbe«, gab dieser zur Antwort.

»Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen kann über das ganze Tal hinab?«

»Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm, so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg.«

Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den Turm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: »Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?«

»Weiß nicht«, war die Antwort.

»Wen kann ich denn fragen, wo er sei?«, fragte Heidi weiter.

»Weiß nicht.«

»Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?«

»Freilich weiß ich eine.«

»So komm und zeige mir sie.«

»Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst.« Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge! »Da«, sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, »willst du das?«

Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.

»Was willst du denn?«, fragte Heidi und steckte vergnügt sein Bildchen wieder ein.

»Geld.«

»Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?«

»Zwanzig Pfennige.«

»So komm jetzt.«

Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.

Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der Junge stand still und sagte: »Da.«

»Aber wie komm ich da hinein?«, fragte Heidi, als es die fest verschlossenen Türen sah.

»Weiß nicht«, war wieder die Antwort.

»Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?«

»Weiß nicht.«

Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran.

»Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen.«

»Was gibst du mir dann?«

»Was muss ich dir dann wieder geben?«

»Wieder zwanzig Pfennige.«

Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an: »Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der Klingel steht: ›Für solche, die den Turm besteigen wollen‹?«

Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort. Heidi antwortete: »Eben auf den Turm wollt ich.«

»Was hast du droben zu tun?«, fragte der Türmer; »hat dich jemand geschickt?«

»Nein«, entgegnete Heidi, »ich möchte nur hinaufgehen, dass ich hinuntersehen kann.«

»Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!« Damit kehrte sich der Türmer um und wollte die Tür zumachen.

Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: »Nur ein einziges Mal!«

Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: »Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!«

Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder und zeigte, dass er nicht mitwollte.

Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.

»Da, jetzt guck hinunter«, sagte er.

Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder; es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: »Es ist gar nicht, wie ich gemeint habe.«

»Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!«

Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und sagte: »Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die Jungen ansehen.«

Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.

»Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!«, rief es ein Mal ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.

»Willst du eins haben?«, fragte der Türmer, der Heidis Freudensprüngen vergnügt zuschaute.

»Selbst für mich? Für immer?«, fragte Heidi gespannt und konnte das große Glück fast nicht glauben.

»Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast«, sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein Leid antun musste.

Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!

»Aber wie kann ich sie mitnehmen?«, fragte nun Heidi und wollte schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr erschrocken zurückfuhr.

»Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin«, sagte der Türmer, der die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm gelebt.

»Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul«, erklärte Heidi.

Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.

»Ich weiß schon«, bemerkte er; »aber wem muss ich die Dinger bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn Sesemann?«

»Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die Kätzchen kommen!«

Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.

»Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?«

»So wart ein wenig«, sagte der Türmer, trug dann die alte Katze behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: »So, nun nimm zwei!«

Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins in die linke Tasche. Nun ging‘s die Treppe hinunter.

Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: »Welchen Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?«

»Weiß nicht«, war die Antwort.

Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den Kopf, es war ihm alles unbekannt.

 

»Siehst du«, fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, »aus einem Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht so« — Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die Luft hinaus.

Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben, seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er drängend: »Schnell! Schnell!«

Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

»Schnell, Mamsellchen«, drängte Sebastian weiter, »gleich ins Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine Mamsell an, so fortzulaufen?«

Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem ganz feierlich-ernsten Ton: »Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen, wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung.«

»Miau«, tönte es wie als Antwort zurück.

Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. »Wie, Adelheid«, rief sie in immer höheren Tönen, »du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag ich dir!«

»Ich mache« , fing Heidi an — »Miau! Miau!«

Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.

»Es ist genug«, wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. »Steh auf und verlass das Zimmer.«

Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch einmal erklären: »Ich mache gewiss« — »Miau! Miau! Miau!«

»Aber Heidi«, sagte jetzt Klara, »wenn du doch siehst, dass du Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder ›miau‹?«

»Ich mache nicht, die Kätzlein machen«, konnte Heidi endlich ungestört hervorbringen.

»Wie? Was? Katzen? junge Katzen?«, schrie Fräulein Rottenmeier auf. »Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft sie fort!« Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung. Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen, eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen. Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren. Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.

»Sebastian«, sagte Klara zu dem Eintretenden, »Sie müssen uns helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie hintun?«

»Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara«, entgegnete Sebastian bereitwillig; »ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter kommt, verlassen Sie sich auf mich.« Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: »Das wird noch was absetzen!«, und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf und rief durch das Spältchen heraus: »Sind die abscheulichen Tiere fortgeschafft?«

»Jawohl! Jawohl!«, gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand damit.

Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.

Im Hause Sesemann geht‘s unruhig zu

Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: »So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen sein.« Er riss die Tür auf — ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.

»Was soll das heißen?«, fuhr ihn Sebastian an. »Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?«

»Ich muss zur Klara«, war die Antwort.

»Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen ›Fräulein Klara‹, wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein Klara zu tun?«, fragte Sebastian barsch.

»Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig«, erklärte der Junge.

»Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, dass ein Fräulein Klara hier ist?«

»Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.«

»Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!«

Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: »Ich habe sie doch gesehen auf der Straße, ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir.«

»Oho« , dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, »das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt.« Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: »‘s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern.«

Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

»Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu bestellen hat«, berichtete Sebastian.

Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.

»Er soll nur gleich hereinkommen«, sagte sie, »nicht wahr, Herr Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss.«

Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. — Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch — wahrhaftig — sie stürzte durch das lange Esszimmer und riss die Tür auf. Da — unglaublich — da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Kandidat schien immerfort etwas sagen zu wollen, aber es wurde nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.

»Aufhören! Sofort aufhören!«, rief Fräulein Rottenmeier ins Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu — aber auf einmal hatte sie etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Tier kroch ihr zwischen den Füßen durch — eine Schildkröte. Jetzt tat Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen getan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften: »Sebastian! Sebastian!«

Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn diesmal hatte die Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb offenen Tür und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.

»Fort mit allem, Mensch und Tier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!«, rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfasst hatte, drückte ihm draußen etwas in die Hand und sagte: »Vierzig für Fräulein Klara, und vierzig fürs Spielen, das hast du gut gemacht«; damit schloss er hinter ihm die Haustür. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, dass er daran denken würde.

Schon wieder klopfte es an die Tür, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden, der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.

»An mich?«, fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das sein möchte; »zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht.«

Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder.

»Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt«, bemerkte Fräulein Rottenmeier.

Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb.

»Herr Kandidat«, sagte sie, sich selbst in ihrem Deklinieren unterbrechend, »könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drin ist, und dann gleich wieder fortfahren?«

»In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer anderen dawider sein«, entgegnete der Herr Kandidat; » dafür spräche der Grund, dass, wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist —«; die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen darunter hervor und ins Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, dass es war, als wäre das ganze Zimmer voll solcher Tierchen. Sie sprangen über die Stiefel des Herrn Kandidaten, bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klaras Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzücken: »Oh, die niedlichen Tierchen! Die lustigen Sprünge! Sieh! Sieh! Heidi, hier, dort, sieh dieses!« Heidi schoss ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Kandidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien: »Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!«, denn vom Sessel aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da konnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.

Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hilferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er für die zwei von gestern bereitet hatte.

Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette ins Studierzimmer herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, dass Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die sämtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, dass Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klaras Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.

 

»Adelheid«, begann sie mit strengem Ton, »ich weiß nur eine Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, dass du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lässt.«

Heidi hörte still und verwundert sein Urteil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmutiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen.

Aber Klara erhob einen lauten Jammer: »Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muss warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm alles erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll.«

Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier nichts einwenden, umso weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte etwas grimmig: »Gut, Klara, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen.« Damit verließ sie das Zimmer.

Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidis Persönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause Sesemann alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr, denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen; die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Kandidat mitten im Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: »Es ist eine Geiß!«, oder: »Es ist ein Raubvogel!« Denn die Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den späteren Nachmittagsstunden saß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, dass es immer zum Schluss versicherte: »Nun muss ich gewiss wieder heim! Morgen muss ich gewiss gehen!« Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, dass es doch sicher dableiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man schon sehen, wie es weitergehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche Aussicht dazu, die es im Stillen hatte, dass mit jedem Tage, den es noch dablieb, sein Häuflein Brötchen für die Großmutter wieder um zwei größer würde, denn mittags und abends lag immer ein schönes Weißbrötchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es hätte das Brötchen nie essen können beim Gedanken, dass die Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brot fast nicht mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn dass es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der Alm getan, das hatte es nun begriffen und tat es nie mehr. Mit Sebastian drüben im Esszimmer ein Gespräch führen durfte es auch nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette eine Unterhaltung zu probieren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi verstand ihre Art ganz gut, und dass sie es nur immer ausspottete. So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im Sonnenschein glitzerten und wie alles leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze weite Tal, und Heidi konnte es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, dass Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Brötchen in das große rote Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber schon unter der Haustür traf es auf ein großes Reisehindernis, auf Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem gefüllten roten Halstuch haften. Jetzt brach sie los.

»Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probierst du‘s doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine Landstreicherin.«

»Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen«, entgegnete Heidi erschrocken.

»Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?« Fräulein Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. »Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? Sag!«

»Nein« , entgegnete Heidi.

»Das weiß ich wohl!«, fuhr die Dame eifrig fort. »Nichts fehlt dir, gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!«

Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach hervor: »Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist.«

»Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!«, rief Fräulein Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte. »Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!«, rief sie ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.

»Ja, ja, schon recht, danke schön«, gab Sebastian zurück und rieb sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.

Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.

»Na, schon wieder was angestellt?«, fragte Sebastian lustig; als er aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: »Pah! Pah! Das muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na? Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat‘s befohlen.«

Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: »Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen, hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?«