Einführung Ernährungspsychologie

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Aus der Reihe: PsychoMed compact
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Bilanz von Diäten

Gewicht zu reduzieren, gelingt aber nicht allzu häufig. Diäten und andere Formen der Gewichtsreduktion sind langfristig selten erfolgreich. Die um Gewichtsabnahme Bemühten sind angesichts der ausbleibenden Erfolge enttäuscht und essen angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen potenziell mehr als davor. Diätversuche führen tendenziell zu allen Formen von Essstörungen, also auch zur Bulimia nervosa oder zur Anorexia nervosa (Howard/Porzelius 1999; Neumark-Sztainer et al. 2006; Liechty et al. 2013; Saunders et al. 2016).


Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht unerheblich, dass jedes dritte Mädchen bis zu einem Alter von zehn Jahren über Diäterfahrungen verfügt (Bruns-Philipps/Dreesman 2004). Neumark-Sztainer et al. (2000) ermittelten, dass mehr als 50% der Bevölkerung versuchen, ihr Gewicht zu kontrollieren: 56,7% der erwachsenen Frauen, 50,3% der erwachsenen Männer, 44% der Mädchen und 36,8% der Jungen. Bublitz (2010) gibt für die US-Bevölkerung an, dass sogar 75 % der Frauen Diätversuche hinter sich haben.

In einer anderen Studie von Schur et al. (2000) wurde ermittelt, dass 50 % junger Kinder ihr Gewicht reduzieren wollen und 16 % dies bereits versucht haben. 77 % dieser Kinder berichteten von Familienmitgliedern, die über die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten erzählt haben. Schur und Kollegen kommen deshalb zum Schluss, dass die Familie einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten und dessen Umstellung hat.

Diätversuche in Eigenregie sind allerdings zu unterscheiden von professionell durchgeführten Gewichtsabnahmeprogrammen. Diese münden in der Regel nicht in Essstörungen (Buryn/Wadden 2005). Dagegen verursacht kontrolliertes Essverhalten als alltägliches kulturelles Muster vor allem von Mädchen und jungen Frauen Essstörungen (Austin 2001).

Der eben modellhaft beschriebene Teufelskreis könnte eine Erklärung dafür liefern, warum die Anzahl adipöser Personen zunimmt. Dieser Teufelkreis könnte allerdings auch anders ausgehen. Er kann in Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa münden, also einmal in totaler Kontrolle der Essimpulse, das andere Mal in der Korrektur des übermäßigen Essens durch z. B. selbst induziertes Erbrechen. Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse, nämlich die Setzung des Idealgewichts, dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung der Adipositas und der Bulimia nervosa deutlich zugenommen hat.


Mit empirischen Studien kann diese Überlegung gut unterfüttert werden. Tiggeman und Slater (2004) führten 84 Frauen entweder Videoclips zu Popmusik mit dünnen Frauen vor oder Clips ohne diese. Bei der Gruppe, die die Clips mit dünnen attraktiven Frauen ansah, erhöhte sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die Frauen in dieser Gruppe begannen verstärkt, ihren Körper mit denen anderer Frauen zu vergleichen. Um diesen Effekt zu erreichen, reichte es aus, sechs Clips in der Länge von 15 Minuten anzuschauen. Die mediale Präsentation führt also zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Es ist anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit teilweise mit Diätbemühungen beantwortet wird. Und dann ist der genannte Teufelskreis begonnen.

In einer Meta-Analyse bewerteten Groez et al. (2002) 25 experimentelle Studien, die den Einfluss medial vermittelter schlanker Körper auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild untersuchten. Ergebnis war, dass das Darbieten schlanker Körper zu einer Zunahme der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führte (Quigg/Want 2011; Mulgrew et al. 2014; Rustemeier et al. 2015; Mannat et al. 2016; Naumann et al. 2016).

1.6 Soziale Lage und Gesundheit

Bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheit stimmen bestimmte Vorurteile nicht: Arbeitslose hätten ein entspanntes und gutes Leben, müssten nichts tun, lägen auf der faulen Haut und feierten. Wer arbeitslos ist oder von Sozialhilfe lebt, hat eine höhere Anfälligkeit für Erkrankungen zahlreicher Art. Zudem ist die Lebenserwartung verkürzt (Prahl/Setzwein 1999; Mielck 2000). Dies lässt sich allgemeiner fassen: Wer nicht viel verdient, wer keinen hohen Bildungsabschluss hat, ist kränker und stirbt früher. Das ist seit vielen Jahren bekannt (Novak 1980; Siegrist 1995).


In einer schwedischen Studie konnten Gerdtham und Johannesson (2000) zeigen, dass junge Männer mit dem niedrigsten Einkommen eine Reduktion der Lebenserwartung um 4,1 Jahre haben, die ältesten in derselben Einkommensgruppe immerhin noch eine Verringerung um 2,1 Jahre. Bei den Frauen ist es ähnlich.

Besonders beunruhigend ist, dass sich bereits aus einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Kindheit eine erhöhte Mortalitätsrate im Erwachsenenalter voraussagen lässt (Claussen et al. 2003).

Arbeit und Gesundheit

Niedriger sozioökonomischer Status ist häufig verbunden mit schlechten Arbeitsbedingungen. Gerade bei der Koronaren Herzkrankheit scheint es sich so zu verhalten, dass schlechte Arbeitsbedingungen deren Anstieg begünstigen (Marmot et al. 1997). Das Vorurteil, Personen in beruflich höheren Positionen stürben eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist also nicht gültig. Jedenfalls heute nicht mehr, vor 50 Jahren war es kein Vorurteil.

Diese Tendenz, dass sozialer Status, Arbeitsbedingungen und Gesundheit miteinander positiv korrelieren, gilt selbst noch unter den Wohlhabenden und Gebildeten: Der Chefarzt lebt im Durchschnitt länger als der Oberarzt (Syme 1991). Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass der Chefarzt mehr Entscheidungsspielräume hat als der Oberarzt. Doch der Unterschied zwischen der Lebenserwartung des Chef- und Oberarztes in einer Industrienation ist relativ klein – angesichts eines Blicks auf die gesamte Erde: Weltweit gibt es Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den Nationen von 48 Jahren. Und innerhalb eines Landes wie der USA differiert die durchschnittliche Lebenserwartung je nach sozialer Schichtzugehörigkeit um 20 Jahre (Marmot 2005). In Deutschland ist diese Differenz viel geringer, sie ist dennoch nach wie vor da (BZgA 2013; Lampert et al. 2013).

1.7 Soziale Lage und Ernährung

Lebensstil

Die Ernährungsweise ist Teil eines bestimmten Lebensstils und nicht abzukoppeln von anderen Merkmalen dieses Lebensstils oder eines bestimmten sozialen Status. Andere Merkmale wären nach Prahl und Setzwein (1999): Arbeits- und Wohnverhältnisse, Inanspruchnahme von Expertenhilfe, Risikoverhalten und Drogenkonsum. Was das Ernährungsverhalten betrifft, resümieren die eben genannten Autoren, dass sich die unteren sozialen Schichten hinsichtlich dessen, was heute als gesunde Kost definiert wird, schlechter ernähren als die oberen sozialen Schichten. Die oberen sozialen Schichten essen

abwechslungsreicher,

mehr proteinreiche Produkte wie Milch und Joghurt,

viel Obst,

und sie achten mehr auf ihr Gewicht.

In den unteren Schichten isst man eher

Butter,

Zucker,

Weißbrot,

Fleisch,

 

Wurstwaren.


In einer Überblicksstudie, die sich auf den Konsum von Obst und Gemüse in Europa bezieht, kommen Roos et al. (2000) zu folgendem Schluss: Es gibt eine zentrale Tendenz, wonach mit steigendem Bildungsniveau auch der Verbrauch von Obst und Gemüse ansteigt. Leonhäuser und Lehmkühler (2002) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: In armen Haushalten wird wenig Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse verzehrt. Lawrence et al. (2009) machen darauf aufmerksam, dass sich schwangere Frauen mit einem geringeren sozioökonomischen Status ungesünder ernähren als die mit einem höheren.

Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet nicht nur, weniger Handlungsspielräume beim Einkaufen zu haben, es ist auch verbunden mit geringen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Nahrungszubereitung und mit geringem Wissen über gesunde Ernährung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in armen Haushalten Gesundheit als Wert und Ziel nicht an der ersten Stelle der Wert- und Zielhierarchie steht (Lehmkühler 2002).

materielle vs. soziale Armut

Prahl und Setzwein (1999) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut: „Materiell“ bedeutet, dass man tatsächlich nicht genug zum Essen hat. „Sozial“ soll veranschaulichen, dass zwar genug Geld da ist, um sich nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten hinreichend gut zu versorgen, dass aber bestimmte kulturelle Standards nicht eingehalten werden können. Man kann es sich z.B. nicht leisten, essen zu gehen. Man kann keine Einladungen aussprechen.


Robertson (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht kleiner wird, sondern die soziale Ungleichheit zunimmt. In ganz Europa können sich Menschen mit geringem Einkommen nicht (mehr) gesund ernähren. Dies gilt vor allem für Kinder, Jugendliche, schwangere und stillende Frauen sowie für ältere Menschen. Soziale Ungleichheit zeigt sich auch im Vergleich europäischer Länder: Der prozentuale Anteil des verfügbaren Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird, liegt in Rumänien bei 60 %, in Polen bei 40 %. In der EU verbraucht man dagegen im Durchschnitt nur 22 % für Lebensmittel. Aber auch in den reichen EU-Ländern wird die Kluft zwischen arm und reich größer, so etwa in Großbritannien.

Tab. 1.1: Gesunde Ernährung in armen Haushalten (Köhler/Feichtinger 1998, zit. nach Leonhäuser/Lehmkühler 2002, 23)


DimensionenFunktionenProbleme in Armutssituationen
physiologischVersorgung mit Energie und NährstoffenBeeinträchtigungen der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit
sozialsoziale Organisation, Integration und Abgrenzung, soziale Sicherheit, KommunikationBeeinträchtigungen sozialer Beziehungen (z. B. wenn Einladungen nicht erwidert werden können)
kulturellnormative Wertsysteme, Ernährungssitten und -gebräuche, Essbarkeit, GeschmackAbweichung von gesellschaftlich akzeptierten Ernährungsweisen (z. B. Braten statt Hackfleisch als „unangebrachter Luxus“)
psychischGenuss, emotionale Sicherheit, Kompensation, SelbstwertgefühlVerlust von Selbstbestätigung, überkompensierende bis bizarre Bewältigungsstrategien (z. B. „Leistungshungern“ oder Hamstern)
Begleitdimension
ökonomischfür Ernährung verfügbares Einkommen als ökonomische und soziokulturelle ZugangsberechtigungBeeinträchtigung des Marktzugangs, der Teilhabe am Konsum, der Nahrungsversorgung
zeitlichAuswirkung von Häufigkeit und Dauer bestimmter Ernährungssituationen im Zeitverlaufgesundheitliche und psychosoziale Spätfolgen (z. B. lebenslange Sensitivität gegen Nahrungsbeschränkung)

Dass sich an dem Zusammenhang zwischen sozialer Lebenslage und Ernährung wenig geändert hat, macht der „12. Ernährungsbericht“ der DGE (2012) deutlich (vgl. auch Mensink et al. 2013).

1.8 Sozialisation und Ernährungsverhalten


Hurrelmann (2002, 15f) gibt eine umfassende Definition der Sozialisation: „Sozialisation bezeichnet [. . .] den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden.“

Wichtig in dieser Definition ist der Umstand, dass Sozialisation nicht auf Anpassung an Realität reduziert wird. Sozialisation ist lebenslängliche aktive Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt. In diesem Abschnitt soll nun weniger der aktiven Auseinandersetzung nachgegangen werden, sondern ihrem Gegenteil: dem prägenden Einfluss der Sozialisation auf das Ernährungsverhalten.

Kinder entwickeln sich zu gesünderen Menschen, wenn sie unter förderlichen Bedingungen aufgewachsen sind, wenn der sozioökonomische Status der Eltern relativ hoch ist und wenn hinreichend emotionale Zuwendung vorhanden ist (Siegrist 2003; Fiesea et al. 2012; Andersona 2012).


Auch die Ernährung ist von entscheidender Bedeutung. Und Ernährung ist mehr als biologische Nahrungsaufnahme. „Food is an interaction not an object.“ (Eagleton, zit. n. Belton 2003, 2) Um etwas die Schärfe aus diesem Zitat herauszunehmen: Nahrungsaufnahme ist eingebettet in Interaktion, sie ist untrennbar verbunden mit Interaktion. Die kleinen Kinder essen das, was ihre Eltern essen. Sie mögen die Lebensmittel, die die Eltern besonders gerne konsumieren.

ungesunde Esskultur

Mielck (2000) nimmt an, dass die Kinder aus den unteren Schichten die ungesunde Ernährungsweise ihrer Eltern regelrecht lernen. Kinder reproduzieren die Esskultur, die ihnen die Eltern vorleben. Wenn die Mahlzeiten stumm vor dem Fernseher eingenommen werden, dann kopieren die Kinder diese Verhaltensweisen. Mit zunehmendem Alter schwinden die elterlichen Einflüsse, das Ernährungsverhalten wird dann z. B. auch durch gleichaltrige Jugendliche bestimmt. Aber im Sinne des Klassikers von Bourdieu (1987) ist anzunehmen, dass es zwar möglich ist, die Einflüsse der Eltern zu reduzieren, dass es aber prinzipiell sehr schwer ist, dem spezifischen Lebensstil der sozialen Schicht, der man entstammt, zu entkommen.

Der Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährung lässt sich bezüglich der Adipositas so knapp umreißen: Kinder, die in nicht intakten Familien aufwachsen, haben ein siebenfach erhöhtes Risiko, eine Adipositas zu bekommen (Petermann/Häring 2003).


Zum Zusammenhang zwischen Sozialisation und Ernährungsverhalten wurden zahlreiche Studien durchgeführt. Einige sollen nun vorgestellt werden.

Hays et al. (2001) haben eine Feldforschungsstudie an mexikanischamerikanischen Müttern durchgeführt, um herauszufinden, welche sozialisatorischen Einflüsse Mütter auf das Ernährungswissen und Essverhalten von Kindern haben können. Sie ermittelten, dass ein nicht direktiver, erklärender und partizipatorischer Erziehungsstil der Mütter das Ernährungswissen der Kinder verbessert.

Patrick et al. (2005) stellten fest, dass ein bestimmter und entschlossener Erziehungsstil positiven Einfluss auf den Konsum von Früchten und Gemüse bei Kindern hat. Dagegen erzielt ein unterwerfender, Gehorsam verlangender Erziehungsstil diesbezüglich negative Effekte.

Erziehungsstil

Die Befunde von Hays et al. (2001) und Patrick et al. (2005) lassen sich dahingehend bündeln, dass weder Gleichgültigkeit noch autoritärer Erziehungsstil zu gesundem Ernährungsverhalten der Kinder führen. Vielmehr scheinen sich Kinder dann gesund zu ernähren, wenn sie ein entschlossenes Anliegen der Eltern spüren, ohne sich allerdings diesem Anliegen blind unterwerfen zu müssen. Entscheidend ist auch, dass gesunde Ernährung nicht zum Dogma erhoben wird.


Weitere Studien zum Zusammenhang von Sozialisation und Ernährungsverhalten belegen Folgendes:

Roos et al. (2001) konnten einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau in Haushalten und dem Konsum von rohem Gemüse ermitteln: Je höher das Bildungsniveau, umso höher war auch der Konsum von rohem Gemüse. Die Schulleistungen hatten ebenfalls einen starken Einfluss auf diesen Konsum. Wer gute Schulleistungen hatte, aß viel Gemüse.

In einer Längsschnittstudie untersuchten Lake et al. (2004), wie sich Personen ihr verändertes Essverhalten im Zeitraum von der Jugend bis zum Erwachsenenalter erklären. Die Veränderungen wurden zugeschrieben dem Einfluss der Eltern, des Partners, der Kinder, dem Ernährungsbewusstsein, der Beschäftigung und dem Mangel an Zeit. Der Einfluss der Eltern wurde sowohl als positiver als auch als negativer, dem man entkommen muss, erlebt. Für Männer, die eine Partnerschaft eingingen, war der Einfluss der Partnerin auf das Essen tendenziell ein positiver.

Hannon et al. (2003) ermittelten, dass die Person, die in einem Haushalt das Essen zubereitet, sehr großen Einfluss auf das Essverhalten des Ehepartners und der Kinder hat. Nimmt diese Person viel Gemüse und Obst zu sich, so tun dies auch der Partner und die Kinder. Isst diese Person viel Fett, so essen auch Partner und Kinder viel Fett. Verstärkt wird dieser Einfluss, wenn viele Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden.

Nicklaus et al. (2005) schreiben der Kindheit einen wesentlichen Einfluss auf das spätere Essverhalten zu. In einer prospektiven Studie verfolgten sie die Entwicklung kleiner Kinder bis in das junge Erwachsenenalter. Wer als zwei- bis dreijähriges Kind eine freie Auswahl von Lebensmitteln treffen durfte, ernährte sich als Jugendlicher oder als junger Erwachsener abwechslungsreich und damit gesund.

 

1.9 Soziologische Modelle der Ernährung

Eigensinn der Disziplinen

Es liegt in der Eigenart vermutlich jeglicher wissenschaftlicher Disziplin, einen bestimmten Forschungsgegenstand für die eigene Disziplin zu reklamieren. Für die Medizin oder die Oecotrophologie ist die Nahrungsaufnahme überwiegend ein körperlicher Vorgang. Die Psychologie möchte geltend machen, dass psychische Variablen eine entscheidende Rolle spielen können. Die Soziologie will die sozialen Dimensionen der Ernährung herausstellen. Sie wendet sich gegen Modelle, die entweder soziale Merkmale gar nicht berücksichtigen oder – wie das von ihr angeprangerte biokulturelle Modell – die sozialen und kulturellen Aspekte der Ernährung nur als Verlängerung oder soziale Transformation körperlicher Vorgänge begreifen (Barlösius 2011). Würde z. B. in allen menschlichen Kulturen morgens, mittags und abends nur Kuchen gegessen werden, dann würden die Vertreter des biokulturellen Modells behaupten, dass der Körper des Menschen mit ausschließlichem Kuchenkonsum ernährungsphysiologisch am besten versorgt sei.


Barlösius (2011; u. a. im Anschluss an Eder 1988, 103ff) unterscheidet unter Ausschließung des biokulturellen Ansatzes folgende soziologische Modelle. Alle versuchen zu erklären, warum in bestimmten Gesellschaften Nahrungstabus bestehen:

Das rationalistische Modell: Repräsentant hierfür ist Harris (1988). Harris geht davon aus, dass sich für jedes Nahrungstabu rationale Gründe finden lassen: Tabus garantieren das nutritive Überleben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft.

Diesem Ansatz gegenüber steht das funktionalistische Modell, das Nahrungstabus auf die Stabilisierung einer bestehenden Ordnung zurückführt. Mit Nahrungstabus stärkt eine Gesellschaft ihre eigene Identität und grenzt sich von anderen Gesellschaften ab. Das funktionalistische Modell geht also davon aus, dass Tabus auf mehr fußen als nur auf einer rationalen Ökonomie. Tabus können eine Gesellschaft zusammenhalten.

Das strukturalistische Modell setzt die Kultur vor die Natur. Denn die Natur muss zuerst symbolisch konstituiert werden, um sie begreifen zu können. Die Natur erschließt sich entsprechend dieses Modells nicht unmittelbar. Sie bedarf der Sprache, um zugänglich zu werden. Eine dieser Sprachen ist die Küche. Die Küche dient nach Lévi-Strauss (1976) zusätzlich dazu, die menschlichen Grundkategorien Natur und Kultur zu vermitteln. Der strukturalistische Ansatz untersucht außerdem die Küche, um herauszufinden, welche kognitive Ordnung eine Gesellschaft sich gibt. Der Strukturalismus sucht wie ein Detektiv in der Küche die Logik einer Gemeinschaft.

Das Modell des Paradoxes der doppelten Zugehörigkeit: Der Mensch als Allesesser kann sich frei entscheiden, was er essen will. Das ist seine kulturelle Freiheit. Tiere könnten hingegen in der Regel nicht frei entscheiden, was sie essen wollen. Ihnen geben die Instinkte vor, was sie an Nahrung zu sich nehmen können. Menschen in ihrer kulturellen Freiheit könnten allerdings die Natur nicht vergessen. Würde sich ein Mensch nur von Kuchen ernähren, was seine Freiheit beinhaltet, würde er sich massiv mangelernähren. Die Natur fordert also ihre Rechte. Deshalb befindet sich der Mensch im Widerspruch oder Paradox zwischen Freiheit und Zwang.

unterschiedliche Interpretationen

Die von Barlösius angebotenen soziologischen Modelle der Ernährung widersprechen sich offenkundig. Es ist zu vermuten, dass die Diskussion nicht mit der Aussage beendet werden kann: Das eine Modell ist richtig, das andere Modell ist falsch. Vielmehr bleiben sie Interpretationsfolien oder Perspektiven, die je nach konkretem Forschungsgegenstand brauchbarer oder unbrauchbarer sind. Möglicherweise lassen sie sich auch parallel gebrauchen: Wenn die Kuh in Indien nicht geschlachtet werden darf, so mag dies im Sinne von Harris rationale Gründe haben, dieses Tabu kann im Sinne des funktionalistischen Modells auch identitätsstiftend sein.

1.10 Zusammenfassung des ersten Kapitels

Nicht nur physiologische Prozesse regulieren die Nahrungsaufnahme. Es reicht aber auch nicht aus, den physiologischen Steuerungen nur psychische Variablen hinzuzufügen. Vielmehr beeinflussen gesellschaftlich-kulturelle und soziale Faktoren das Essverhalten erheblich. Dies sollte in diesem Kapitel veranschaulicht werden. Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten des Essverhaltens sind dem Bewusstsein wenig zugänglich, da sie wie selbstverständlich existieren. So muss erst gründlich reflektiert werden, dass die derzeitige Versorgung mit Lebensmitteln in Anbetracht der Menschheitsgeschichte einem Paradies gleichkommt.

Auch der Streit am Mittagstisch, ob eine Fleischbeigabe überhaupt notwendig ist, hat historische Wurzeln. Am Mittagstisch treffen so die „barbarische“ Tradition (möglichst viel Fleisch essen) mit dem römisch-christlichen Erbe eventuell konflikthaft aufeinander. Ebenfalls kulturell überformt ist die Lebensmittelpräferenz. In unseren Breitengraden essen wir nicht gerne Heuschrecken, und wir verspeisen auch keine süßen kleinen Katzen.

Dass Lebensmittel nicht nur Mittel zum Zweck sind, um zu überleben, belegt die Nutzung von Speisen, um sich von anderen zu unterscheiden. Nahrungsaufnahme ist ein Mittel der sozialen Distinktion. Die Geschichte lehrt, dass Essen oder bestimmte Lebensmittel häufig dafür eingesetzt wurden, um Macht und Reichtum zu demonstrieren. Auch heute noch lässt sich am Verzehr bestimmter Lebensmittel der soziale Status ablesen. Mit finanziellen Mitteln aus Harz IV lassen sich Hummer und Trüffel schwerlich bezahlen.

Nicht einmal Essstörungen sind frei von historischen und kulturellen Einflüssen. In einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit gilt Wohlbeleibtheit als Ausdruck von Macht und Ansehen. In einer anderen Kultur in anderen Zeiten ist sie als Krankheit etikettiert und verpönt.

Im Alltagsbewusstsein ist es nicht deutlich verankert, wie stark soziale Faktoren die Gesundheit und die Nahrungsaufnahme beeinflussen. Wer eine gute Ausbildung, ein gutes finanzielles Auskommen und einen interessanten Beruf hat, ist deutlich gesünder und lebt länger. Die Kluft zwischen arm und reich wird derzeit nicht kleiner, sondern größer. Die Qualität der Herkunftsfamilie und der elterliche Erziehungsstil spielen eine beträchtliche Rolle bei der Herausbildung von gesunder oder ungesunder Ernährungsweise. Was und wie gegessen wird, ist nicht nur individuelle Wahl oder reiner Zufall. Vielmehr repräsentieren und konstruieren die Art der Nahrungsaufnahme und die Küche eine soziale Ordnung.

1.11 Fragen zum ersten Kapitel

Überprüfen Sie Ihr Wissen!


1. Welche historischen Traditionen bestimmen die heutige Nahrungsaufnahme?

2. Welche Theorien bietet die Soziologie an, um Lebensmittelpräferenzen zu erklären?

3. Was bedeutet der Begriff der sozialen Distinktion?

4. Wie beeinflusst die Sozialisation das Essverhalten?

5. Wie werden die Definition und die Verbreitung von Essstörungen durch gesellschaftliche Einflüsse mitbestimmt?