Das große Geschäft

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Im Kinofilm gehört der wie auch immer von der Kamera eingefangene menschliche Akt der Erleichterung seit den 1960er Jahren fest zur fiktiven Realität. Philipp Alexander Tschirbs verzeichnet in seiner wissenschaftlich fundierten Studie Das Klo im Kino »eine anschwellende Flut« einschlägiger Szenen.15 Seine Untersuchung legt die Vermutung nahe, dass es im Bereich der schambesetzten menschlichen Bedürfnisbefriedigungen heute schon deshalb keinen überraschenden Tabubruch mehr geben kann, weil sämtliche vorstellbaren Tabus schon viel zu häufig gebrochen worden sind. In Filmen aller Genres, so viel steht fest, dienen Toiletten neben ihrem eigentlichen Zweck vor allem als Orte des Drogenkonsums, der Gewaltausübung und sexueller Abenteuer gleich- und andersgeschlechtlicher Heldinnen und Helden. Sie dienen natürlich auch als Versteck oder – wenn sie ein Fenster haben – als willkommener Fluchtweg. Titelgebend sind sie auch, sonst hieße eine 1981 in die Kinos gekommene Komödie ja nicht Taxi zum Klo.

Tschirbs’ akribischer Recherche verdanke ich vor allem die Erkenntnis, dass das Klosett in namhaften Filmen eine zentrale Funktion in der Handlung einnimmt. Alfred Hitchcock war einer der ersten Regisseure, der 1960 in Psycho das WC für eine Schlüsselszene nutzte, und das noch gegen erhebliche Widerstände. In dem berühmten Streifen landet die ums Leben gebrachte Marion Crane (Janet Leigh) direkt neben der Kloschüssel, in deren Wasser die papierenen Beweise für ihre illegalen Machenschaften und den Mord an ihr schwimmen. Altmeister Hitchcock rühmte sich in einem Interview übrigens dafür, »er verlasse die Toilette stets so sauber, daß niemand, der den Raum genauer inspiziere, auf die Idee käme, daß er dort gewesen sei«.16

Spätestens ab 1928, als der Stummfilm The Crowd (Ein Mensch der Masse) in den USA gedreht wurde, rücken Aborte auf der Leinwand zunehmend vor. Einer der ersten Tonfilme, in denen das WC eine Rolle spielt, erschien 1930: Das goldene Zeitalter von Luis Buñuel. Allerdings in verfremdeter Form. Eine sitzende Frau wird von Meereswogen bedrängt, deren Rauschen sich beim näheren Hinhören als das einer Klospülung entpuppt. Als der berühmte Regisseur und Filmemacher 1974 das aus einer lose zusammengehaltenen Folge surrealer Szenen bestehende Werk Das Gespenst der Freiheit in die Kinos entließ, wurde gleichsam Hand an Röcke, Hosenbünde und allemal das Klo-Tabu gelegt. Zwar bildet das unnachahmliche Toiletten-Dinner keine eigenständige Episode. Aber als Beispiel in einer Rede eines etwas verwirrten Professors, der an der Polizeiakademie ein Seminar über die Relativität des Gesetzes abhält, entfaltet die Szene plötzlich Wirkung. Nachdem der Professor auf Melanesien und die Forscherin Margarete Mead zu sprechen gekommen ist, fährt er fort: »Ja, die Polygamie, bei uns verboten, dort ganz normal. Oder stellen Sie sich vor, meine Frau und ich sind zum Essen eingeladen …« Prompt werden zum Dinner geladene gutbürgerliche Gäste in einem Wohnzimmer an einen Esstisch platziert, dessen Sitzgelegenheiten aus WC-Becken bestehen. Die Gäste klappen folgsam die Klodeckel hoch, ziehen Kleider hoch und Hosen runter und nehmen Platz. Die Hausangestellte reicht Toilettenpapier auf Silbertabletts. Die Spülung rauscht. Als ein Kind vom Essen spricht, folgt umgehend die Ermahnung: »Nicht bei Tisch!« Dann erhebt sich einer der Herren, und bedeutet, er müsse mal austreten. Er sucht eine kleine Kammer auf, in der Baguette und Aufschnitt angerichtet sind.

Wofür Buñuel diese Szene dient, wird spätestens deutlich, als die sich manierlich erleichternde Gesellschaft die Übervölkerung und die vielen Tonnen Exkremente beklagt, die Menschen produzieren. (Mich erinnert diese Szene an die römischen Prachtlatrinen, auf denen die Angehörigen der Oberschicht der Überlieferung zufolge gemeinschaftlich defäkierten und dabei in jeder Hinsicht Geschäfte machten.) Nur zwei Jahre nach diesem Highlight der Filmgeschichte legte Wim Wenders quasi eine Schippe nach. In seinem Film Im Lauf der Zeit (1976) kackt der Schauspieler Rüdiger Vogler vor laufender Kamera reell in den weißen Sand.

Toilettenräume, Pissoirs und WC-Becken dienen seit den 1960er Jahren als fast schon unverzichtbare narrative Stilmittel. Der außerhalb des Kinos als intimer Rückzugsort verstandene stille Ort wurde und wird seitdem nicht nur von cineastischen Großmeistern wie Hitchcock, Buñuel, Pier Paolo Pasolini (z. B. Die 120 Tage von Sodom; 1975), Bernardo Bertolucci (z. B. Der letzte Tango in Paris; 1972) oder Stanley Kubrick (z. B. Lolita; 1962, Uhrwerk Orange; 1971, Eyes Wide Shut; 1999) in jeder Hinsicht enttabuisiert.

Nicht zu vergessen das skandalträchtige Werk Das große Fressen des Regisseurs Marco Ferreri. Als sein Film 1973 in die Kinos kam, liefen die derben Sex- und Fress-Szenen, Letztere begleitet von unüberhörbaren Verdauungsgeräuschen und Blähungen der Protagonisten, den damals noch üblichen Seh- und Hörgewohnheiten ziemlich zuwider. In Irland verfügten die Behörden umgehend ein Aufführungsverbot. Bemerkenswert ist vor allem die sich aus einer Fress-Szene entwickelnde Katastrophe auf der Toilette. Philipp Alexander Tschirbs vermerkt: »Nachdem sich die zügellos Speisenden abwechselnd auf dem Klo erleichtert haben, wird die Kongruenz von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung visuell verdeutlicht: Das Klosett läuft über und die ›Scheiße‹ ergießt sich in einer Schwemme über das gesamte Badezimmer und dringt unaufhaltsam in die Wohnräume vor.«17 O-Ton des Protagonisten Ugo, als er das Badezimmer betritt und ins Becken schaut: »Hier liegt noch Scheiße drin. Nicht mal spülen können diese Schweine!«

Sind menschliche Exkremente und die konkreten Orte, an denen diese Produkte der Verdauung ausgeschieden werden, ein Tabuthema? In der Vergangenheit schon, heute bestenfalls bedingt. Sprachliche wie auch bildliche Unantastbarkeiten gibt es so gut wie keine mehr – und einen Gesichtsverlust muss niemand befürchten, der etwa beiläufig erzählt, er habe den 2009 erschienenen Roman Feuchtgebiete von Charlotte Roche mit Interesse gelesen. Immerhin laut Der Spiegel ein »Mega-Seller« mit circa drei Millionen verkauften Exemplaren allein in Deutschland. Hier ein kleiner, nicht unbedingt feiner Auszug:

»Hygiene wird bei mir kleingeschrieben. Mir ist irgendwann klar geworden, dass Mädchen und Jungs unterschiedlich beigebracht kriegen, ihren Intimbereich sauber zu halten. Meine Mutter hat auf meine Muschihygiene immer großen Wert gelegt, auf die Penishygiene meines Bruders aber gar nicht. Der darf sogar pinkeln ohne abwischen und den Rest in die Unterhose laufen lassen. Aus Muschiwaschen wird bei uns zu Hause eine riesenernste Wissenschaft gemacht. Es ist angeblich sehr schwierig, eine Muschi wirklich sauberzuhalten. Das ist natürlich totaler Unfug. Bisschen Wasser, bisschen Seife, schrubbel-schrubbel. Fertig. […] Eine andere Muschiregel meiner Mutter war, dass Muschis viel leichter krank werden als Penisse. Also viel anfälliger sind für Pilze und Schimmel und so. Weswegen sich Mädchen auf fremden oder öffentlichen Toiletten niemals hinsetzen sollten. Mir wurde beigebracht, in einer stehenden Hockhaltung freischwebend zu pinkeln, ohne das ganze Igittigitt-Pipi-Mobiliar überhaupt zu berühren. Ich habe schon bei vielen Dingen, die mir beigebracht wurden, festgestellt, dass die gar nicht stimmen. Also habe ich mich zu einem lebenden Muschihygieneselbstexperiment gemacht.

Mir macht es Riesenspaß, mich nicht nur immer und überall bräsig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen. Ich wische sie auch vor dem Hinsetzen mit meiner Muschi in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung einmal komplett im Kreis sauber. […] Das mache ich jetzt schon seit vier Jahren auf jeder Toilette. […] Und ich habe noch nie einen einzigen Pilz gehabt. Das kann mein Frauenarzt Dr. Brökert bestätigen.«18

Zurück ins WWW. Unter Verwendung der Begriffe Toilette und Knigge verwandelt es sich unversehens in eine irreale Verbesserungsanstalt. Vorausgesetzt wird in vielen Beiträgen, wie auch immer formuliert, folgendes Szenario: »Aufreger Nummer eins in vielen Haushalten ist die Toilettenbenutzung und -hygiene. Besonders in WGs, doch auch in Familien oder bei jungen Paaren ist das Ignorieren einfachster Hygieneregeln ein ständiges Streitthema. Der offene Toilettendeckel, Spritzer rund um die Kloschüssel oder das penetrante Ignorieren der Toilettenbürste – diese Aufreger kennt wohl jeder, der sich mit anderen eine Toilette teilt. Damit das heimische WC nicht zu einer verwahrlosten Bahnhofstoilette wird, gelten auf dem stillen Örtchen bestimmte Benimmregeln. Mit nur wenigen Hygienemaßnahmen haben unschöne Hinterlassenschaften und miese Gerüche keine Chance.«19

Und welche Benimmregeln beinhaltet im Zeitalter der Digitalisierung und Individualisierung ein selbst ernannter »WC-Knigge«? Die auf vielen Websites (und in der ausgeuferten Ratgeberliteratur) dargebotenen Winke mit dem Zaunpfahl und Tipps lesen sich in meiner Zusammenfassung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, so:

Die Toilette wird täglich genutzt und gebraucht. Daher sollte an diesem Ort aus Respekt vor den Mitmenschen Wert auf Sauberkeit und Hygiene gelegt werden.

Selbst wenn sich das Urinieren, Pinkeln, Pullern oder Pissen im Stehen für den Mann anbietet, sollte er sich auch zum Urinieren hinsetzen, denn so werden unerwünschte Spritzer und Gerüche verhindert. (Tipp: Beim Aufstehen die Tropfen mit einem Stück Klopapier auffangen.)

Nach dem großen Geschäft sollte jede und jeder die Toilettenbürste benutzen, um eventuelle Bremsspuren zu beseitigen. (Tipp: Durchgeweichtes Klopapier setzt sich in den Borsten fest und schreckt nachfolgende Toilettenbenutzer von der Benutzung ab.)

 

Nach jedem Geschäft muss ordentlich gelüftet werden. Vor allem, wenn sich die Toilette im Badezimmer befindet. (Tipp: Wenn keine Entlüftung möglich ist, ein Streichholz anzünden. Dann entweicht Schwefel, der wiederum den unangenehmen Geruch bindet.)

Nach der Säuberung mit der Klobürste wird der Toilettendeckel wieder aufgelegt. Das minimiert ebenfalls Gerüche. Auch schaut niemand gerne in den offenen Abfluss. Beim Verlassen der Toilette muss die Klotür hinter sich geschlossen werden.

Nach jedem Toilettengang Hände waschen nicht vergessen. Gründliches Reinigen verhindert, dass Fäkalkeime im gesamten Haushalt und an andere Personen verteilt werden.

Binden und Tampons gehören nicht in die Toilette, wo sie für Verstopfung und Überschwemmung sorgen. Auch Speiseabfälle und Essensreste haben nichts in der Kloschüssel zu suchen. Sie machen die Klärung der Abwässer schwieriger; außerdem sind nahrhafte Stoffe ein gefundenes Fressen für Ratten.

Wer das letzte Toilettenpapier einer Rolle verbraucht, hat für Nachschub sorgen. Der nächste Benutzer würde es nach seinem Geschäft empört vermissen.

Viele Menschen lesen gern auf der Toilette. Die Tageszeitung oder Zeitschrift auf der Toilette kann aber schnell unhygienisch werden. (Tipp: Bitte nur kurze Sitzungen einplanen, das Klo ist keine Bibliothek …)

Mit dieser Übersicht heute vielfach kommunizierter Benimmregeln könnte ich es gut sein lassen, wenn es da nicht noch die viel beschworene Geschäftswelt gäbe und mit ihr den Business-Knigge. Merke: »Zunächst gehört es zum guten Ton, die Toilette auch als solche zu bezeichnen. Der Begriff ›Klo‹ zeugt in der Geschäftswelt nicht gerade von Stil. Auch Ankündigungen wie ›Ich geh aufs stille Örtchen‹ oder ›Ich muss mal für kleine Mädchen/​Jungen‹ sind außer unter sehr vertrauten Kollegen fehl am Platz. Das Handy lassen Sie bitte vor der Tür oder machen es aus. Es ist sehr unhöflich, andere Toilettenbesucher durch einen Anruf zu stören.«20

All das, was heute mit dem Begriff Knigge verbunden wird, hat mit dem profilierten Republikaner Adolph Freiherr Knigge (1752 – 1796) und seinem aufklärerischen Werk Ueber den Umgang mit Menschen von 1788 nichts zu tun. Knigge hatte kein Benimmbuch, sondern einen kritischen Leitfaden zur Lebensphilosophie vorgelegt.21 Obwohl der ob seines Eintretens für die Ideale der Französischen Revolution von konservativen Kreisen gehasste Freiherr posthum durch Umschriften seines Hauptwerks nachgerade seiner Ideale beraubt wurde, scheut sein 1968 geborener Nachfahre Moritz Freiherr Knigge nicht davor zurück, sich auf genau den »Benimm-Knigge« zu beziehen, den es leibhaftig nie gab. Er nutzt den inzwischen wohlklingenden Namen für seine Beratungstätigkeit in Umgangsfragen. Und wie lauten die zentralen Benimmregeln von Moritz Freiherr Knigge (allerdings nur für Herren)?

»Es gibt eine einfache Faustregel am Urinal: Pinkeln und Mund halten. Dies ist weder der Ort, um geschäftliche Gespräche weiterzuführen, noch gar Intimes zu besprechen. […] Steht der Vorgesetzte direkt neben einem, verbieten sich sowohl verstohlene Blicke in seine Richtung als auch der Einsatz karrierefördernder Selbstmarketingstrategien! Spülungen sind dazu da, um sie zu betätigen, Klobürsten, um sie zu benutzen, Fenster, um zu lüften, und Wasserhähne, um sie aufzudrehen und sich die Hände zu waschen. Wer meint, auf Letzteres verzichten zu können, dem sei ein Satz Adolph Freiherr Knigges ans Herz gelegt, der gerade auf dem Herrenklo seine zeitlose und allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf: ›Tue nichts im Verborgenen, dessen Du Dich schämen müsstest, wenn es ein Fremder sähe.‹«22

00 2 Tierisch menschlich

Körperliche Ausscheidungsprozesse sind eine alltägliche Herausforderung für sich. Selbst im Falle des »kleinen« Geschäfts. Die menschliche Blase hat ein Volumen von gut einem halben Liter. Wenn ihre Füllung ein Volumen von 200 bis 300 Millilitern überschreitet, erhält das Gehirn die Information: Harndrang. Wird der Drang häufig unterdrückt, meldet sich die Blase seltener. Zudem können wir die Füllmenge der Blase ausdehnen, indem wir viel trinken. Nun gibt es – unabhängig vom Geschlecht – Menschen, die den Harndrang weniger unterdrücken als andere, und eben häufiger eine Toilette aufsuchen. Rein statistisch betrachtet scheinen Frauen ihrem Harndrang häufiger nachzugeben als Männer – sie suchen durchschnittlich fünf- bis siebenmal täglich die Toilette auf, während Männer es bei drei bis vier Gängen belassen. Wie dem auch sei, sicherlich empfinde nicht nur ich ein schnell erreichbares und gepflegtes WC als einen Segen, vor allem außerhalb der eigenen vier Wände. Die Heldin Annabel in Ildikó von Kürthys Roman Freizeichen nicht minder. Sie reist eines Tages spontan zu ihrer exzentrischen Tante nach Mallorca, die aber nicht wie vereinbart zu Hause ist. Da Annabel dringend auf Toilette muss, beschließt sie, in nächster Nähe eine Erleichterungsmöglichkeit zu suchen:

»Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber wenn ich auf die Toilette muss, dann muss ich immer ganz plötzlich und dringend auf die Toilette. Vor langen Autofahrten zum Beispiel trinke ich immer tagelang nichts. Vergeblich. Schon bei der ersten Raststätte muss ich raus. Immer. Ben sagt, ich hätte eine Altherrenblase, und meine Freundin Mona schlug vor, ich solle beim nächsten Mal Windeln tragen oder mir einen Katheter legen lassen. […] Aber es ist tatsächlich so: Eigentlich befinde ich mich die meiste Zeit meines Lebens auf der Suche nach einem Klo.

Für mich also eine absolut vertraute Situation: Annabel Leonhard eilt mit zusammengepressten Schenkeln durch irgendeine völlig toilettenfreie Zone dieser Welt. […] Glücklicherweise habe ich durch jahrzehntelange Praxis ein seismografisches Gespür für Toiletten entwickelt oder für Gegenstände, die man als Toilette benutzen kann. Ich […] denke, der Satz, den ich in meinem Leben am häufigsten gesagt habe, ist: ›Dürfte ich wohl mal Ihre Toilette benutzen?‹ […] Unter Blasendruck verliert man viele seiner ansonsten hartnäckigen Hemmungen. Ich habe schon in Spelunken gepinkelt, die ich bei klarer geistiger Verfassung nur mit Schutzanzug und Atemmaske betreten hätte.«23

Um unserer vornehmsten Eigenschaft als Stoffwechsler zu genügen, müssen wir ausreichend essen und trinken. Um die unser Überleben sichernden Körperfunktionen gut zu versorgen, sind Fette, Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Proteine, Vitamine und Wasser essenziell. Der Körper benötigt sie für das Wachstum, für die Zellteilung und die Blutgerinnung, zur Deckung des Energiebedarfs des Herzens, der Bewegungsabläufe und anderem mehr. Stoffwechselprodukte, die der Körper nicht verwerten kann, müssen wieder ausgeschieden werden. Während die Haut Wasser, Salze und Gifte herausschwitzt und die Lunge beim Ausatmen Kohlendioxid ausstößt, entsorgt der Darm die Abfallstoffe der Verdauung und befreit das Harnsystem den Körper vor allem von Stickstoff. Ohne die zuverlässig entgiftende Arbeit der Nieren, die pro Minute einen Liter Blut filtern (und ein Prozent davon in Urin verwandeln), kommt kein Mensch über die Runden. Der Urin sammelt sich in der Harnblase an, deren Wand dadurch mehr und mehr unter Spannung gerät. Ist die einen guten halben Liter Urin fassende Blase voll, entsteht Harndrang.

Der Mund fungiert als Tor und »Eingangshalle zu einer Welt, in der Fremdes zu Eigenem wird«, statuiert Julia Enders in ihrem Bestseller Darm mit Charme.24 (Mit »Charme« lassen sich Tabus übrigens auch gut entsorgen.) Nach der bereits in der Mundhöhle einsetzenden Verdauung wird die aufgenommene Nahrung dann mittels Säuren und Enzymen im Magen aufbereitet. Im bis zu fünf Meter langen Dünndarm erfolgt die Aufspaltung der Nähr- und Abfallstoffe, wobei die löslichen Nährstoffe durch dessen Zotten wieder in die Blutbahn und zur Leber gelangen. Der Dünndarm wird bei seiner Kärrnerarbeit von der Bauchspeicheldrüse unterstützt. Sämtliche unverdaulichen Stoffe gelangen in den anderthalb Meter langen Dickdarm, wo Bakterien sie zersetzen. Der verbleibende Rest des eingedickten Breis wird sukzessive weitergeschoben und steht dann zur Ausscheidung durch den After parat. Das kann freilich dauern. Bis die aufgenommene Kost ihre Verwertung und Verwandlung im Körper hinter sich hat, vergeht mindestens ein Tag.

Wie viele andere Körperfunktionen auch unterliegt der Verdauungsvorgang individuellen Schwankungen. Verstopfungen liegen aus medizinischer Sicht vor, wenn die Darmentleerung nicht dreimal wöchentlich erfolgt oder nur durch schmerzhaftes Pressen möglich wird. Hinzu kommen Störungen wie Stuhlinkontinenz und andere mehr. Die Häufigkeit des Stuhlgangs ist bei jedem Menschen individuell speziell – sie variiert bei gesunden Erwachsenen zwischen dreimal täglich bis dreimal wöchentlich. Auch die Konsistenz des Kots kennt keine feste Regel – sie schwankt zwischen hart und weich je nach individueller körperlicher und seelischer Verfassung und natürlich auch der jeweils präferierten Nahrung.

Die sich mehrmals täglich füllende Blase signalisiert durch den Harndrang, dass sie entleert werden muss. Erweist er sich als besonders stark oder unbeherrschbar, gilt das als Symptom für eine Störung. Der Harndrang kommt nicht von ungefähr. In der Blasenwand registrieren reizaufnehmende Zellen bzw. Rezeptoren stets die anliegende Spannung und melden sie an die zuständigen Kontrollstellen im zentralen Nervensystem. Muskelgeflechte rund um den Blasenausgang und an der hinteren Harnröhre sowie die Beckenbodenmuskulatur halten die Blase unter Verschluss. Gesunde Menschen können ihre Urinabgabe bewusst steuern, indem sie diese Muskeln erschlaffen lassen, wobei sich gleichzeitig der Blaseninnendruck durch die Anspannung der harnaustreibenden Muskeln erhöht. Und schon kommt es zur Miktion, der Blasenentleerung. Sie ist bekanntlich umso häufiger notwendig, als die Trinkmenge gesteigert wird. Und wenn das nicht klappt? In Günter de Bruyns 1984 publizierten Roman Neue Herrlichkeit erfährt Viktor telefonisch, dass es seinem Vater nicht gut geht:

»Das ist erschreckend und erheiternd zugleich. Den kraftstrotzenden Mann, dem Schwäche bisher defätistisch und Krankheit moralisch anrüchig erschien, kann man sich als Patienten nicht vorstellen. Jetzt fühlt sich der Löwe als Wurm; der Halbgott, der Ärzte sowenig gebraucht hat wie Priester, merkt, daß auch er sterblich ist. So gewaltig wie früher die Kraft, ist nun der Jammer. Er fühlt sich nicht nur geschlagen vom Schicksal, sondern auch noch verhöhnt, weil es ausgerechnet die Prostata ist, die ihn quält. Ehrenvoll zu Boden geht man in seinen Kreisen durch Herzinfarkt, nicht aber so. Ein Riese, der vor Schmerz schreit, wenn der Urin kommen soll und nicht will, ist kein Mann mehr, sondern eine Schießbudenfigur …«25

Die Ausscheidung der Stoffwechselendprodukte erfolgt in Form von Urin und Fäzes. Während es der Urin in aller Regel eilig hat, unserem Körper Ade zu sagen, nimmt sich der Darm, immerhin unser größtes sensorisches Organ, mehr Zeit. Aber irgendwann will auch er entleert sein, und wie das funktioniert, hat Giulia Enders in ihrem Werk Darm mit Charme trefflich zur Sprache gebracht:

»Unser Klogang ist eine Meisterleistung – zwei Nervensysteme arbeiten gewissenhaft zusammen, um unseren Müll so diskret und hygienisch wie möglich zu entsorgen. […] Unser Körper hat dafür allerlei Vorrichtungen und Tricks entwickelt. Es fängt schon damit an, wie ausgetüftelt unsere Schließmechanismen sind. Fast jeder kennt immer nur den äußeren Schließmuskel, den man gezielt auf- und zubewegen kann. Es gibt einen ganz ähnlichen Schließmuskel, wenige Zentimeter entfernt – nur können wir ihn nicht bewusst steuern. Jeder der beiden Schließmuskeln vertritt die Interessen eines anderen Nervensystems. Der äußere Schließmuskel ist treuer Mitarbeiter unseres Bewusstseins. Wenn unser Gehirn es unpassend findet, jetzt auf die Toilette zu gehen, dann hört der äußere Schließmuskel auf das Bewusstsein und hält so dicht, wie er eben kann. Der innere Schließmuskel ist der Vertreter unserer unbewussten Innenwelt. […]

Diese beiden Schließmuskeln müssen zusammenarbeiten. Wenn unsere Verdauungsreste beim inneren Schließmuskel ankommen, macht dieser reflexartig auf. Er lässt allerdings nicht einfach alles auf den äußeren Schließmuskelkollegen los, sondern erst einmal nur einen Testhappen. In dem Raum zwischen innerem und äußerem Schließmuskel sitzen viele Sensorzellen. Diese analysieren das angelieferte Produkt darauf, ob es fest oder gasförmig ist, und schicken ihre Information hoch an das Gehirn: Ich muss aufs Klo! … oder vielleicht auch nur pupsen. Es macht dann, was es mit seinem ›bewussten Bewusstsein‹ so gut kann: Es stellt uns auf unsere Umwelt ein. Dazu nimmt es Informationen von Augen und Ohren und zieht seinen Erfahrungsschatz hinzu. In Sekundenschnelle entsteht so eine erste Einschätzung, die das Gehirn zurück an den äußeren Schließmuskel funkt: ›Ich habe geguckt, wir sind gerade bei Tante Berta im Wohnzimmer – Pupse gehen vielleicht noch, wenn du sie ganz leise raustwitschen lässt. Fest eher ungut.‹ Der äußere Schließmuskel versteht und verschließt sich voller Loyalität noch fester als zuvor. Dieses Signal bemerkt dann auch der innere Schließmuskel und respektiert erst mal die Entscheidung seines Kollegen. Die beiden verbünden sich und schieben den Testhappen in eine Warteschleife. Raus muss es irgendwann, nur eben nicht hier und jetzt auch nicht. Einige Zeit später wird es der innere Schließmuskel einfach noch mal mit einem Testhappen probieren. Sitzen wir mittlerweile gemütlich zu Hause auf dem Sofa: freie Fahrt!«26

 

Nach der – hoffentlich wohlschmeckenden und bekömmlichen – Speisenaufnahme folgen die Verdauung und irgendwann später der Gang auf die Toilette. Was nun diesem Ablauf mit anschließender »freier Fahrt« gleichsam eingeschrieben ist, verdeutlicht Elias Canetti (1905 – 1994) in seinem Werk Masse und Macht in akribischer Klarheit. Sämtliche Nahrungsmittel, die wir uns zum Überleben einverleiben müssen, bestehen ja biologisch betrachtet aus anderen Lebewesen, und deren Verzehr bestimmt unsere Wirklichkeit aus der Sicht des Literaturnobelpreisträgers entschieden mehr, als es im alltäglichen Hin und Her den Anschein hat. In dem von Canetti unzweideutig betitelten Kapitel »Eingeweide der Macht« heißt es:

»Nichts hat so sehr zu einem gehört, als was zu Kot geworden ist. Der konstante Druck, unter dem die Speise gewordene Beute steht, während der ganzen langen Weile, die sie durch den Leib wandert, ihre Auflösung und die innige Verbindung, die sie mit dem Verdauenden eingeht, das vollkommene und endgültige Verschwinden erst aller Funktionen, dann aller Formen, die einmal ihre eigene Existenz ausgemacht haben, die Angleichung oder Assimilation an das, was vom Verdauenden als Leib bereits vorhanden ist – all das läßt sich sehr wohl als der zentralste, wenn auch verborgenste Vorgang der Macht sehen. Er ist so selbstverständlich, selbsttätig und jenseits alles Bewußten, daß man seine Bedeutung unterschätzt.«27

Unsere Exkretion, daran lässt Elias Canetti keinen Zweifel, hat weit größere Dimensionen, als die rein physiologische Funktion erkennen lässt. Die Bewältigung der Wirklichkeit durch das Ergreifen, Erkaufen, Zubereiten, Einverleiben und Verdauen von Beute, die die überlebenssichernden Nährstoffe, Mineralien und Vitamine enthält, bleibt für instinktentbundene Mängelwesen vom Schlage Homo sapiens offenbar nicht folgenlos. Weder im Psychischen noch im Sozialen und Kulturellen. Und eben deshalb kommt für Canetti beim Stuhlgang auch weit mehr ans Tageslicht, als es scheint:

»Der Kot, der von allem übrigbleibt, ist mit unserer ganzen Blutschuld beladen. An ihm läßt sich erkennen, was wir gemordet haben. Er ist die zusammengepreßte Summe sämtlicher Indizien gegen uns. Als unsere tägliche, fortgesetzte, als unsere nie unterbrochene Sünde stinkt und schreit er zum Himmel. Es ist auffallend, wie man sich mit ihm isoliert. In eigenen, nur dazu dienenden Räumen entledigt man sich seiner; der privateste Augenblick ist jener der Absonderung; wirklich allein ist man nur mit seinem Kot. Es ist klar, daß man sich seiner schämt. Er ist das uralte Siegel jenes Machtprozesses der Verdauung, der sich im Verborgenen abspielt und ohne dieses Siegel verborgen bliebe.«28

Ich kommentiere das nicht weiter. Ein durchschnittlicher Europäer verdaut in seinem Leben gut zwanzig Tonnen Nahrung. Und was gibt er davon an die Umwelt zurück? Schätzungsweise mindestens 30 000 Liter Urin und bis zu 8000 Kilogramm Kot. Allerdings haben auch die Fäzes viel Flüssigkeit in sich – gut drei Viertel der Menge sind nichts als Wasser. Einer der großen Universalgelehrten seiner Zeit, Leonardo da Vinci (1452 – 1519), kommentierte die Existenz ihm unliebsamer Mitmenschen denn auch spöttisch mit den Worten: »Zahlreich sind jene, die sich als einfache Kanäle für die Nahrung und als Erzeuger von Dung und Füller von Latrinen bezeichnen könnten, denn sie kennen keine andere Beschäftigung in dieser Welt. Sie befleißigen sich keiner Tugend. Von ihnen bleiben nur volle Latrinen übrig.«29

Übrigens hinterlassen Vegetarier fast doppelt so viele Fäzes wie Fleischesser, weil sie mehr unverdauliche Ballaststoffe zu sich nehmen. Die Fleischesser hingegen produzieren stärker riechenden Kot, weil beim Abbau tierischer Eiweiße chemische Stoffe entstehen, die für ein von Mitmenschen zuweilen als unangenehm empfundenes Odeur sorgen. Fäzes entwickeln ihren spezifischen Duft nach der Ausscheidung vor allem aufgrund der Verbindungen von Skatol und Indol, die beim Abbau der Aminosäure Tryptophan entstehen. Auch die sich bei der Verdauung von Proteinen bildenden Alkanthiolen nebst Schwefelwasserstoff tragen zur Geruchsbildung bei. Normaler Menschenharn entfaltet seinen strengen, von ausgasendem Ammoniak herrührenden Geruch hingegen erst mit der Oxidation an der Luft – zunächst duftet er mehr nach Fleischbrühe oder, nach dem Genuss von Spargel, Baldrian und Lauch, nach Methylmerkaptan. Bei manchen jedenfalls. Denn nach dem Spargelessen scheiden sich Untersuchungen zufolge die Menschen in zwei Gruppen. Bei der einen verströmt der Urin ein spezifisches Aroma, bei der anderen riecht er wie immer. Verursacht wird dieser Unterschied durch ein Enzym, das die im Spargel enthaltene Asparaginsäure zersetzt, und das die einen unter uns haben und die anderen nicht.30

Die natürlichen Ausgasungen und anderen anrüchigen Düfte, die mir in oder nahe der Örtchen für unaufschiebbare Bedürfnisse täglich mehr oder weniger intensiv um die Nase wehen, sind eine Tatsache des Lebens. Alois Gmeiner hebt sie in seiner Tour de Toilette wie folgt ins Bewusstsein: »Das mit dem Klogang ist so eine Sache. Die Erleichterung, die jeder nach dem Abdrücken verspürt, widerspricht der Peinlichkeit, die man nach dem Verlassen der Toilette zurücklässt. Der infame Geruch hat heutzutage im Gegensatz zu den letzten 100 000 Jahren Menschheitsentwicklung selbstverständlich seine Gegner, die alles daran setzen, den letzten Rest des Besuchs und den unvermeidlichen Beweis für das große Geschäft zu vernichten, oft aber bitter scheitern – der üble Geruch bleibt! Nicht bloß das, die bösen Gase suchen sich dann auch noch ihren Weg aus der Toilette und lösen sich erst langsam und gänzlich und von allen ›bemerkt‹ in Luft auf. Meist ist es dann auch schon zu spät. Andere rümpfen bereits ihre Nasen, und den Produzenten überkommt eine seltsame Scham. […] Doch wie so oft – der Mensch ist schlau und erfinderisch, wenn es darum geht, etwas zu verdrängen. Beliebt sind Duftsprays, die ein geradezu witziges Geruchsgemisch erzeugen …«31

Der Geruchssinn zählt zu den klassischen fünf Sinnen; er ist entwicklungsgeschichtlich älter als der optische oder akustische. Schon Säuglinge erkennen wenige Tage nach der Geburt die Brust ihrer Mutter am Geruch. Die Wahrnehmung, Interpretation und der Umgang mit dem Geruch hat einen historisch langen kulturellen Vorlauf.32 Nicht zuletzt die Geschichte der Parfümerie umspannt Jahrtausende. Der Geruchssinn dient zur Kontrolle von Nahrungsmitteln und zur Appetitanregung, er fördert die Verdauung und dient der Gefahrenerkennung, etwa wenn Feuer ausbricht. Er ermöglicht sowohl die Identifizierung von Krankheiten wie nicht zuletzt eine »passende« Partnerwahl. Während nun bis ins 18. Jahrhundert hinein allgemein eine recht hohe Toleranz gegenüber auch streng riechenden Körperausdünstungen, Schlachtereien, Jauche- und Latrinengruben etc. herrschte, ist diese Schwelle seitdem erheblich niedriger geworden. Eine maßgebliche Ursache für die sich wandelnde Interpretation des Olfaktorischen war nicht zuletzt die gleichsam explodierende Urbanisierung und die damit einhergehende Verengung des sozialen Raums. Die wachsende Zahl der europäischen Großstädte geriet ab dem 18. Jahrhundert jedenfalls in den Ruch, ein Sinnbild von Elend, Gestank und Verschmutzung zu sein.