Angstfrei glauben

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Die Sehnsucht nach „Ich-Werdung“ und die Angst vor „Ich-Verlust“





Jeder von uns entwickelt im Laufe des Lebens ein Gefühl für sich selbst. Das geschieht bei Kindern offensichtlich dann, wenn sie beim Sprechen von der dritten Person zur ersten wechseln. Dann sagt die Tochter plötzlich nicht mehr: „Hanna hat Hunger“, sondern: „

Ich

 habe Hunger.“



Das Ich als Subjekt ist entdeckt. „Das ist

meine

 Schokolade,

mein

 Teddybär,

meine

 Eisenbahn,

meine

 Mama,

mein

 Papa.“ Manchmal sagt Hanna dann auch: „Ich mag

meine

 Kartoffeln nicht“, oder „Nein,

meine

 Kartoffeln esse ich nicht“, oder so etwas Ähnliches. Und sollte unsere Hanna im wirklichen Leben ein Max oder Fritz sein, keine Sorge, die können das auch.



Ich-Werdung hat etwas mit dem Selbstverständnis zu tun. Dazu gehört auch die Eingrenzung der Welt auf sich selbst und die Abgrenzung von den anderen. Ich habe einen Namen. Ich habe eine Meinung. Ich habe Rechte. Ich bin ich. Unverwechselbar.



Wer die Grenze nicht respektiert, wer einfach „du“ sagt zu mir, obwohl ich ihm das Du nicht angeboten habe, wer mich bedrängt und meine Meinung nicht respektiert, wer mich vereinnahmt, dem zeige ich die Grenze. Dann leuchtet die Beziehungsampel rot und ich signalisiere: „Tritt mir nicht zu nahe!“ Die Grenze, die man dann demonstriert, kann die kalte Schulter sein. Auch Spott oder Ironie oder Machtgehabe sind beliebte Grenzziehungen.



Bei manchen Erwachsenen ist die Sehnsucht nach Ich-Werdung sehr stark ausgeprägt. Solche Menschen nennen wir gern Individualisten. Sie können scharfsinnig sein, aber auch rechthaberisch, zitieren fortwährend irgendwelche wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nur ihnen bekannt sind, und die einzig sichere Meinung ist ihre eigene.



Solche Menschen sind durch die Meinung anderer nicht gefährdet. Sie stehen gern allein und verteidigen ihre Ansicht. Zuweilen reagieren sie kühl und erscheinen durch ihre überlegene Art eingebildet. Gu>tgläubigkeit belächeln sie als Dummheit und können harte Kritik üben. Ihre unzweifelhafte Stärke aber ist ihre Unabhängigkeit.



Ist diese Sehnsucht nach Ich-Werdung zu stark ausgeprägt, werden aus der Unabhängigkeit Isolation und Unfähigkeit zur Beziehung, die auch Kompromisse erfordert. Gefühle werden dann isoliert und nicht wahrgenommen, denn Gefühle werden als etwas Instabiles und Unberechenbares bewertet.



Hinter der Fassade der Souveränität aber herrscht eine große Angst: Man könnte die eigene Unabhängigkeit verlieren. Und wenn man die Unabhängigkeit verloren hat, ist man selbst verloren. Hinter dem überstarken Streben nach der eigenen Individualität steht demnach die unausgesprochene und oft nicht wahrgenommene Angst vor dem Ich-Verlust.



Der ach so starke und dominante Mann und die kühle Frau, die niemanden an sich heranlassen und sich nicht binden wollen, die ihre Unabhängigkeit wie einen Orden vor sich hertragen, sind im Grunde ängstlich und verstecken diese tiefe Angst durch ihr forsches Auftreten, ihre überlegene Art sich zu geben oder durch Rückzug.



Sehnsucht und Angst spielen zusammen und gegeneinander. Je größer die Sehnsucht nach Ich-Werdung, desto größer die Angst vor Ich-Verlust. Deshalb vermeidet diese Angst häufig die Nähe zu anderen. Nähe bedeutet Hingabe und Hingabe bedeutet die Gefahr, aufgesogen zu werden. Deshalb vermeidet diese Angst oft, von Gefühlen oder persönlichen Empfindungen zu reden. Da weiß man nicht, wohin das führt. Außerdem ist das Preisgeben von Intimität der Anfang der „seelischen Prostitution“.



Wer sich aber in Beziehungen nicht verlieren kann und nicht hingibt, der bleibt immer ein Stück auf der Hut, den hält die Angst in einem Grundmisstrauen fest, das er nicht ablegen kann. Deshalb bleibt die Liebe kühler und distanzierter, auch wenn sie treu und aufrichtig ist.



Der Glaube wird vorwiegend als Lehre und nicht als Erfahrung oder Emotion erlebt. Gott als der nahe Vater, das wirkt eher peinlich als anziehend, eher zu süßlich und naiv. Und ein Gottesdienst, in dessen Mittelpunkt die Erfahrung des Menschen steht, in dem man einander umarmen „muss“ und der dann in Zweier-Gebetsgemeinschaften „ausartet“ – ein schrecklicher Gedanke! Das ist kaum auszuhalten, nahezu körperlich unangenehm. Das macht Angst.







Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und die Angst vor Einsamkeit





In jedem von uns steckt die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Wir wollen dazugehören, zu einer Familie, zu einer Gruppe von Freunden, zur Gemeinde. So sind wir gemacht und gewollt.



Durch die Suche nach Zugehörigkeit entsteht das Gefühl für Mitmenschlichkeit und Solidarität. Es entsteht das natürliche Bedürfnis zu helfen, wenn man gebraucht wird. Vielfach wird sogar ein helfender oder sozialer Beruf ergriffen.



Der eine wird Pastor, eine andere kümmert sich um alte Menschen und wieder andere versuchen, den Kindern in der Schule Lesen und Schreiben beizubringen. Solche Menschen sind für die Gemeinschaft wichtig. Sie sorgen sich um den inneren Zusammenhalt, kommen Menschen nahe und spüren förmlich, wo es weh tut und wo Hilfe nötig ist.



In der Gemeinde findet man sie in der Diakonie, in der Küche, bei den Pfadfindern, im Begrüßungsteam, im Hauskreis, einfach überall, wo es um mitmenschliche Beziehungen geht. Sie geben einer Gruppe Wärme und Atmosphäre und geben jedem Fremden das Gefühl, er gehöre wie selbstverständlich schon lange dazu. Lächeln ist kein Problem. Zuhören auch nicht.



Zeit spielt keine Rolle, und Geld ist dazu da, dass man damit hilft und es ausgibt, und nicht dazu, dass man es in irgendeiner Kasse hortet. Gott wird als Freund erlebt und Jesus ist der große Bruder, der immer da ist und hilft. Der Gottesdienst ist gemeinschaftsfördernd und atmosphärisch warm.



Dennoch kann hinter der allzu großen Hilfsbereitschaft bis hin zur Selbstaufgabe, die dann als christliche Nächstenliebe verstanden wird, auch eine tiefe verborgene Angst stecken. Denn wer sich selbst hingibt bis zur Selbstaufgabe, wer keine Kosten scheut, wer sich alles gefallen lässt, wer sich ausnutzen lässt, in der Gemeinde wie in der Familie, in dessen Seele kann die Angst vor Einsamkeit und Ablehnung lauern.



In Kopf und Seele drehen sich Gedanken wie: „Wenn ich mich nicht hingebe, wenn ich nicht zustimme, wenn ich widerspreche, wenn ich nicht mitmache –, dann lassen mich die anderen bestimmt links liegen. Sie werden mich kritisieren. Dann gehöre ich nicht mehr dazu. Dann muss ich mich alleine entscheiden. Ich muss alleine leben. Ich muss alleine denken. Ich falle auf. Man liebt mich dann nicht mehr.“



Die Angst, nicht mehr geliebt zu werden, ist wohl am tiefsten verwurzelt. Sie kann so weit führen, dass Personen ein „mondhaftes“ Verhalten an den Tag legen. Wie der Mond kein Licht gibt und nur leuchtet, wenn ihn die Sonne bescheint, so leuchten auch sie nur, wenn sie vom Licht anderer Menschen beschienen werden.



Dieses Licht scheint immer dann, wenn man dient, wenn man sich kümmert, wenn man zustimmt, wenn man lobt, wenn man „toll“ findet, was der andere macht. Dann erhält man Anerkennung und Lob. Diese aufbauenden „Streicheleinheiten“ müssen beständig von außen kommen, da das eigene „Fass“ des Selbstwertes leer ist.



Nun ist es nicht einfach, hinter so viel Mitmenschlichkeit und Opferbereitschaft das Motiv Angst zu entdecken. Sie versteckt sich ja hinter dieser helfenden „Maske“ der Persönlichkeit und treibt zu immer neuer Selbstaufgabe. Und doch ist es häufig so. Der Mensch dient vordergründig aus Liebe und Hingabe, und er glaubt es auch. Ja, der Grad der Selbstaufopferung beweist es geradezu. Nur vier Stunden Schlaf, keinen Abend zu Hause, keine Zeit für ein Buch, das man so gern lesen würde. Kein freier Tag. Kein Urlaub. Immer bereit, immer zu Diensten. Was soll ich noch opfern, um mir zu beweisen, dass ich selbstlos bin? Und doch ist es keine freie Hingabe, sondern eine durch die Angst vor Einsamkeit, Kritik und Liebesverlust erzwungene.



Erst wenn die Angst erkannt ist, kann der Mensch lernen, sich mehr abzugrenzen, auch einmal „nein“ zu sagen und seinen Wert in der eigenen Person zu entdecken.







Die Sehnsucht nach Dauer und die Angst vor dem Chaos





Neben Sehnsucht nach Gemeinschaft und Angst vor Einsamkeit ist die dritte Kraft, die in jedem von uns wirkt, die Sehnsucht nach Dauer. Unser heutiges Sein ist nicht im Augenblick geboren. Wir sind nicht vom Wind des Schicksals wie ein Blatt in eine Situation hineingeweht, losgelöst von jeder Verbindung mit der Vergangenheit.



Ich habe eine Herkunft, kann zurückschauen auf eine Familie und ihre Geschichte, auf ein Volk mit seiner Geschichte. Zwar bin ich im heutigen Polen geboren, aber ich kann jedem erzählen, der es hören will, dass unsere Familie aus dem vorderen Odenwald stammt und meine Vorfahren nach der dritten Teilung Polens zur Zeit Maria Theresias sich einem Treck angeschlossen haben, der, von der Pfalz kommend, über den Odenwald nach Ulm, dann die Donau hinunter, nach Wochen in Galizien sein Ziel fand und damit in der glorreichen österreich-ungarischen Monarchie. Dort haben wir gelebt, bis wir aufgrund der politischen Verhältnisse wieder zurück nach Deutschland geflohen sind.



Ich habe vierzehn Jahre in Darmstadt gelebt und erst spät erfahren, dass ich dort familiengeschichtlich fast zu Hause bin. Also, ich habe eine Geschichte von Dauer. Und – ich denke wie ein Abendländer, wie ein Mitteleuropäer.



Viele vor mir haben Gedankengänge über Leben und Tod, über Werte und Glauben „vor“-gedacht. Ich habe die Demokratie nicht erfunden und nicht die Aufklärung in Szene gesetzt. Martin Luther hat seine Thesen lange vor meinem Eintritt ins Leben an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen und ich muss die Glaubensüberzeugungen der Adventgemeinde nicht neu erfinden. Was für mich gilt, gilt für alle. Jeder von uns kann auf eine Vergangenheit zurückschauen und wird durch sie geprägt.

 



Doch mein Blick wendet sich nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorn. Ich schaue in die Zukunft. Ich kann planen und zielbewusst Schritte gehen: auf einen Beruf hin, auf ein Haus hin, auf das Alter hin. Gerade das Altern verstärkt die Sehnsucht nach Dauer.



Der Trend des Jung-sein-Müssens ist ein beredtes Zeugnis dafür. Jung bleiben, das verspricht Beständigkeit. Die Industrie lacht sich ins Fäustchen und verstärkt die Sehnsucht noch mit viel versprechenden Cremes und Wässerchen. Wellness-Farmen schießen wie Pilze aus dem Boden. Tatsächlich scheinen die Anstrengungen zu helfen. Wir Deutschen werden immer älter, und nicht nur wir.



Die Sehnsucht nach Dauer zeigt sich auch im Alltag in so positiven Dingen wie Ordnung, Verlässlichkeit und einem überschaubaren Zeitplan. Einer Person mit solchen Werten kann man Geld anvertrauen. Sie kommt auch nicht voller Stolz über die Schnäppchenjagd mit einem Wagen voller nutzloser Sonderangebote nach Hause. Und wenn sie auf Reisen geht, überlässt sie nichts dem Zufall. Es ist schön, so einen Menschen neben sich zu haben, der Wert legt auf Beständigkeit und Treue.



Aber zuweilen kann die Sehnsucht nach Dauer übermächtig werden. Dann verweigert sie jede Neuerung. Gut ist das Alte und Bewährte. Die guten Jahre waren schon. Ein beliebtes Wort lautet dann: „Früher hätte es das nicht gegeben!“ Früher waren die Kinder folgsamer, die Frauen schöner, die Männer liebevoller. Früher hat man noch geglaubt. Da war die Gemeinde noch in Ordnung. Früher hat sich Evangelisation noch gelohnt. Früher ist die Gemeinde gewachsen.



Wenn wir heute etwas erreichen wollen, dann dürfen wir nicht nach vorne schauen. Wir müssen zurückkehren zu dem, was vorher war, vielleicht sogar bis zur Zeit der Urgemeinde oder doch zumindest zu den Gründervätern und -müttern der Adventgemeinde. Geänderte Sitten und Gebräuche, neue Kleidermode und zeitgenössische Musik in der Gemeinde sind nicht willkommen, sondern verdächtig. Wenn es nach Veränderung riecht, dann wittert man sofort Abfall vom bisher Gültigen. Manchmal sind Menschen mit der Sehnsucht nach Dauer in der Gemeinde in leitenden Positionen der Verantwortung. Sie sind Gemeindeleiter oder Schatzmeister oder Abteilungsleiter oder einfach Personen, die Autorität beanspruchen. Dann gibt es Streit. Man streitet über die richtige Musik im Gottesdienst, die richtige Form der Anbetung, über Essen und Trinken und die richtige Form der Mission. In den Streitigkeiten entstehen Verletzungen und manche Gemeinde leidet sogar unter Spaltung.



Es wäre viel leichter miteinander umzugehen, wenn wir hinter mancher allzu harten und unnachgiebigen Haltung und manchem Nein zum Neuen die Angst sehen könnten, die zum Festhalten zwingt. Es ist die Angst vor dem Chaos, vor dem nicht Kontrollierbaren. Und es ist immer die Zukunft und es sind die Trends der Gegenwart, die diese Angst auslösen.



Vor der Vergangenheit braucht man keine Angst mehr zu haben. Sie ist bekannt und deshalb beherrschbar geworden. Ja, alle positiven Werte kommen aus ihr. Aber die Erscheinungen der Gegenwart und die Denkansätze der Gegenwart verheißen nichts Gutes. Das Gute aber muss festgehalten werden. Der alte Glaube darf nicht verwässert werden. Die Gemeinde darf nicht weltlich werden und ihre „Salzkraft“ verlieren. Wenn man der „vom Teufel beherrschten“ Gegenwart den kleinen Finger reicht, wird die ganze Hand ergriffen. Wenn man die Jugend nicht straff erzieht, verlottert sie. Wenn man nicht deutliche Grenzen zieht, verwischt das Bild.



Die Angst vor Kontrollverlust und vor dem Chaos führt dazu, dass wenig Vertrauen in die junge Generation herrscht. „Wenn die Jungen erst mal das Sagen haben, was wird dann?“, lautet die bange Frage. So kann die Sorge um die Zukunft und die Angst vor dem Chaos dazu führen, dass eine Person starr und unbeweglich wird, weil sie festhalten will, was zu schwinden droht. Je mehr man an ihr rüttelt, desto fester muss sie stehen, desto mehr ist sie davon überzeugt, dass sie eine wichtige Aufgabe hat: zu retten, indem sie bewahrt und verharrt.







Die Sehnsucht nach Dauer und die Angst vor dem Chaos als Gruppenphänomen





Diese Sehnsucht nach Dauer und die Angst vor dem Chaos können auch ein Gruppenphänomen sein. Wir erleben so genannte fundamentalistische Ansätze und ihre Auswirkungen gerade als Antwort auf die Offenheit der westlichen Gesellschaft. Die Traditionen und die bisher gültigen Lehrsätze als Orientierungspunkte sind hinweggespült worden. Man muss versuchen, den Auflösungserscheinungen entgegenzuwirken.



Dieses Ansinnen ist zu begrüßen, denn auch der heutige Mensch sucht zuweilen verzweifelt nach Orientierung. Das Tragische an der fundamentalistischen Antwort aber ist, dass die Lösungen nur im Rückzug auf die Vergangenheit gefunden werden. Die Methoden der Fundamentalisten stammen aus der Moderne, die man ja gerade bekämpfen will. Man will die rationalen Wissenschaften mit einer rationalen Theologie widerlegen. Vernunft steht gegen Vernunft. Wer nicht an die Schöpfung glaubt, weil er der Evolutionstheorie anhängt, dem versucht man mit vernünftigen Erklärungen die Unvernunft auszureden. Man sucht fieberhaft nach dem besseren Argument und dem Gegenbeweis.



Es ist aber längst klar, dass weder die Evolution noch die Schöpfung schlüssig beweisbar ist. Und manche Fundamentalisten vergessen, dass gerade die ernsthaften Wissenschaftler der heutigen Zeit dem Unerklärlichen längst wieder Raum gegeben haben. Man muss Gott nicht beweisen, man darf ihn bezeugen.



Fundamentalisten aber genügt die innere Überzeugung nicht. Sie brauchen eine äußere Sicherheit. Die Bibel wird deshalb bis auf den letzten Buchstaben verteidigt. Alles in ihr muss logisch sein und verstehbar. Was wir jetzt nicht verstehen, werden wir später begreifen. Es muss begreifbar sein. Deshalb muss der Text der Bibel, um zuverlässig zu sein, eher verbal inspiriert sein als personal, eher kulturbereinigt als kulturtragend, eher vom Himmel als von der Erde.



Manche Fundamentalisten lesen aus der Bibel wörtliche Handlungsanweisungen für das heutige gesellschaftliche und familiäre Leben heraus. Sie berücksichtigen nicht, dass die Verhältnisse, wie sie in der Bibel geschildert werden, auch die Folgen der Sünde und des Sündenfalls an sich tragen und nicht dem Ideal Gottes entsprechen. So wird von manchen Vertretern die patriarchalische Familienstruktur als gottgewollt verstanden. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau wird als Verrat an der göttlichen Ordnung interpretiert. Die Demokratie kann man abschaffen, denn in der Bibel finden wir keine Demokratie, auch keine Trennung von Kirche und Staat.



Manche Fundamentalisten in den USA wollen die Todesstrafe nach biblischem Vorbild einführen, sprechen sich für die Sklaverei aus und für einen Gottesstaat nach alttestamentlichem israelitischen Volksverständnis. Wenn man fragt, wofür diese Menschen eintreten, dann verstehen sie sich als Verfechter von Recht und Ordnung, von Wahrheit gegen den Irrtum.



Ein typisches Zeichen für diese Denkart ist die immer neu aufkommende Diskussion um die göttliche Trinität. Einem rationalistisch denkenden Menschen muss diese höchst verdächtig vorkommen, denn der Heilige Geist kann nicht zugleich der Geist Jesu sein und des Vaters und dann noch eine eigenständige Person. Es geht nicht, weil es aller Erfahrung widerspricht und auch der Vernunft. Der Vernunftbezug aber ist die wissenschaftliche Methode. So sieht sich der Fundamentalist als Opfer einer Tragik: Er will mit Mitteln der Vernunft zeigen, dass die anderen unvernünftig sind. Wer nur richtig denkt und hinschaut, der muss nicht nur glauben, dass es Gott gibt, sondern er kann es über jeden Zweifel hinaus wissen.



Diese Sicherheit wäre natürlich großartig, denn dann könnten wir allen anderen sagen, sie seien unaufrichtig oder dumm. Nur, ob Gott existiert, muss ich im Glauben annehmen. Die Vernunft folgt durchaus und stößt dennoch immer an ihre Grenzen. Ich will auch mit meiner Vernunft glauben, aber sie ist dem Glauben immer nachgeordnet, denn sie kann das Geheimnis Gottes nicht lüften. Der Glaube aber ist dennoch kein dümmlicher Glaube, denn er erweist sich an der Erfahrung als tragfähig und richtig.



Die Sicherheit meines Gottesglaubens kommt also nicht aus der wissenschaftlichen Diskussion, sondern daraus, dass sich Gott mir offenbart hat. Die Gewissheit der Existenz Gottes kommt aus einem „inneren Bewusstsein“, einer inneren Überzeugung.



Fundamentalisten aber müssen ihre Sicherheit in äußeren Lehrsätzen, in Verhältnissen und Rollenfestschreibungen finden. Werden diese hinterfragt oder erweisen sie sich als falsch, wie Galileo Galilei im Falle der Lehre von der Erde als Mittelpunkt des Universums nachgewiesen hat, gerät der Glaube in Gefahr. Deshalb muss mit der Forderung nach absolutem Gehorsam gearbeitet werden und die Freiheit muss abgewehrt werden, weil sie gefährlich ist. Absoluter Gehorsam aber, der nicht nach innen fragt, nach dem Sinn und der Verantwortlichkeit, hat in unserer Geschicht

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