Sandra

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Sie erwiderte gereizt lachend, dass er das bitte selber mit ihrem Mann ausrichte, er wisse ja, wo der liege.

Als dann der Lindenwirt zu klagen begann, dass sich die „Leute“ bei ihm besaufen und dann nicht bezahlen wollen, schrie sie ihm ins Gesicht:

„Und du weisst ganz genau wie das geschieht, du lässt sie saufen, ermunterst sie sogar noch mit dem Spruch, dass er anschreiben könne, und dabei weisst du ganz genau, dass sie dann mehr saufen als sie bezahlen können, du verdammter Halunke. Aber der da oben wird dir dann einmal einen Prügel zwischen die Beine knallen. Und jetzt geh da in die Kirche rein, du hast es am nötigsten von uns allen.“

Dann zog sie mich mit sich und wir traten den Heimweg an.

Ich hatte den Vorgang nicht ganz verstanden, aber mir war eines klar geworden, dass meine Mutter eine starke und mutige Frau war und ich war mächtig stolz auf sie.

Dass an jenem Sonntag kein Mensch die Kneipe des Lindenwirts betreten hatte, auch die notorischen Jasser nicht und dass in der folgenden Nacht die „Nachtbuben“, das heisst ein paar junge Leute des Dorfes alle Fenster der Kneipe eingeworfen hatten, vernahm ich erst später von einem, der dabei gewesen war und dabei, als einziger übrigens, ein Schrotkorn in den Oberarm erwischt hatte, weil der Wirt auf die jungen Leute geschossen hatte.

Der „Rössliwirt“ hatte ihr übrigens per Einschreibebrief mitgeteilt, dass er keinerlei Forderungen an sie stellen werde, selbst wenn ihr Mann bei ihm Schulden gehabt hätte, würde er nie der Witwe eines lieben verstorbenen Freundes dafür eine Rechnung stellen, hochachtungsvoll unterzeichnet …

Als sie den Brief gelesen hatte lächelte sie vor sich hin und sagte die geheimnisvollen Worte „Schau, schau.“

Als ich Ida das nächste Mal sah, hatte sie eine speziell grosse Butterstulle auf ihren Knien und man sah, dass auch mit Honig nicht gespart worden war. Agnes, die Magd hatte sogar noch eine Semmel beigelegt „zum Mitnehmen“

Ida hatte auch noch eine Zeitung bei sich und bat mich ihr daraus vorzulesen, aber mit vollem Mund redet man nicht und zudem hatte ich alle Mühe mit dem herabtropfenden Honig fertig zu werden.

Und nach dem Honigbrot hatte ich einfach keine Lust mehr zu lesen (soll sie es doch selber lernen).

Meine Mutter war nun fast jeden Tag weg, aber sie schloss mich nicht mehr im Haus ein, sie liess die Türe geöffnet und ich konnte ein und ausgehen wie ich wollte, aber sie hatte mir auch jeden Tag eine kleine Arbeit übertragen. Ich machte den Abwasch, wischte die Wohnung, durfte hinter dem Haus die Teppiche klopfen und sogar die Treppe fegen, eine wichtige Arbeit, denn „die saubere Treppe ist die Visitenkarte des Hauses“.

Auch in Idas Haus ging ich bald ein und aus wie ein Familienmitglied und wenn Ida eine Arbeit zugewiesen bekam, durfte ich ihr dabei helfen. Schliesslich fragte mich Idas Vater, ob ich mithelfen wolle auf dem Bauernhof. Da ging mir ein Traum in Erfüllung. Ich durfte arbeiten, ich konnte mich nützlich machen.

In den folgenden Jahren lernte ich Kartoffeln sortieren, Obst auflesen, den Kühen Futter in die Krippe geben, Hühnereier waschen für den Verkauf, sogar beim Ausmisten durfte ich mithelfen sobald ich stark genug war. Ich arbeitete viele Jahre an der Seite von Ida oder einem ihrer Brüder und durfte jeden Abend mit der Familie am Abendessen teilnehmen.

Ich hatte ein zweites Zuhause gefunden, eine neue Familie und Ida war mir eine Schwester geworden, mit der ich alle Freuden und Leiden teilen konnte.

In der Schule war ich immer der Klassenbeste und wenn ich dem Otto das Zeugnis zum Unterschreiben brachte, gab er mir jedes Mal einen prächtigen, nagelneuen Fünfliber als Belohnung.

Aber die Schule war auch mein grosses Leiden, weil ich mich irgendwie nicht integrieren konnte. Ich war immer ein Aussenseiter, ich war der Prügelknabe, mir wurden immer die übelsten Streiche gespielt, bei jeder Untat war ich der erste Verdächtige, wenn irgendwo einer im Zimmer laut furzte schlug der Lehrer mich, sei es weil er den Schuldigen nicht finden konnte, sei es der Schuldige war der Sohn eines reichen Bauern. Obschon ich der beste Schüler war mochte der Lehrer mich nicht leiden und er war immer sehr ungerecht mit mir und nie, gar nie kam ein Wort des Lobes oder der Anerkennung für meine Leistungen über seine Lippen.

Gut, meine Mutter hatte deswegen einen Dauerkrach mit ihm, denn wenn sie Ungerechtigkeiten oder Unrecht witterte wurde sie unangenehm. Obschon ich mich hütete mich über den Lehrer zu beklagen, sie vernahm alles irgendwie von irgendwoher und dann war sie nicht mehr zu bremsen. Nicht nur wenn ihrem „Söhnchen“ Unrecht geschah griff sie ein, sondern auch bei anderen Kindern.

Und immer mit der gleichen Methode in aller Öffentlichkeit.

Ihre Wertschätzung im Dorf beruhte vor allem auf der Angst einmal ihr in die Quere zu kommen. Sie fürchtete niemanden und kein Titel oder Reichtum machte ihr Eindruck.

Sie war im Dorf akzeptiert obschon sie eine „Fremde“ war, ihre Eltern stammten aus dem Wallis und dort lebt ein furchtloses und eigenwilliges Völklein, das sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt.

Meine Oma sagte mir einmal, dass sie, die Oberwalliser, mit dem Herrgott auf du und du ständen und nur ihn als „Herrn“ anerkennen würden.

Meine innige Beziehung zu Ida war auch ein Grund, der mir viele Prügel und Spöttereien einbrachten, vor allem von zwei Mitschülern, die ihr immer den Hof zu machen versuchten, der „Sonnenhöfler“ und ein Sohn des Bauern vom Eichhof, den wir „Eicheliunder“ (das ist eine Spielkarte im Jass) nannten.

Letzteren hätte sie übrigens später beinahe geheiratet.

Während meiner Schulzeit sorgte ich immer wieder, unbeabsichtigt, für Skandal und Aufregung in unserer bigotten Gesellschaft.

Einmal ging ich mit Ida, nach einem strengen Tag während der Heuernte, auf dem Nachhauseweg in einem Baggersee baden. Wie wir es uns gewohnt waren, zogen wir uns aus und sprangen nackt ins Wasser. Dabei muss uns jemand beobachtet haben, denn am nächsten Tag war schon das ganze Dorf unterrichtet über unser schändliches Tun. Der erste, der uns zur Rede stellte, war der Lehrer. Er wollte genau Bescheid wissen, was wir genau getan hätten. Nun, wir erzählten ihm, dass wir gebadet hätten. Aber er wollte noch mehr wissen.

Aber da war nicht „mehr“ und das Nacktbaden hatte uns nicht gestört, denn wie oft hatte uns Idas Mutter zusammen in die Badewanne gesteckt, wenn wir dreckig waren wie Schweinchen.

Weil er mit uns zwei verstockten Verbrechern nicht weiter kam, verbot er uns unter Androhungen der fürchterlichsten Strafen, je wieder miteinander nackt zu baden.

Wir waren damals sieben Jahre alt.

Als ich, in allem Ernst dem Lehrer sagte, dass man mit den Schuhen an den Füssen gar nicht schwimmen könne, fasste ich eine saftige Ohrfeige mit dem Hinweis, ich hätte ihn ganz gut verstanden.

Ich hatte die Welt nicht verstanden, aber ich hatte schon vorher begriffen, dass man Schläge kriegt, wenn dem Lehrer die Argumente ausgehen.

Zum Abschied hörte ich dann auch noch den altbekannten Refrain: „Wart nur Bürschchen, du landest demnächst im Erziehungsheim.“ Ich kannte den Spruch und machte mir nichts daraus.

In der Folge achteten wir darauf, dass uns niemand beim Baden beobachtete weil wir unsichtbare Badekleider trugen.

Dass ich von den Mitschülern verspottet und verlacht wurde machte mir nichts aus, ich war mich daran gewöhnt, aber wenn sich der Spott gegen Ida richtete, dann schwor ich Rache.

Ich hatte damals viele Racheschwüre aufs Eis legen müssen, denn meine Muskeln beeindruckten niemand, ich war neben den vierschrötigen Bauernjungen ein „spatzenbeiniger Brezelbub“, den niemand ernst nahm.

Aber ich begann damals mit gemeinen und hinterhältigen Racheakten, die mir niemand nachweisen konnte und ich wurde darin mit der Zeit sehr geschickt. Ich konnte Zwietracht säen, Ärger bereiten, Leute blossstellen, sogar den Lehrer ohne dass man merkte, wer der eigentliche Urheber des Übels gewesen war.

Es war das einzige Stratagem, das mir half alle Demütigung und alle Verfolgung der anderen zu ertragen, ich konnte mich wehren, auf meine Art.

In der sechsten Klasse fand ein Schulpfleger, dass ein so helles Köpfchen wie ich es sei, eigentlich ans Gymnasium gehöre, aber da wehrten sich der Lehrer und mein Onkel/Vormund dagegen.

Der Lehrer fand, dass ich wegen meines Herkommens keine Chance hätte an einer höheren Schule und mein Onkel fand es eine ausgemachte Sache, dass ich eine Schreinerlehre mache um seinen Betrieb zu führen, der ja auch der Meinige sei, denn da er kinderlos war, würde ich dann sein Geschäft erben.

Meine Zukunft war gesichert und das zählt schliesslich allein.

In der Sekundarschule wurde ich von Ida getrennt, denn sie hatte die Aufnahmeprüfung nicht bestanden und musste deshalb noch ein Zwischenjahr an der Oberschule absitzen.

Mein Onkel, ich nannte ihn scherzweise „Otto der Starke“, hatte mir befohlen an der Schule den Religionsunterricht zu besuchen, damit ich konfirmiert werden könne und alle meine Ausflüchte und Weigerungen waren wirkungslos. Das gehöre sich nun einmal und es sei schon schlimm genug gewesen, dass mein Vater kein kirchliches Begräbnis bekommen habe und meine Mutter sei auch noch nie in der Kirche gesehen worden, womöglich sei sie sogar eine versteckte Katholikin und so weiter.

Den Hauptgrund, dass er nämlich in den Kirchenrat gewählt werden wollte, erwähnte er freilich nie.

Ich fand es beschissen aber ich gehorchte. Die Geschichte kannte ich schon ein wenig, denn ich hatte mit etwa acht Jahren die Bibel zum zweiten Mal gelesen, aus Mangel an anderer Literatur und war vor allem beeindruckt von der altmodischen aber feierlichen Sprache Zwinglis.

 

Otto der Starke hätte den Religionslehrern und den Pfarrherren viel Ärger erspart, wenn er nicht darauf bestanden hätte, dass ich bei ihnen ein guter Christ und edler Mensch werde.

Der Herrgott der Juden imponierte mir, das war ein ganzer Kerl mit dem man sich raufen und herumbalgen konnte, aber das ganze Christentheater war mir zuwider. Angefangen von Weihnachten, dem Umsatzhoch des Kleinhandels und dem Fest der kitschigen Lieder, dann dieser arbeitsscheue Typ, dieser Wundermann und billige Jakob der da predigend im Land herumzog und schliesslich war da sein schmählicher Tod mit dem er alle unsere Sünden auf sich genommen habe, bis zu seiner Auferstehung die uns falsche Hoffnung machen soll. Wenn sich dann der Herr Pfarrer ereiferte musste ich oft lächeln, wenn ich mir jetzt meinen Vater vorstellte wie er da oben auf einer Wolke hockt mit einer Flasche Bier um den Hals zu entstauben …

Ich war kein beliebter Gast im Religionsunterricht aber ich ging ziemlich regelmässig hin um den frommen Mann zu ärgern. Das machte mir Spass, denn er verkörperte für mich die heuchlerische Gesellschaft der Braven und der hinterhältigen Schleimscheisser mit ihrer kranken Morallehre und hier hatte ich endlich eine Arena in der ich mich wehren konnte, auch ohne starke Arme und harte Fäuste. Ich war gemein und brutal bei meiner Abrechnung.

Im Konfirmandenunterricht, den auch Ida besuchte, war schon die Rede, dass man mich nicht konfirmieren werde, vor allem, weil ich mich weigerte, öffentlich ein Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich glaubte weder an diese Kirche noch an die Auferstehung und die Kirche hätte mich so nicht in ihrem Schoss aufnehmen dürfen, aber sie war grosszügig und fand ein Hintertürchen. Statt einzeln das Glaubensbekenntnis abzulegen, wurde es vom Pfarrer vorgelesen und wir mussten im Chor „Ja“ sagen, ein einzelnes „Nein“ würde niemand hören. Das war mir eigentlich alles egal, wichtig war ja lediglich, dass Onkel Otto in den Kirchenrat gewählt wurde. Und siehe da, also geschah es auch.

Das einzig Schöne am Konfirmandenunterricht war, dass Ida auch dabei war und wir nach der Stunde, gemeinsam nach Hause gingen. Es machte mir Freude neben Ida, diesem hübschen Mädchen zu gehen, die so etwas wie meine Schwester gewesen war und nun plötzlich ein fremdes, geheimnisvolles Wesen geworden war. Wenn sich beim Nebeneinandergehen unsere Hände zufällig berührten, stieg eine angenehme Wärme in mir auf und führte dazu, dass sich die Zufälle mehrten und schliesslich kam der Abend, an dem sie meine Hand fasste und nicht mehr los liess bis wir vor ihrem Haus standen.

Ich war im siebten Himmel, ich war von Glück und einer seltsamen Freude durchdrungen, die mir neu war.

Umso schlimmer war dann für mich die Enttäuschung und der Absturz in die Höllengründe meiner Seele, als sie am nächsten Unterrichtsabend unter den Regenschirm des „Eicheliunder“ schlüpfte, ihn lachend am Arm nahm und sich von ihm nach Hause begleiten liess.

Nun es mochte ja nichts Ernsthaftes sein zwischen den Beiden, sie besuchten die gleiche Schule, gleiche Klasse und dass es ausgerechnet an diesem Abend regnen musste und ich keinen Schirm bei mir hatte, konnte ich von ihr nicht verlangen, dass sie an meiner Seite im strömenden Regen sich durchnässen liess.

Ich spazierte langsam nach Hause voller trüber Gedanken, die ich nicht einordnen konnte.. Ich fühlte mich krank und elend, mit wachsendem Selbstbedauern als ich spürte wie das Wasser durch mein Hemd drang und an meinem Körper herunterrieselte.

Dass ich die beiden beobachten musste, etwa drei Tage später, wie sie auf ihren Velos von der Schule kamen, eifrig diskutierend und lachend, das erfüllte mich mit Wut und Trauer. Ich glaubte, noch Stunden später ihr fröhliches und glückliches Lachen zu hören.

Schon in den ersten Tagen in der Sekundarschule fiel mir ein Schüler auf, der mir wohl den Platz als Klassenbester streitig machen würde. Er war ein ruhiger, keineswegs arroganter Typ, der sich bewusst zu sein schien, dass er nichts dafür konnte, dass er so gescheit war. Bei mir hatte sich in der letzten Zeit eine Tendenz bemerkbar gemacht, vor allem gegen das Ende der Primarschulzeit, dem Lehrer zu beweisen, dass er nicht allwissend war. Wehe er machte einen Fehler auf der Wandtafel oder einen Versprecher. Dann wurde er gleich von mir korrigiert und zwar auf eine Art, die ihn ins Lächerliche zog. Und die Mitschüler, eine Bande von Halbwilden und Holzköpfen spielte mit, indem alle lauthals zu lachen begannen und so den Lehrer richtig zur Sau machten. Ich genoss diese Augenblicke der Rache. Rache, wofür denn eigentlich?

Dass er mich nicht ans Gymnasium lassen wollte? Eigentlich störte mich das wenig. Dass er mich die ganze Schulzeit ungerecht, oft sadistisch und bösartig behandelt hatte? Ich weiss es nicht.

Mindestens drei Mal brachte ich den alten Mann zum Heulen, man sah die Tränen glänzen unter seiner grossen Brille, seine Stimme wurde leiser, rauer und schliesslich begann er zu husten und sich zu räuspern.

Meist verliess er an dieser Stelle das Zimmer fluchtartig unter dem Gebrüll der Wilden oder er haute mir eine runter, dass es klatschte. Auch diese Entgleisung war ein Triumph für mich und ich sonnte mich in der Woge der Bewunderung der Mitschüler.

Aber mir war nicht wohl dabei. Innerlich heulte ich vor Verzweiflung und ich schämte mich in Wirklichkeit in Grund und Boden. Was war ich denn für ein elender Mistkerl wie ich mit dem alten Mann (er war 65) umging.

Aber sobald er mir wieder Gelegenheit bot, machte ich ihn aufs Neue fertig. Er möge mir verzeihen, aber ihn damals um Verzeihung zu bitten wäre mir niemals eingefallen.

Damit ich ein bisschen unter die Leute komme (statt immer nur zu lesen) empfahl mir mein Onkel einer Jugendorganisation beizutreten, zum Beispiel bei den Pfadfindern.

Ich fand das toll und fragte gleich bei der „Pfadi“ an. So probehalber durfte ich dann dort mitmachen und ich fand vieles sehr spannend, vor allem das echt Pfadfinderische. Ich gab mir grosse Mühe mich einzupassen aber irgendwie war mir das Militärische, das in jenen Nachkriegsjahren noch im Zentrum stand richtig zuwider, diese Hierarchien, die was weiss ich wie begründet waren, dieser Kasernenhofton und diese Art von Freundschaft, die da gepflegt wurde, passten mir nicht. Zudem merkte ich, dass auch hier ein Klassendenken, ein Klassenvorurteil herrschte, der mich meiner Herkunft wegen ausschloss. Ich war grossmütig geduldet aber man liess mich merken, dass ich eigentlich nicht zu ihnen gehörte.

Der Turnverein hatte kein grosses Interesse an mir, zum Glück, denn gewisse Turngeräte, wie zum Beispiel der „Bock“ und der „Barren“ bereiten mir heute noch Angst und Unbehagen.

Bei den Jungschützen war ich mit Vaters Armeekarabiner nicht unbedingt eine Medaillenhoffnung, da ich immer beim Abdrücken die Augen schliesse, das hängt bei mir irgendwie zusammen ist aber der Treffsicherheit im Wege.

Da war noch die „Junge Kirche“ bei der Ida mitmachte. Sie versuchte mich immer wieder für diesen Verein anzuwerben, aber da war mein Vorurteil stärker. Ich hasste schon im Konfirmandenunterricht diese endlosen und sinnlosen Diskussionen über irgend eine Bibelstelle und da war es mir unvorstellbar dieses zweifelhafte Vergnügen zu meiner Freizeitbeschäftigung zu machen.

Als ich einmal mit Paul, meinem neuen Freund über dieses Problem sprach, meinte er, dass er das Richtige für mich wüsste, nämlich die Gruppe der „roten Pioniere“.

Ich musste gestehen, dass ich von der Existenz dieser politischen Gruppe noch nie etwas gehört hatte, aber es interessierte mich.

Von Politik war zuhause eigentlich nie die Rede. Meine Mutter vertrat die Armen, die Unterprivilegierten und die einfachen Arbeiter und sie hasste und verachtete die reichen Bauern, die Fabrikherren und die Unternehmer vom Typ des Onkels. Aber da die Frauen damals in der Schweiz kein Mitspracherecht hatten interessierte sie sich nicht für den Politkram.

Onkel Otto war einer der Unternehmer, der sich nur für den Profit interessierte. Die Arbeiter hatten gute Arbeit zu leisten, das Maul zu halten und mit dem Lohn zufrieden zu sein. Wer anderer Meinung war, wurde gefeuert. Da er sehr schlechte Löhne bezahlte, hatte er auch entsprechend schlechte Arbeiter, das heisst, dass ausser dem Vorarbeiter niemand vom Fach war. Um die Rendite möglichst gross zu halten, waren seine Forderungen an die Kunden meist übertrieben hoch. Er nannte das stolz: „Meine liberale Haltung.“

Dass so eine Firma keine grosse Überlebenschance hat, war sogar mir klar, aber mein Onkel schwamm immer obenauf (mit seinem Leibesumfang erklärbar).

Er bekam vor allem die Aufträge der öffentlichen Hand, also von Kirche, Gemeinde und Schule, da er politisch am rechten Ort war, bei der „Bauern und Gewerbepartei“, die in der Gemeinde das Sagen hatte. Von „Liberalismus“ war da wohl kaum die Rede.

Er sass im Gemeinderat, im Kirchenrat und in der Schulpflege und hatte zudem überall auch noch seine Spezialfreunde, die er mit guten Worten, mit Geschenken und vor allem mit Erpressung auf seine Seite zu bringen wusste, wenn es nötig war.

Er war gewissermassen einer der ganz Grossen im Dorf neben den grossen Bauernfürsten. Er beeinflusste die politische Wetterlage im Dorf, die Lehrerwahl, das Armenwesen, die Beamtenlöhne, das Steueramt und kontrollierte auf seine Art die Gemeindekasse.

Seine Frau war sein Aushängeschild, eine stattliche (dicke) Frau, gut (teuer) gekleidet und immer mit irgendetwas Glitzerigem behängt (Perlenkette, goldener Armreif, goldene Ohrringe mit Diamanten, schwere, plumpe Fingerringe, die ihre dicken Wurstfinger so richtig zur Geltung brachten.

Ich nannte sie damals „Onkel Ottos glitzernder Weihnachtsbaum“, was sie mir sehr übel nahm, weil ich es im Dorf in Umlauf gebracht hatte und sie nun, hinter ihrem Rücken „Ottos Weihnachtsbaum“ genannt wurde. Sie machte auch sonst auf „Vornehm“. In ihrer Wohnung stapelte sie glitzernden Kitsch in rauen Mengen, als ob sie eine Elster wäre.

Ihrem Stand entsprechend begann sie sich auch einer gepflegten Redeweise zu befleissigen, gespickt mit Fremdwörtern die sie sehr fremdartig verwenden konnte. Zu ihrem Glück war sie so dumm und einfältig, dass sie nicht merkte, dass sich alle über sie lustig machten.

Wie man wohl merkt, war sie nicht meine Freundin, die Antipathie war gegenseitig.

Als der Onkel erfahren hatte, dass ich mit den „Roten“ verkehre, wohl gar schon einer der ihren sei, zitierte er mich in seine Wohnung wo ich eine Lektion in Staats – und Bürgerkunde erhielt, die sich gewaschen hatte.

Er begann gleich einmal mit Drohungen, sprach vom mich enterben (er hatte keine Kinder mit dem Christbaum), mich in den Knast zu bringen, mich aus der Gemeinde ausweisen zu lassen samt meiner Mutter, die mich zum roten Halunken gemacht habe. Dann kam eine detaillierte Aufzählung der Gräueltaten der Roten von Julius Cäsar, über Blum und Liebknecht (der seiner Meinung nach den deutschen Reichstag abgefackelt hatte) bis zu einem amtierenden sozialdemokratischen Bundesrat und Stalin. Alle dieselben Schweine und Mörder und Landesverräter.

Als ich ihn hier unterbrach und ihm empfahl einmal mit Hilfe eines Geschichtsbuches seine Irrtümer zu korrigieren, wollte er auf mich losgehen, besann sich aber einen Augenblick lang und schmetterte dann voller Wut eine Porzellanfigur zu Boden.

Als er dann die Tonart wechselte und mir einen salbungsvollen Vortrag hielt, was er und was die Welt und was mein verstorbener Vater von mir erwarteten, nämlich, dass ich mit ehrlicher Arbeit und guter, patriotischer Gesinnung ein angesehener Bürger des Ortes werde und einst diesen Betrieb wieder zum Florieren bringe …

… damit du dich weiterhin daran bereichern kannst … unterbrach ich ihn.

Nun wurde ich ein saufrecher Rotzbengel genannt, der keine Ehrfurcht und keinen Anstand besitze.

Dabei ging der zweite Porzellanzwerg in Scherben.

Jetzt wurde er plötzlich leise und meinte, ich sei offensichtlich von dieser roten Brut bereits verdorben und gegen ihn aufgehetzt worden, aber er werde dafür sorgen, dass dieses Übel mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde. In unserer Gemeinde sei kein Platz für dieses Gesindel, da werde er dafür sorgen. Da müsse endlich die Kantonspolizei her oder das Militär und mit eisernem Besen ausmisten, diesen Austernstall.

„Augiasstall“ korrigierte ich ihn und brachte ihn aus dem Konzept.

Eine Porzellangruppe flog an die Wand und brach in zwei Stücke, statt in tausend Scherben zu zerspringen. Er stutzte einen Moment und ich sagte ihm: „Steingut aus Langenthal und kein Porzellan aus Meissen, nicht schade drum.“

 

Jetzt war auch der starke Otto am Ende und er sagte in friedlichem Ton: „Ach du verdammter Klugscheisser hast doch immer das letzte Wort. Aber jetzt hol einen Besen und eine Schaufel und wisch diese Scherben weg. Das Scheisszeugs hält auch gar nichts aus. Aber schau, dass kein Splitter übrig bleibt, der Christbaum würde es uns sonst noch übelnehmen.“

Beim Wort Christbaum fielen wir beide in ein schallendes Gelächter und dann meinte er: „Komm, wir trinken noch ein kühles Bierchen zusammen.“

„Gerne, aber noch bevor die Weihnachtszeit anbricht“ …

Er verbot mir nun einfach und rundweg mit diesen Leuten Umgang zu haben und ich erklärte ihm ebenso bestimmt, dass ich mich nicht daran halten werde, möge er noch so viele Porzellanungeheuer zersch(Meissen). Ich wisse was ich tue und werde auch selber die Verantwortung dafür tragen, was auch immer draus werden möge.

Er schaute mich an, gab mir die Hand und sagte: „Das mag ich, das ist ein Wort eines Mannes, und nun das kühle Bier und die Friedenszigarre.“

Dabei kramte er aus seiner Zigarrenschachtel zwei dicke Havannas und zeigte mir, wie man die Dinger präpariert vor dem Anzünden, wie man den Prügel vorsichtig aber bestimmt in Brand steckt und wie man den Rauch in den Mund zieht und ihn geniesst wie eine gute Speise.

Wir hatten während der Schulzeit immer wieder im Versteckten geraucht um uns auf unser Männerdasein vorzubereiten aber dies war meine erste Zigarre kurz vor meinem Schulabschluss und sollte nicht die letzte sein, aber es war das einzige Mal, dass ich nach dem Hochgenuss kotzen musste wie ein Gerberhund und mit rasendem Puls nach Luft schnappte (im Geheimen natürlich)

Während der Sekundarschulzeit war mir Ida langsam und unmerklich entglitten. Sie war nicht in meiner Klasse und ich zog anderen Umgang vor. Das war vor allem Paul und später auch sein Vater Alfred mit seiner Riesenbibliothek mit Büchern über die Arbeiterbewegung, über die Weltkriege, vor allem über den ersten, denn der zweite war ja kaum recht vorbei und über den Spanienkrieg. Da waren Bücher und Schriften von Marx, Engels, Lenin, Rosa von Luxemburg, von Platten, und dann vieles über die russische Revolution und über Russland im Allgemeinen.

Unter der kundigen Hand von Alfred las ich mich in diese Literatur ein und nach jedem Buch diskutierte er mit mir darüber. Es war eine faszinierende Welt und Alfred war ein faszinierender Mann.

Wenn er erzählte, dann konnte man nur gebannt zuhören.

Er hatte im Spanienkrieg gekämpft, war vorher in der Sowjetunion ein Politkommissar in der Roten Armee, seine Frau, Pauls Mutter war Parteivorsitzende gewesen in einem Gebiet an der Wolga, bis sie in einer der brutalen Säuberungen unter Stalin ermordet wurde.

Jetzt war Alfred, ein gelernter Tischler, der Vorsitzende der Gewerkschaft Bau und Holz und kämpfte für die Rechte der Arbeiter und Arbeiterinnen im Baugewerbe.

Ich hatte bald einmal begriffen, dass ich da mitten im (roten) Wespennest der Schweizer Politik sass.

Meine Berufswahl, die gar keine Wahl war, wurde nie in Frage gestellt oder diskutiert, denn alle anderen waren sich einig, dass ich den Beruf meines verstorbenen Vaters ergreifen werde und einst seine ehemalige Schreinerei leiten werde bis mein Onkel das Ruder aus der Hand gab. Ich war mit alledem nicht einverstanden, ich wollte nicht Bauschreiner werden, ich wollte einen intellektuellen Beruf erlernen, ich wollte studieren ich wollte … aber ich hatte nichts zu wollen, denn die letzte Entscheidung lag bei meinem Vormund, Onkel Otto. Ich musste mich ins Schicksal ergeben, wenigsten solange, bis ich volljährig war, bis ich 20 Jahre alt war.

Dass Paul studieren werde war nie in Frage gestellt worden und ich gönnte es ihm auch, er war wirklich ein kluges Köpfchen, aber da waren andere Mitschüler, zum Teil echte Dummköpfe, die sich schon als Lehrer oder Ingenieur sahen. Dass ich denen einst ihre neue Küche in ihrer Villa einbauen sollte, den Fussboden legen in ihrem Tessiner Ferienhaus das machte mich nachdenklich. War die Welt so ungerecht?

Andererseits war mir klar, dass man auch in Zukunft gute Handwerker brauchen würde, tüchtige Kleinunternehmer, ideenreiche Tüftler und Erfinder. Zudem liebte ich den Umgang mit Holz.

Meine Mutter meinte, dass ich mit „meinem“ Betrieb doch schon eine solide Grundlage habe, aber das Geschäft gehörte meinem Onkel, einem angeberischen und äusserst verschwenderischen Typ, in den ich nun mal kein Vertrauen hatte. Oder sollte ich ihn jahrelang mästen und vor ihm kriechen, bis er mir den Betrieb überliess? Er würde nie abgeben, nicht bevor er unter dem Rasen lag und das konnte noch lange dauern.

Sollte ich dann auch noch für die Lametta seines Christbaums aufkommen?

Ich beschloss, eine Lehrstelle anzutreten und zwar eine, die ich mir selber ausgesucht hatte und würde mich dort einsetzen und mein Bestes geben.

Mit Ida lief es nicht so rund während meiner

Sekundarschulzeit. Obschon ich das Mädchen sehr gut mochte, obschon wir uns oft trafen und obschon ich sehr gerne mit ihr zusammen war, hatte ich sie richtiggehend vernachlässigt. Von meinen politischen Ideen und auch von meinen Ansichten des Lebens hielt sie nicht viel, da schwieg ich mich besser aus, aber ihre Probleme mit „Tanzkurs besuchen im Rahmen der Jungen Kirche“ oder einer „Rezeptsammlung der Oma“ oder dem Dorfklatsch und dem „Wer mit wem“ langweilten mich richtiggehend. Am meisten störte mich aber, wenn sie erzählte, was der Eicheliunder oder der Sonnenhöfler gesagt oder getan hatten, dann kam in mir eine Welle der Eifersucht hoch, was zur Folge hatte, dass ich, anstatt um sie zu werben, sie stehen liess. Sie hatte mein Ego beleidigt.

Nach dem (fast hätte ich gesagt „Abbüssen“) Absitzen meiner Schulpflicht begann ich meine Lehre bei einem Schreiner in F. etwa 30 Kilometer von zuhause weg. Der Lehrmeister war ein junger Typ, ruhig und fachlich kompetent und wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Otto der Starke konnte nichts dagegen haben, ich war in guten Händen.

Um die lange Anfahrt zu bewältigen kaufte ich mir ein echtes Rennrad der Marke „Tebag“, damals ein Kultobjekt weil der grosse Rennfahrer Ferdi Kübler mit einem solchen Rad von Sieg zu Sieg fuhr.

Die Lehrzeit war eine glückliche Zeit. Ich konnte mein handwerkliches Geschick einbringen und wirklich viel lernen, sei es als Bauschreiner oder als Möbelschreiner. Da mein Meister auch noch ein bekannter Restaurateur antiker Möbel war, erschloss sich mir ein neues und sehr interessantes Fachgebiet.

Ida besuchte eine Bäuerinnenschule in einem Schloss, ganz in der Nähe meines Lehrplatzes und manchmal kam sie am Samstagmittag dort vorbei und wir radelten gemeinsam nach Hause. Sie hatte immer viel zu erzählen von ihrer Arbeit, von den Kolleginnen, von den Lehrerinnen und dem alten Spukschloss in dem die Schule untergebracht war. Ich genoss es neben ihr zu fahren und ihre Stimme zu hören und fragte mich damals oft, ob ich sie liebte.

Ich wusste es nicht. Sie war mir mit ihrem Wesen und Dasein, sogar mit ihrem Körper so nah, dass mir immer ganz warm wurde, aber sie war doch so etwas wie meine Schwester und die begehrt man nicht zur Frau. Warum denn? Weil man sie so gut kennt?

Am Samstag vor der Kirchweih im Dorf fragte sie mich, ob ich sie zum Fest einlade, oder wenigstens zum Tanz. Da ich die darauffolgende Woche Ferien hatte, konnte ich mir eine durchtanzte Nacht gut leisten und willigte ein, mit dem Vorbehalt, dass ich ein gnadenlos schlechter Tänzer und Unterhalter sei, aber sie könne ja zum Tanz mit mir die Stallstiefel anziehen um ihre Zehen zu schonen.