Einführung Ernährungspsychologie

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Aus der Reihe: PsychoMed compact #1
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● Sind Sie durch die Vorlesung unterfordert?

Die Auswertung ergibt, dass keine andere Vorlesung um 8.30 Uhr stattfindet. Sie lässt aber erkennen, dass sich die Studierenden so stark unterfordert fühlen, dass sie nach 30 Minuten den Eindruck haben, den gesamten Vorlesungsstoff bereits intus zu haben. Allerdings klärt dieses Item keineswegs die gesamte Varianz auf. Es müssen also andere, nicht erhobene Variablen eine erhebliche Rolle spielen.

Der Dozent könnte allerdings, um dieses Phänomen zu verstehen, mit einigen der Studierenden Interviews durchführen. Die Eröffnungsfrage könnte lauten: „Was veranlasst Sie, nach 30 Minuten den Hörsaal zu verlassen?“ Einer der Studierenden könnte dann sagen: „Ich bin einer der wenigen, die bleiben. Bei mir zu Hause ist die Heizung so schlecht, dass ich es im Hörsaal kuschelig warm finde.“ Eine andere Studierende könnte auf die Frage antworten: „Ich komme nie aus den Federn raus, eile ohne Frühstück zur Vorlesung, brauche dann, um nicht umzufallen, dringend einen Kaffee, den ich dann mit den Freundinnen in der Cafeteria einnehme. Wir nehmen uns zwar vor, wieder zurückzukommen, aber es ist uns dann peinlich, im Hörsaal wieder aufzutauchen.“ Ein anderer Student teilt dem Dozenten im Interview mit, dass er um 9.00 Uhr seinen Job in der Bibliothek antreten muss. Nun muss sich der Dozent überlegen, ob er diesem Studenten glauben soll oder ob er zu höflich ist, ihm zu sagen, wie sehr er sich langweilt. In zwei weiteren Interviews wird ersichtlich, dass sich die Studierenden tatsächlich unterfordert fühlen und dass der Dozent alles Wesentliche in den ersten 20 Minuten vorstellt.

Im Prozess des Verstehens wird deutlich, dass es zwar Tendenzen gibt, die für viele Studierenden gelten (sich unterfordert fühlen), dass aber eigentlich jeder noch völlig unterschiedliche Beweggründe hat, die Vorlesung ab 8.30 Uhr zu verlassen. Im Verstehen sollen die individuellen und spezifischen Muster der Motive, in der Vorlesung nicht 90 Minuten zu bleiben, erkundet werden. Der wesentliche Nachteil des Verstehens gegenüber dem Erklären ist, dass allgemeine Aussagen für eine bestimmte Population nicht getroffen werden können. Es lassen sich mit dem Verstehen nur Tendenzen ermitteln.


Abb. 3.3: Der neurotische Konflikt im Strukturmodell der Psyche

Neurose

Neurosen basieren nach Freud auf einem derzeit unlösbaren unbewussten intrapsychischen Konflikt. Im Inneren eines Menschen gibt es unbewusste widerstreitende Strebungen, die nicht vereinbar sind. Dies lässt sich am besten über das Strukturmodell der Psyche veranschaulichen, das Freud als Arbeitshypothese entwickelt hat. Das Strukturmodell besteht aus drei Teilen: dem Es, Ich und Über-Ich (s. Abb. 3.3).

Es, Ich und Über-Ich

Das Es besteht aus Triebrepräsentanzen und dem aus dem Bewusstsein Verdrängten. Triebrepräsentanzen meint, dass körperliche Triebe auch in der Seele repräsentiert sind. Verdrängt wird das, was für das Ich und das Über-Ich nicht akzeptabel ist, z. B. kannibalistische oder Inzest-Wünsche. Das Es richtet sich nicht nach der Vernunft. Es drängt darauf, dass seine Triebe sofort befriedigt werden.

Das Ich ist diejenige Instanz, die dies verhindern muss, wenn die Triebbefriedigung entweder gegen gesellschaftliche Normen verstößt oder wenn sie mit der aktuellen Situation nicht vereinbar ist.


Wenn ein Studierender während der Vorlesung sehr starken Hunger hat und am liebsten einen Wildschweinbraten gierig verzehren würde, dann verhindert das Ich diese Triebbefriedigung. Der Rahmen einer Vorlesung gestattet dies nicht.

Das Ich reguliert also, welche Triebbefriedigung wann in welchem Umfang stattfinden kann. Das Ich berücksichtigt die derzeitigen Anforderungen der Realität. Das Ich muss aber auch den Forderungen des Über-Ichs Genüge leisten.

Das Über-Ich besteht aus Normen und moralischen Vorstellungen, die eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt hat. Unannehmbare Impulse müssen abgewehrt, sie dürfen nicht bewusst werden. Hieraus konnte zu Freuds Zeit eine Hysterie entstehen.

Konflikt der Instanzen

Zwischen den drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich können Konflikte entstehen. Die Impulse aus dem Es sind keineswegs durchgängig vom Ich akzeptierbar. Das Ich kann auch nicht akzeptieren, dass das Es jetzt und sofort auf Triebbefriedigung aus ist. Schließlich muss das Ich prüfen, ob die Realität die Triebbefriedigung jetzt zulässt. Vom Über-Ich werden einige Triebimpulse erst gar nicht toleriert. Das Über-Ich straft das Ich, wenn es zu tolerant gegenüber dem Es ist. Ein rigides Über-Ich kann so einschränkend sein, dass es dem Ich nur minimale Triebbefriedigung zugesteht. Das Ich kann sich im geschwächten Zustand entweder gegen die Über-Ich-Gebote nicht zur Wehr setzen. Es hat dann keinen Handlungsspielraum. Oder das Ich kann sich des Es nicht erwehren. Das Ich wird dann von Es-Impulsen überschwemmt. Ist der Konflikt zwischen den drei Instanzen nicht lösbar, entstehen neurotische Symptome (s. Abb. 3.3).


Ein Beispiel zu einem neurotischen Konflikt: Eine Person wünscht sich einerseits, von einem anderen Menschen in hohem Maße versorgt zu werden, andererseits besteht eine große Angst davor. Versorgtwerden geht nämlich mit Abhängigkeit einher. Und Abhängigkeit erscheint gefährlich. Diese Person in diesem Zwiespalt wird auf Versorgtwerden durch eine andere Person verzichten. Stattdessen wird sie sich dem Kühlschrank zuwenden und übermäßig essen. Das neurotische Symptom wäre in dem Falle Adipositas. Warum ist der Kühlschrank weniger bedrohlich als ein anderer Mensch? Der Kühlschrank ist kontrollierbarer. Warum besteht Angst vor Abhängigkeit? Dies kann die unterschiedlichsten Gründe haben. Einige werden jetzt im Folgenden kurz ausgeführt:

● Drohender Verlust einer wichtigen anderen Person (Objektverlust): Wer von einem anderen abhängig ist, kann die Angst verspüren, diesen wichtigen anderen zu verlieren. Das könnte als sehr schmerzvoll antizipiert werden. Es könnte auch eine Fantasie im Raum stehen, diesen Verlust selbst nicht zu überleben. Hintergrund könnte ein tatsächlich erlebter Objektverlust bilden.

● Schwäche enthüllt sich in Nähe: Einigen gelingt es in der Distanz, die eigenen Schwächen zu verhüllen. In der Nähe ist es sehr viel schwieriger, die Fassade der Stärke aufrechtzuerhalten. Deshalb wird Nähe gemieden. Aber wer Nähe meidet, kann sich auch nicht versorgen lassen. Diese Personen brauchen die Distanz, weil sie es nicht ertragen, dass andere sie schwach sehen.

● Der potenziell übergriffige, allmächtige andere: Wer sich in Abhängigkeit begibt, gewährt der Person, von der man abhängig ist, vielleicht zu viele Zugangsrechte. Vielleicht nutzt der andere die Abhängigkeit aus, um übergriffig zu werden, um zu manipulieren.

● Das fehlende Nein: Wer sich in Abhängigkeit begibt, kann dies nur tun, wenn er auch in der Lage ist, Grenzen zu ziehen und „Nein“ zu sagen. Man muss auch im Nahbereich Steuerungsmöglichkeiten haben. Wenn dies nicht möglich ist, wird Abhängigkeit zu einer bedrohlichen Größe.

Angst vor Abhängigkeit wäre nur eine Möglichkeit, warum eine Person adipös wird. Es gibt auch andere neurotische Konstellationen, die zur Adipositas führen. Und man muss keineswegs neurotisch sein, um adipös zu werden. Einige werden adipös, weil sie z. B. einfach Genießer sind. Wenn eine Person aufgrund einer Neurose adipös wird, dann ist stets davon auszugehen, dass die Adipositas die derzeit beste Lösung eines bestehenden inneren Konflikts darstellt. Dieser Person stehen keine besseren Lösungen zur Verfügung.

Hilde Bruch

Aber das wäre nur eine psychoanalytische Erklärung für die Entstehung von Adipositas. Hilde Bruch, eine sehr einflussreiche Psychoanalytikerin und Forscherin im Bereich der Essstörungen, entwickelte ein ganz anderes Modell als Freud. Dieses Modell hat viele Forschende, die Laborexperimente hinsichtlich gestörten Essverhaltens durchführten, inspiriert. Ging Freud davon aus, dass neurotische Symptome stets eine Bedeutung haben, also etwas symbolisieren, so schloss dies Bruch zwar nicht vollständig aus. Sie betonte aber eher eine gestörte Mutter-Kind-Interaktion als Ursache aller Formen von Essstörungen: Wenn die Mutter nicht lernt, die unterschiedlichen Unmutsäußerungen des Kindes zu differenzieren (nasse Windel, Magenkrämpfe, tatsächlich Hunger) und wenn die Mutter alle Unmutsäußerungen des Kindes als Hunger interpretiert und die Flasche reicht, dann wird das Kind ebenfalls nicht imstande sein, seine eigenen inneren Reize differenzieren zu lernen. Die Folge davon wird sein, dass das Kind auch noch als Erwachsener alle inneren Reize mit Nahrungsaufnahme beantworten wird.


Die Psychoanalyse bietet noch weitere Interpretationen zur Entstehung von Adipositas an. Den Begründer des Kritischen Rationalismus, Popper, dem einflussreichsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts (s. Kap. 7), würde es bei diesen unterschiedlichen Interpretationen schaudern. Er würde fordern, dass entweder die eine oder die andere Theorie richtig ist. Die Psychoanalyse würde entgegnen, dass bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Theorien mal mehr oder mal weniger brauchbar sind. Sie würde sogar sagen, dass verschiedene Interpretationen bei einer Person zugleich brauchbar sind. Die Interpretationen wären dann unterschiedliche Betrachtungsweisen.

 

3.2.2 Die Triebtheorie

Um die Bandbreite der unterschiedlichen psychoanalytischen Interpretationen zur Entstehung von Adipositas darzustellen, soll jetzt noch der triebtheoretische Ansatz skizziert werden. Die meisten Psychoanalytiker argumentieren heute nicht mehr primär triebtheoretisch. Sie argumentieren stärker mit Weiterent-wicklungen der Psychoanalyse. Dennoch ist die Triebtheorie in einem Buch zur Ernährungspsychologie unverzichtbar. Das liegt daran, dass sie zum Verständnis von gestörtem Essverhalten nach wie vor hohe Relevanz besitzt. Zudem prägt die Freud’sche Triebtheorie unsere Alltagsvorstellungen in hohem Maße. Deshalb ist es wichtig, die Grundzüge der Triebtheorie hier vorzustellen.


Wir sprechen z. B. von Ersatzbefriedigung und damit natürlich von einem Versatzstück der Psychoanalyse. Oder: Shakira, einer der bekanntesten Popstars, nennt ein Album „Oral-Fixierung“ und entleiht diesen Begriff explizit der Psychoanalyse (Der Spiegel, 23.05.2005, 161).

Triebdualismus

Freud ging beim Menschen von einem Triebdualismus aus. Es gab also für Freud zwei wichtige Triebe. In einer früheren Fassung waren das: Selbsterhaltungstrieb und Sexualtrieb. Später korrigierte er sich und konzipierte das Paar: Liebes- und Todestrieb. Der Liebestrieb baut Verbindungen auf, der Todestrieb löst sie auf. Demnach geht Freud davon aus, dass der Mensch von Natur aus sowohl gute als auch böse Impulse besitzt.

psychosexuelle Phasen

Freud postuliert, dass jedes Kleinkind bestimmte psychosexuelle Phasen durchläuft, in denen jeweils spezifische Körperregionen für das Kind besonders lusterzeugend sind. Freud nannte diese Regionen erogene Zonen. Diese Regionen müssen erogen besetzt sein, damit das Kind überlebt. Wenn der Säugling beispielsweise beim Gestilltwerden keine Lust empfindet, wird er große Schwierigkeiten haben zu überleben. Die Phasen werden abgeschlossen mit Frustrationen. Die Mutter entzieht nach einer bestimmten Zeit dem Säugling die Brust. Das ist für das Kind zwar massiv enttäuschend, aber nur über die Frustration wird das Kind allmählich selbstständig. Würde die Mutter dem Kind ein Leben lang die Brust geben, würde dieser Mensch lebenslänglich unselbstständig bleiben. So oszilliert das Leben eines Kindes zwischen Lust und Frustration. Im Folgenden sollen die ersten drei Phasen aus dem Freud’schen Modell kurz umrissen werden.

Orale Phase: In der oralen Phase ist der Mund die zentrale erogene Zone. Befriedigung erfährt das Kind durch das Gestillt- oder Gefüttertwerden. Die Nahrungsaufnahme ist für das Kleinkind untrennbar verbunden mit der Befriedigung anderer Bedürfnisse: Zuwendung, Aufmerksamkeit, Wärme und Sicherheit. Die Nahrungsaufnahme lässt sich also nicht trennen von elementaren emotionalen Erfahrungen. Deshalb ist Nahrungsaufnahme mehr als Physiologie. Ein Leben lang ist die Nahrungsaufnahme mit geprägt von den ursprünglichen kleinkindlichen Erfahrungen. Deshalb verwenden wir in Liebesangelegenheiten gerne Metaphern, die mit Nahrungsaufnahme zu tun haben. Die Freundin ist dann eine Schnecke oder ein Törtchen. Der Freund ist ein Süßer.

Stillen

Im Akt des Stillens gibt es einen engen körperlichen Kontakt zur Mutter. Ist die Mutter entspannt und hat sie überwiegend positive Gefühle gegenüber dem Kind, dann sind Wohlbefinden und Nahrungsaufnahme für das Kind synonym. Umgekehrt kann eine unruhige und angespannte oder auch feindselige Mutter dazu führen, dass Nahrungsaufnahme für das Kind sehr zwiespältig bleibt. Die Entstehung von Essstörungen kann so begünstigt werden.

der vergessene Vater

Bei Überlegungen zur Entstehung von Essstörungen wird häufig nur auf die Mutter-Kind-Interaktion fokussiert. Der Vater oder eine andere dritte wichtige Person werden nicht berücksichtigt. Vielleicht ist die Mutter nur deshalb so angespannt beim Stillen, weil sie sich vom Vater allein gelassen fühlt. Vielleicht ist der Vater nicht hinreichend vorhanden, weder für die Mutter noch für das Kind.

frühe Autonomie

Anale Phase: Die anale Phase ist gekennzeichnet von der lustvollen Besetzung des Ausscheidens oder des Zurückhaltens der Exkremente. Das Kleinkind erlebt, wie lustvoll die Steuerung körperlicher Vorgänge sein kann. Es erlebt frühe Formen der Autonomie. Es vermag, Kontrolle auszuüben.

Die anale Phase ist nicht nur gekennzeichnet durch das Steuern körperlicher Vorgänge. Dem Kind wird auch bewusster, was es heißt, andere zu steuern – z. B. die Eltern. Es wirft sich in dieser Phase im Supermarkt auf den Boden, schreit so markerschütternd, dass die Besucher des Supermarkts die Mutter oder den Vater der Folterung des Kindes verdächtigen. Es spürt also mit großer Lust seine Macht. Auf der kognitiven Ebene ist die anale Phase verbunden mit der Fähigkeit, „Nein“ zu sagen. Ja- oder Neinsagen sind Möglichkeiten der Steuerung. Das Kind teilt mit, dass es etwas will oder nicht will. Damit artikuliert sich die Entstehung einer autonomen Persönlichkeit. Die anale Phase ist verbunden mit der Entstehung des Ichs.

Phallisch-genitale Phase: Die phallisch-genitale Phase ist bestimmt von der lustvollen Besetzung der Genitalien. Die Kinder entdecken und explorieren ihre Geschlechtsorgane. In dieser Phase entwickelt das Kind ein Begehren für das gegengeschlechtliche Elternteil.

Elektra

Die Tochter spricht in aller Öffentlichkeit davon, dass sie Vater zu heiraten gedenkt. Die Tochter wird aus bestimmten Gründen diesen Wunsch aufgeben oder zurückstellen. Die Psychoanalyse hat diesen Konflikt der Tochter Elektrakonflikt genannt.

Ödipus

Der Konflikt des Sohnes, der Ödipuskonflikt genannt wird, ist anders und einfacher strukturiert als der Elektrakonflikt. Er beginnt auch mit dem Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils, der Mutter. Der Vater droht dem Sohn mit der Kastration, falls der Sohn dieses Begehren nicht aufzugeben gedenkt. Der Sohn gibt sein Begehren auf und identifiziert sich mit dem Vater, akzeptiert das väterliche Gesetz, und in ihm reift das Über-Ich. Das wäre die ideale Lösung. Natürlich können auch in dieser Phase Störungen entstehen, so wenn sich der Sohn mit dem Vater nicht identifiziert.


Würde man eine Meinungsumfrage mit einem Fragebogen zum Ödipus- und zum Elektrakonflikt durchführen, dann würden vermutlich die meisten Menschen antworten: „Nein, ich habe keinen dieser Konflikte.“ Mit dieser Antwort lässt sich ein Dilemma der Psychoanalyse umreißen. Die Forschenden, die diesen Fragebogen ersonnen hätten, würden schlussfolgern: Diese Konflikte existieren nicht. Die Psychoanalyse würde dagegen sagen: Die Menschen antworten so, weil diese Konflikte unbewusst sind. Und: Nur eine Psychoanalyse würde dazu verhelfen, diese Konflikte bewusst zu machen. Das Dilemma besteht also darin, dass zum einen im Rahmen der Psychoanalyse übliche Forschungsverfahren häufig nicht greifen, dass zum anderen aber deshalb auf möglicherweise heuristisch interessante Konstrukte wie den Elektrakonflikt nicht verzichtet werden sollte.

Sprache und Körper

Auch wenn die Freud’sche Phasenlehre abgelehnt oder als ergänzungsbedürftig angesehen wird, so lässt sie sich auch verstehen als Analyse der in der Sprache repräsentierten Körperlichkeit. Die von Freud oral und phallisch-genital genannten Phasen werden hierbei oft verwoben – ein Sachverhalt, der in sehr vielen Kulturen vorzukommen scheint (Lévi-Strauss 1976). Die begehrte Frau ist, wie bereits erwähnt, in unserer Kultur das Törtchen. Der Mann, in den eine Frau verliebt ist, wird beschrieben mit: „Ist das ein Süßer!“ Im Verliebtsein fallen Sätze wie: „Ich habe Dich zum Fressen gern.“ Umgekehrt benutzen wir Worte aus der analen Region, um unseren Missmut und Ärger auszudrücken.

Kultur und Triebunterdrückung

Fällt der Name Freud, dann ist eine der naheliegenden Assoziationen die Sexualität. Aber Freud war kein Theoretiker der ungehemmten Lust. Anders als seine Nachfolger, wie z. B. Wilhelm Reich, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, Sex als Gesundmacher zu propagieren. Er war davon überzeugt, dass Triebe unterdrückt werden müssen. Denn die unterdrückte Triebenergie dient dazu, sie in Kultur und Arbeit umzuwandeln. Zu diesen bedarf es einer Energie, die nur dann gegeben ist, wenn nicht alle Triebe befriedigt werden. Dies nannte Freud Sublimierung. Werden alle Triebe befriedigt, dann ist es für den Menschen nicht mehr nötig, erwachsen und autonom zu werden und zu arbeiten.

Sex oder Essen?

Ein Blick in die Medien könnte einen heute veranlassen, davon auszugehen, dass die Sexualität keinerlei Repression mehr unterliegt. Es scheint so, als gäbe es fast keine Tabus mehr. Dann müsste im Sinne Freuds unsere Kultur untergehen, weil keine Triebenergie zur Kulturarbeit zur Verfügung steht. Diese Rechnung geht aber nur auf, wenn die Nahrungsaufnahme unberücksichtigt bleibt. Überschaut man die letzten hundert Jahre, dann fällt auf, dass zumindest dem Anschein nach die Sexualität sehr stark liberalisiert, sprich: enttabuisiert, die Nahrungsaufnahme hingegen einer massiven Restriktion unterworfen worden ist. Mit Hilfe eines ständig fallenden Idealgewichts ist, wie bereits erwähnt, im letzten Jahrhundert die Nahrungsaufnahme quasi verboten worden. Mit Bezug zu Freud ließe sich also folgern, dass in unserer Kultur die unterdrückten Triebe nur ausgetauscht worden sind: früher Sex, heute Nahrungsaufnahme.


So nimmt es nicht wunder, dass in einer italienischen Studie Folgendes ermittelt worden ist: Die über 1.000 befragten Italiener zwischen 22 und 55 fühlten sich eher schuldig nach einem ausschweifenden Essen als nach dem Fremdgehen (Financial Times, 10.01.2006).

Trieb und Adipositas

Weiter oben wurden bereits einige psychoanalytische Interpretationsfolien zum Verstehen der Adipositas angeboten. Die triebtheoretische Interpretation wurde aber bislang noch nicht gegeben. Eine triebtheoretische Erklärung der Adipositas könnte so aussehen: Adipositas basiert auf einer Fixierung auf die orale Phase, weil

● das Kind zu gut versorgt wird; es wird nicht aus der oralen Phase entlassen, es erlebt keine Frustration und damit keine Separation von den Eltern;

● das Kind zu wenig versorgt wird, vor allem auf der emotionalen Ebene.

Im ersten Fall kann dann eine Person den Anspruch ableiten, ein Leben lang gut versorgt zu werden. Folge hiervon kann übermäßige Nahrungsaufnahme sein. Aus Zweiterem ergibt sich dann eventuell eine lebenslängliche Suche nach der guten Nahrung bzw. nach der emotionalen Zuwendung. Die Nahrung steht in diesem Fall für die emotionale Zuwendung. Das kann bedeuten, dass jemand zu viel isst.

Regression

Vor dem Hintergrund der Triebtheorie bietet sich noch eine andere Interpretation an: die der Regression vom genitalen Niveau auf ein orales Niveau. Das meint, dass ein Mensch, der z. B. Angst vor Sexualität hat, in seiner Triebbefriedigung auf ein orales Niveau zurückkehrt und dann übermäßig isst. Wenn z. B. Sexualität als Grenzverletzung erlebt und deshalb gemieden wird, dann lassen sich die sexuellen Impulse im Sinne Freuds quasi umwandeln und durch Nahrungsaufnahme befriedigen. In diesem Falle wäre die Nahrungsaufnahme weit weniger bedrohlich, weil sie nicht als grenzverletzend erlebt wird.

Kasten 3.2: Zusammenfassung der Psychoanalyse

● Stichwort: die Freud’sche Couch.

● Der Mensch wird nicht nur durch das Bewusstsein, sondern auch durch das Unbewusste bestimmt.

● Die Sexualität spielt eine große Rolle im menschlichen Leben.

● Körperliche Symptome können psychische Ursachen haben.

● Psychoanalyse als Psychotherapie: Aufdecken des Unbewussten.

● Name: Freud.

3.3 Humanistische Ansätze

3.3.1 Die Grundannahmen der Humanistischen Ansätze

Später entstanden als Psychoanalyse und Lerntheorien, begreifen sich die Humanistischen Ansätze als den dritten Weg (s. Abb. 3.4). Begründerinnen und Begründer in den 50er Jahren waren Abraham Maslow (1908–1970), Carl Rogers (1902–1987), Charlotte Bühler (1892–1974) und Rollo May (1909–1994). Mit den Humanistischen Ansätzen ist ein gesellschaftspolitisches Programm verbunden. Sie verkörpern also mehr als nur eine psychologische Schule.

 

Abb. 3.4: Der Humanistische Ansatz

Menschenbild

Die Humanistischen Modelle setzen sich dementsprechend von den Lerntheorien und der Psychoanalyse ab. Das verdeutlicht sich in einem ganz anderen Menschenbild, dessen explizite Thematisierung für die Humanistischen Ansätze besonders bedeutsam war. Diese Thematisierung kann zum Anlass genommen werden, die unterschiedlichen Menschenbilder der psychologischen Schulen im Folgenden näher auszuführen (s. a. Kasten 3.3). Schließlich haben Menschenbilder auch Auswirkungen auf berufliches Handeln. Auch ernährungspsychologische Interventionen sind hiervon bestimmt.

Kasten 3.3: Das Menschenbild der jeweiligen psychologischen Schulen

Lerntheorien:

● Der Mensch ist weder gut noch böse

● Der Mensch als erfahrungsgeprägtes, lernfähiges Lebewesen

● „Persönlichkeit“ ist prinzipiell durch Lernerfahrungen veränderbar

● Der Mensch ist herstellbar

Humanistische Ansätze:

● Der Mensch ist im Prinzip gut

● Der Mensch setzt sich mit der Umwelt und mit sich selbst auseinander

● Der Mensch versucht seinem Leben einen persönlichen Sinn zu verleihen

● Der Mensch als sich selbst verwirklichendes, sinnorientiertes Individuum

Psychoanalyse:

● Der Mensch ist gut und böse

● Das Geistige entsteht aus dem Körper

● Der Mensch ist geprägt durch frühkindliche Erfahrungen und beeinflusst durch unbewusste Prozesse

gut und/oder böse

Die Psychoanalyse nach Freud sieht den Menschen als gut und zugleich böse an. Er ist böse, weil er einen Todestrieb besitzt. Die Humanistischen Ansätze betonen dagegen, dass der Mensch überwiegend gut ist. Ihr Menschenbild ist sehr viel optimistischer als das von Freud. Am offenkundigsten drückt sich dies in einem Zitat von Rogers aus:

„Eine der revolutionärsten Einsichten, die sich aus unserer klinischen Erfahrung entwickelt hat, ist die wachsende Erkenntnis: Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur aus positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch.“ (Rogers 1980, 99f)

Die Lerntheorien machen über die Natur des Menschen keine Aussagen, weil sie davon ausgehen, dass Menschen durch Lerngesetze spezifisch herstellbar sind.


Die unterschiedlichen Menschenbilder sind konsequenzenreich. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man in einer Beratung lerntheoretisch, humanistisch oder psychoanalytisch orientiert ist. Im ersteren Fall glaubt man, jede Verhaltensweise veroder erlernen zu können. Humanistisch geprägt, ist man davon überzeugt, dass der Mensch zum Guten strebt und dass die förderlichen Bedingungen der Beratung jedem gut tun. Psychoanalytisch beeinflusst, geht man davon aus, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die destruktiven Anteile die Oberhand behalten und dass die Beratung nicht unbedingt förderlich ist. Die unterschiedlichen Haltungen der Beratenden haben unausweichlich Einfluss auf den Beratungsprozess.

deterministisch – teleologisch

In den Augen der Humanistischen Ansätze spielt bei den Lerntheorien und bei der Psychoanalyse die Determinierung eine wesentliche Rolle. Wie ein Mensch sich verhält, ist determinierbar durch Lerngesetze – davon gehen die Lerntheorien aus. Der Mensch ist stark geprägt durch Kindheitserfahrungen – das meint die Psychoanalyse. Die Humanistischen Ansätze betonen dagegen, dass sich der Mensch eigene Ziele setzen kann und dass er nach Selbstverwirklichung strebt. Er kann sich sehr viel mehr gestalten, als dies Lerntheorien und Psychoanalyse annehmen. Auch bei diesem Aspekt wird klar, dass die unterschiedlichen Menschenbilder gewiss Auswirkungen auf Beratung und Behandlung haben werden.

Kasten 3.4: Die humanistische Tradition des Abendlandes

Die humanistische Tradition beginnt in der griechischen Antike. Der Kampf gegen Tyrannen und demokratische Strukturen in der Oberschicht sind hiervon Kennzeichen. Jeder einzelne freie Bürger wurde als ein Wesen begriffen, das selbst wählen sollte, wie es leben will. Wie ist ein Leben schön und gut zu führen? – lautete eine zentrale Fragestellung.

Die antike Tradition wurde im Zeitalter der Renaissance wieder aufgegriffen. Es begann weniger das zu zählen, aus welchem Stand jemand stammt, sondern das, was jemand leistet. Demokratische Strukturen begannen sich in den italienischen Stadtstaaten zu entwickeln.

Mit der bürgerlichen Revolution in Frankreich etablierte sich in Europa die Idee der Menschenrechte. Kein Bürger sollte fortan an die Scholle gefesselt sein. Kein Bürger sollte staatlicher Willkür unterworfen sein.

Der Aufklärer Kant forderte die Menschen auf, einen Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu finden – sprich: sich nicht mehr vorschreiben zu lassen, was man denken und glauben soll. Humanismus in der Neuzeit bedeutet auch, dass jedem Menschen die Chance gegeben wird, sich zu bilden und zu entwickeln. Alphabetisierung und allgemeine Schulpflicht sind hierzu Stichworte.

Humanismus


Die Humanistischen Ansätze stellen sich in die humanistische Tradition des Abendlandes (s. Kasten 3.4). Humanismus wird heute z. B. so definiert:

„… das Bemühen um Humanität, um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gesellschaft des Lebens und der Gesellschaft durch Bildung und Erziehung und/oder Schaffung der dafür notwendigen Lebens- und Umweltbedingungen.“ (Meyers Großes Taschenlexikon 1987)

Dies ist das politische Programm der Moderne. Menschenwürde ist verknüpft mit den bürgerlichen Freiheitsrechten. Persönlichkeitsentfaltung meint, dass nicht durch Geburt und Stand festgelegt ist, wer man ist und werden wird, sondern dass jedem und zugleich auch der Gesellschaft die Aufgabe zugewiesen ist, die individuellen Potenziale zu entfalten und zu fördern. Die Begründerinnen und Begründer der Humanistischen Ansätze sahen in ihrer Zeit die Ideale des Humanismus als bedroht an. Dies dokumentiert sich in ihren gemeinsamen Zielsetzungen (s. Kasten 3.5).

Kasten 3.5: Gemeinsame Zielsetzungen der Humanisten (nach Legewie/Ehlers 1992)

gegen:

● kulturelle und zwischenmenschliche Entfremdung

● Sinnverlust und entmenschlichte Wissenschaft

für:

● Ganzheitlichkeit menschlicher Erfahrung

● Streben nach Selbstverwirklichung und Sinnfindung

Entfremdung

Der ursprünglich von Marx verwendete Begriff der Entfremdung wird bei den Humanistischen Ansätzen weniger unter ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert. Was die Humanistischen Ansätze unter Entfremdung verstehen, vermag ein Zitat von Rogers und Rosenberg aufzuklären:

„In dieser Person finde ich zuallererst das Bemühen um Authentizität. Kommunikation heißt für sie, die Dinge auszusprechen, sie so zu benennen, wie sie sind, wobei Gefühle, Gedanken, Gesten, Sprache und Körperbewegung alle die gleiche Botschaft vermitteln. Sie ist aufgewachsen in einem Klima der Heuchelei, der Täuschung, der doppelbödigen Botschaften, und sie ist dies zum Erbrechen leid.“ (1980, 204)

Kulturelle und zwischenmenschliche Entfremdung entsteht, wenn man seine Gefühle und seine Sicht der Dinge nicht mehr wahrnehmen und kommunizieren kann.


In Kasten 3.5 tauchte der Begriff „entmenschlichte Wissenschaft“ auf, gegen den sich die Humanistischen Ansätze wenden. Was ist damit gemeint? Mit „entmenschlichter Wissenschaft“ identifizieren sie die Lerntheorien, die die Lerngesetze an Tieren studierten und die Befunde auf den Menschen übertrugen. Damit verfehlen die Lerntheorien in den Augen der Humanistischen Ansätze das spezifisch Menschliche: sich verwirklichen zu können und seinem Leben einen Sinn verleihen zu können. Auch der Begriff der Ganzheitlichkeit richtet sich vor allem gegen die Lerntheorien, die den Menschen in einzelne Schemata von Reiz-Reaktion-Verstärkung zerlegen.

3.3.2 Maslow

Natur verwirklichen

Maslow geht davon aus, dass der Mensch seine innere, angeborene Natur verwirklichen soll. Verleugnet, unterdrückt oder hemmt er sie, dann führt das zu einer krankhaften Fehlentwicklung. Im Grunde hat Maslow ein Pflanzenmodell vor Augen. Die Umwelt ist entweder förderlich bei der Entwicklung des Erbguts der Pflanze oder sie ist nicht förderlich. Aber die Umwelt hat keinen Einfluss darauf, welche Art von Pflanze entsteht. Auch dieses Menschenbild hat einen erheblichen Einfluss auf die Interventionen. Arbeitet z. B. eine Psychotherapeutin mit diesem Menschenbild, so wird sie nach der inneren Natur des Klienten forschen, und sie wird überzeugt sein, dass seine Natur nicht änderbar ist.

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