Das unerträgliche annehmen

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Die frühen Phasen der Trauer

Bis ich das Grässliche habe erzählt, brennt in mir mein Herz. Samuel Taylor Coleridge

Eine Mutter beschrieb folgende Situation, in der sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr:

Der Arzt trat ins Zimmer. Es war nach Mitternacht. Er sagte so kalt und unbeteiligt und gefühllos, wie ich noch nie jemanden habe reden hören: „Wir konnten nichts mehr tun. Er ist tot.“ Dann verließ er das Zimmer und wir waren wieder allein bis auf den Krankenhausseelsorger, der bestürzt dreinblickte. Ich weinte noch nicht einmal. Ich verstand all das gar nicht wirklich. Ich meine, ich hatte zwar die Worte gehört, aber ich hatte meinen Körper verlassen. Ich war monatelang nicht in meinen Körper zurückgekehrt. Ich kann auch immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.

Zuerst hören wir Nachrichten wie diese vielleicht nur mit den Ohren – und noch nicht mit dem Herzen. Die Tiefe und Weite des Verlustes ist unergründlich, sein ganzes Ausmaß lässt sich nie sofort erfassen, sondern nur allmählich im Laufe der Zeit. Der Verstand versucht, uns vor dem fast tödlichen ersten Schock zu schützen, und oft folgt darauf eine Art emotionale Betäubung, sodass wir uns fühlen wie in einem Film – oder als ob alles in Zeitlupe ablaufen würde. Töne, Bilder und Bewegungen wirken anders und wir versetzen uns möglicherweise in einen stark veränderten Bewusstseinszustand.

Wenn der Schock über den Verlust dann allmählich seinen betäubenden Schleier fallen lässt, steigt ein unbeschreiblicher Schmerz aus unserer Magengrube auf. Dieser Schmerz bringt Gefühle mit sich, die wir vielleicht noch nie empfunden haben – fremdartige und grauenhaft bestürzende Gefühle. Alles in uns will vor der Wirklichkeit des Verlustes wegrennen, aber der tiefe Schmerz will gefühlt werden. Immer wieder fordert er unsere ganze Aufmerksamkeit. In gewissem Sinne ist der Trauerprozess eine Äußerung von Liebe, die jetzt keinen physischen oder zwischenmenschlichen Platz mehr hat, um zum Ausdruck gebracht zu werden.

Es ist nicht ungewöhnlich, wenn hinterbliebene Eltern, Kinder, Geschwister, Großeltern und Ehepartner feststellen, dass ihr Selbstwertgefühl Schaden nimmt, sie sich unentwegt nach dem Verstorbenen sehnen und sie dem Schmerz unter allen Umständen entkommen wollen – auch wenn dabei ihr eigenes Selbst stirbt. Viele Eltern, mit denen ich gearbeitet habe, sagten mir, sie hätten das Gefühl, ihr altes Selbst, die Person, die sie einmal waren, sei gestorben. Einige Menschen berichten von Schuld- und Schamgefühlen über den Tod des geliebten Menschen, obwohl diese Gefühle von außen betrachtet ungerechtfertigt erscheinen. So erwarten Eltern natürlich, dass ihre Kinder länger leben als sie selbst und ein Kind beerdigen zu müssen, fühlt sich unnatürlich und nicht in Ordnung an und führt in eine lähmende, herzzerreißende Trauer. Nach einem schweren Verlust kommen diese Gefühle häufig vor und sind normal, wenn auch schmerzvoll. Auch tiefe Verzweiflung, Bestürzung und Ungeduld, Apathie, Verlust der Lebensfreude und fehlendes Interesse an Dingen, die dem Trauernden früher wichtig waren, werden häufig beschrieben und sind ebenfalls ganz normal.

Welche Eltern, deren Kind gestorben ist, würden sich nicht danach sehnen, diese starke Verbindung wiederherzustellen? Welches Kind würde sich nicht unsicher, verängstigt und allein auf der Welt fühlen, wenn ein Elternteil gestorben ist? Welcher Mensch würde nach dem Tod seines Lebenspartners nicht eine mitunter niederschmetternde Einsamkeit empfinden? Ein Verlust wie dieser kann die ganze Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen.

Oft treten Furcht, übermäßige Sorgen und Ängstlichkeit auf. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, wird uns akut der Tod und unser aller Endlichkeit bewusst (die so genannte Mortalitätssalienz) und wir beginnen, uns mit dieser Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig kann sich die Sinneswahrnehmung und die Umweltsensibilität erhöhen, was ängstlichen Sorgen, besonders um andere geliebte Menschen, Vorschub leisten kann. Uns wird bewusst und wir fürchten, dass auch sie sterben werden. Auch Neid gegenüber anderen, die noch haben, was wir schon verloren haben, kommt oft auf, ebenso kann Wut oder starker Zorn auftreten.

Trauer kann sich in subtilen wie auch in dramatischen Verhaltensweisen zu erkennen geben – vor allem, wenn wir nicht bereit sind zu fühlen, was sie von uns fordert. Drogenmissbrauch, Glücksspiel, Überkonsum, Promiskuität, zwischenmenschliche Konflikte, Fahrlässigkeit und sogar suizidales Verhalten sind häufige Symptome dieser Dynamik. Es kann sein, dass wir es schwieriger, vielleicht sogar unmöglich finden, uns lange auf irgendetwas anderes als auf den Verlust zu konzentrieren. Natürlich kann dadurch unsere Arbeit erschwert werden, aber sie wird nicht unmöglich, wenn wir hilfsbereite Kollegen haben. Umgekehrt können einige sich völlig in Arbeit, Sport oder Spiritualität vertiefen, um jeden Gedanken an den Verlust und die damit verbundenen Gefühle zu vermeiden.

Trauer kann sich im Nichtvorhandensein von Freude, Konzentration und so weiter niederschlagen, aber auch im Vorhandensein etwa von außergewöhnlichen Sinneserfahrungen. Ich habe mit Hinterbliebenen gearbeitet, die berichteten, dass sie Dinge sehen, hören oder riechen konnten, von denen andere nichts bemerkten. Einige berichteten über „Zeichen“ ihrer geliebten Menschen, oft in Form von Symbolen wie Schmetterlingen oder Zahlenkombinationen. Eine bedeutende Minderheit gab an, beim Träumen oder kurz vor dem Einschlafen Halluzinationen zu erleben, manche davon beängstigend, manche beruhigend.

Zwischenmenschliche Beziehungen können leiden, besonders in trauernden Familien. Vielleicht sind wir müde und erschöpft von der Trauer und haben nicht die Energie, uns eingehend mit anderen zu beschäftigen. Es kann sein, dass wir ungeduldiger und intoleranter werden. Vielleicht haben wir noch nicht gelernt, offen über unsere Gefühle zu sprechen, oder andere waren bisher nicht bereit, uns aufmerksam zuzuhören, oder wir fühlen uns nicht sicher genug dafür. Viele Trauernde berichten, dass sie alte Freunde verlieren (und manchmal neue gewinnen), wenn ihre Paarbeziehungen sich wandeln.

Kinder in Familiensystemen können sich übergangen (ich nenne das „unsichtbar gemacht“) fühlen, und Eltern können aus den Augen verlieren, dass auch ihre Kinder trauern. Eine trauernde Familie leidet individuell und kollektiv. Jeder trauert und handelt auf seine Art aus dieser Trauer heraus und jeder bringt diese Trauer in seinen Beziehungen zum Ausdruck. In dieser Situation werden die Räume in und zwischen uns stark mit Trauer belastet.

Das fast physische Gewicht der Trauer kann sich direkt auf den Körper auswirken und zu Veränderungen bei Appetit, Gewicht, Energieniveau und Schlaf und zu weiteren Problemen führen. Einige Menschen berichten von Atemproblemen und sensorischen Fehlfunktionen wie dem Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns. Andere klagen über Symptome, die sich nach dem Verlust erstmals zeigen, wie diffuse Schmerzen, schmerzende Arme, Schmerzen im Brustkorb, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Lethargie. All das kann eine Folge der anhaltenden (aber normalen) psychischen Belastung sein, die mit der Trauer einhergeht. Trauer kann aber auch mit einer vorzeitigen Sterblichkeit der Trauernden im Zusammenhang stehen, besonders bei hinterbliebenen Eltern, auch wenn das Studien zufolge eher mit chronischem Stress und abnehmender Selbstfürsorge verbunden ist als mit einer medizinischen Krise.

Die emotionalen, geistigen, existenziellen und physischen Begleitzustände der Trauer haben zur Folge, dass sich Trauernde in einem Umfeld, das der Trauer und der damit einhergehenden Mortalitätssalienz manchmal ablehnend gegenübersteht, sehr verwundbar fühlen. Viele Familien, mit denen ich gearbeitet habe, sagen, ihre Verwundbarkeit in der frühen Trauerphase habe dazu geführt, dass sie sich von ihren scheinbar teilnahmslosen Mitmenschen zurückziehen wollten. Viele Trauernde empfinden einen unausgesprochenen oder expliziten gesellschaftlichen Druck, „sich wieder besser zu fühlen“ oder „darüber hinwegzukommen“. In solchen Fällen führt die Diskrepanz zwischen den Botschaften, wie sie sich fühlen sollten, und der inneren Weisheit des tatsächlich Gefühlten dazu, dass viele an ihrem eigenen Herzen zweifeln. Diese fehlende Übereinstimmung zwischen sich selbst und den anderen trägt mit dazu bei, dass Trauernde zusätzlich zu ihrem natürlichen, also unvermeidlichen und sinnvollen, auch noch einen vermeidbaren, sinnlosen Schmerz erleiden müssen.

Wie wir mit unserer Trauer umgehen und wie andere uns in ihr begegnen, ist von genauso großer Bedeutung wie die Trauer selbst. Der spanische Philosoph Miguel de Unamuno sagte: „Wir sterben an der Kälte und nicht an der Dunkelheit.“ Am Anfang meiner Trauer um Cheyenne war diese Dunkelheit (die für mich zuweilen reine Schwärze war) unsagbar qualvoll – aber sie drohte nicht, mich umzubringen. Wesentlich gefährlicher in meinem fragilen Zustand war die Kälte der anderen – die chronische Einsamkeit, der Kampf um die Würde meines toten Kindes, die abweisenden Kommentare und die Art und Weise, wie viele meiner Mitmenschen sich von dem hässlichen, entsetzlichen Gesicht der Trauer abwandten. Diese Dinge verstörten mich.

Dunkelheit tötet nicht – aber Kälte kann töten.

Andererseits hat Trauer das Potenzial, uns der Wärme, Liebe und Verbindung in und zwischen uns näherzubringen. Wenn andere uns mit unvoreingenommenem Mitgefühl begegnen, entsteht in uns ein Zugehörigkeitsgefühl, das die harten Kanten der Trauer glättet. Aber wenn unsere Spaßkultur uns unter Druck setzt, unseren Schmerz nach einem festen Zeitplan zu bewältigen oder uns „für das Glück zu entscheiden“ statt für die Trauer, wenn die Gesellschaft uns einengt und wir unsere Gefühle nicht zum Ausdruck bringen dürfen, dann fühlen wir uns verunsichert, unverstanden und isoliert. Und dann kann es passieren, dass wir uns zulasten der Menschlichkeit aus der Welt zurückziehen, da wir wegen des Umgangs mit unserer aufrichtigen Trauer zu Recht verängstigt und misstrauisch geworden sind.

 

In solchen Situationen wird Trauernden oft vorgeworfen, sie würden es nicht schaffen, „daran zu wachsen“, „darüber hinwegzukommen“ oder „einen Sinn darin zu finden“ – ein Vorwurf, der unfair und auch noch völlig unangebracht ist. Um Trauernde zu unterstützen, muss die Gesellschaft uns allen einen Raum anbieten, in dem sich unser Herz und Verstand ausruhen können, einen Raum voller Güte und Mitgefühl, frei von Voreingenommenheit, Zwängen und prüfenden Blicken.

Nur dort und nur, wenn wir bereit dazu sind, werden wir (wenn auch unter Schmerzen) eine neue Freude in uns erblühen lassen können, die gemeinsam mit der Trauer besteht, statt diese beiseitezuschieben oder auszutauschen.

Kehren wir noch einmal zu Karen und zum Tod ihres 14-jährigen Sohnes Kyle zurück. Andere maßregelten Karen, sie solle nicht über Kyles Tod sprechen, weil sie dadurch nur traurig würde. Solche verletzenden Ratschläge sind oft auf die mangelnde Bereitschaft anderer zurückzuführen, mit Schmerz konfrontiert zu werden, weil sie sonst ihren eigenen Schmerz und ihre eigene Angst spüren.

Nachdem ihr diese Einstellung bei anderen begegnet war, stellte Karen fest, dass es ihr jetzt viel schwerer fiel, ihre rechtmäßige Trauer zu verarbeiten und zu integrieren. So wurde ihre traumatische Trauer für sie psychologisch destruktiver, als sie es ursprünglich gewesen war. Auf eine grundlegende Art und Weise brachte Kyles Tod die Fassade ihres früheren Lebens zum Einsturz, zerstörte ihre Identität und konfrontierte sie damit, was es bedeutet, Mensch zu sein: sich verletzlich zu fühlen, zu leiden, Angst zu haben und für die Liebe auch Trauer zu riskieren. Durch die überflüssige Last der Vermeidung, die andere ihr aufbürdeten, verstärkten sich ihre Selbstzweifel, Einsamkeit, Angst und Selbstunterdrückung, sodass sie völlig aus dem Gleichgewicht geriet.

Doch irgendwann, mit einer Unterstützung, die ihre Trauer würdigte und ihr Raum gab, statt auf Vermeidung zu setzen, begriff Karen, dass die Liebe, die sie vierzehn Jahre lang mit Kyle geteilt hatte, nichts war, worüber man „hinwegkommen“ musste, was man abtun musste oder als unwichtig anzusehen hatte. Im Mittelpunkt stand die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, eine unvergleichliche, einzigartige Beziehung, die nicht mit dem Tod eines Kindes endet. Anfangs sagte Karen mir, sie wolle ihre Trauer „überwinden“, aber durch unsere gemeinsame Arbeit erkannte sie, dass sie alles fühlen wollte, was danach rief, gefühlt zu werden, kurz gesagt, dass sie „Mut zum Leiden“ haben wollte.

Leiden ist ein interessantes Wort, das sinnvollerweise als „Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, ohne ihn ändern, sich ihm widersetzen oder daran festhalten zu müssen“ definiert werden kann. Meine Arbeit mit Karen begann damit, dass ich ihr einen Raum gab, in dem sie sich ohne Druck oder Erwartungen mit ihren Emotionen sicher fühlen konnte. Es war ein Raum, in dem sie sich an Kyle erinnern und ihre Liebe zum Ausdruck bringen konnte. So gelang es Karen schließlich, sich selbst wieder zu vertrauen.

Sie lernte, dass die Trauer nicht ihr Feind ist und ihr Schatten sie nicht verschlucken oder auslöschen würde. Sie passte sich an, schuf sich einen Raum für die Trauer und erlaubte der Trauer von einem Moment zum anderen jeweils das zu sein, was immer sie war. Allmählich merkte sie, dass sie fähig war zu ertragen und zu leiden, und die harten Kanten der Trauer glätteten sich dann von ganz allein in ihrem eigenen Tempo. Karen hatte sich nicht mehr mit ihrem Körper verbunden gefühlt, sodass wir auch an der Körperlichkeit des Traumas arbeiteten. Wir unternahmen gemeinsame Wanderungen, manchmal barfuß. Irgendwann, als sie sich bereit fühlte, fing sie mit Yoga an. Sie begann wieder ihren Geist und ihren Körper zu bewohnen.

Heute kennt Karen diesen Ort in ihrem Herzen, diesen verehrten und verehrenswerten Ort, in den Kyles Name eingeschrieben ist. Sie kann ihn, wenn nötig, immer besuchen, auch wenn sie sich dann eine Weile „k. o.“ fühlt. Sie weiß, dass der Sturm unter den Gewitterwolken nur die halbe Wahrheit ist – und dass die Sonne darüber weiterhin scheint. Sie vertraut darauf, dass jeder dunkle Tunnel, in den sie gerät, irgendwann endet und sie wieder ins Licht der Welt entlassen wird, wieder und wieder. Und auch wenn es lange Zeitspannen gibt, in denen die Trauer nicht in den Vordergrund tritt, weiß sie doch, dass sie immer da ist, still, im Hintergrund.

Wenn die Trauer gesehen werden möchte, gewährt Karen ihr das und umarmt sie, wie sie es mit einer alten Freundin tun würde, die zu Besuch kommt.

Jetzt, sagt sie mir, würde sie es gar nicht mehr anders haben wollen.

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Nährstoffarmer Boden

Es gibt, davon bin ich überzeugt, kein Bild, das verzweifeltes, unheilbares, unermessliches Leid in all seiner Ungeheuerlichkeit vermittelt. Könnte ich ein solches Bild malen, dann würde die Leinwand allein eine Frau zeigen, die auf ihre leeren Arme hinabblickt. Charlotte Brontё

Einen Großteil der ersten Jahre nach Cheyennes Tod verbrachte ich damit, die Würde meiner Trauer zu verteidigen. Oft brach ich unter dem Druck zusammen, wieder „heil werden“ zu müssen, was mir vorkam, als würde ich zum Vergessen gezwungen.

Ich erinnere mich an den Anruf einer lieben Freundin im November 1994, die mir zum Geburtstag gratulierte. Cheys Tod war erst vier Monate her, daher war ich noch lange nicht wieder ich selbst. „Was ist denn los?“, fragte sie, vielleicht, weil sie stille Verzweiflung in meiner Stimme hörte. „Ich will nicht feiern. Ich kann nicht feiern. Sie ist tot.“ Darauf hielt meine Freundin mir einen Vortrag, ich solle doch dankbar für meine anderen Kinder sein, feiern und Spaß haben: „Du suhlst dich ja geradezu in deiner Trauer! Es ist jetzt Zeit, dich zusammenzureißen und das hinter dir zu lassen.“

Das Gespräch endete damit, dass ich in Tränen ausbrach. Danach setzte ich mich hin, öffnete mein Tagebuch und schrieb einen imaginären Brief an meine Freundin:

Das hier ist mein Weg. Ich habe diesen Weg nicht gewählt, aber es ist ein Weg, den ich achtsam und absichtsvoll gehen muss. Es ist eine Reise durch die Trauer und sie braucht Zeit. Jede Zelle in meinem Körper tut weh. Zurzeit kann es sein, dass ich ungeduldig, abgelenkt, frustriert und unkonzentriert bin. Ich will nichts feiern. Es kann sein, dass ich leichter wütend werde oder hoffnungslos wirke. Ich werde viele, viele, viele Tränen weinen. Ich werde nicht mehr so oft lächeln wie früher. Lächeln tut jetzt weh. An manchen Tagen tut so gut wie alles weh, sogar das Atmen.

Aber bitte sitz einfach nur neben mir.

Sag nichts.

Biete mir kein Heilmittel an.

Keine Pille, kein Wort und keinen Zaubertrank.

Nimm meinen Schmerz zur Kenntnis und wende dich nicht von mir ab.

Bitte sei behutsam mit mir.

Bitte, mein Selbst, sei auch behutsam mit mir.

Ich werde niemals „darüber hinwegkommen“, also dränge mich bitte nicht in diese Richtung. Auch wenn es so aussieht, als hätte ich einen guten Tag, vielleicht kann ich sogar kurz lächeln – der Schmerz ist trotzdem direkt unter meiner Haut. In meinem Brustkorb ist ein ständiger Schmerz, der nach unten zieht, und manchmal fühle ich mich, als würde ich durch die Trauer explodieren.

Sag mir nicht, was ich tun oder lassen soll – oder dass ich mich „inzwischen besser fühlen“ sollte. Sag mir nicht, dass „Gott einen Plan für mich hat“. Sag mir nicht, was richtig oder falsch ist. Ich gehe meinen eigenen Weg in meinem eigenen Tempo.

Ich habe jetzt eine neue Normalität. Im Laufe der Zeit werden mir vielleicht neue Bedeutungen einfallen und Einsichten kommen, was ihr Tod für mich bedeutet. Eines Tages, wenn ich sehr alt bin, werde ich vielleicht sagen, dass die Zeit mir geholfen hat, mein gebrochenes Herz zu heilen. Aber denke immer daran, dass keine Sekunde keiner Minute keiner Stunde keines Tages vergeht, in der ich mir nicht ihrer Abwesenheit bewusst bin, egal, wie viele Jahre ich auf dem Buckel habe.

Bitte gehe behutsam mit mir um.

Ich habe ihr diesen Brief nie geschickt.

Ich war zu verängstigt und verletzt, deshalb ging ich nicht mehr ans Telefon, wenn sie anrief. Dieser eine Kontakt mit ihr bewirkte, dass sich die Kluft zwischen mir und den anderen vergrößerte. Es sollte noch einige Jahre und eine Initialzündung in meinem Bauch brauchen, bis ich lernte, mich passend zu äußern, wenn andere mir mit ihren Worten zusetzten.

Einige sagen uns vielleicht, es sei „Zeit, nach vorne zu schauen“ oder alles sei „Teil eines größeren Plans“ – weil sie sich durch unseren niederschmetternden Schmerz unwohl, verwundbar, bedroht fühlen. Andere meiden uns, wieder andere bemitleiden uns. Aber diese Trauer gehört uns.

Wir haben diese Trauer erworben, bezahlen dafür mit Liebe und felsenfester Hingabe. Wir besitzen diesen Schmerz, selbst an Tagen, an denen wir wünschten, es wäre nicht so. Wir haben es nicht nötig, ihn abzugeben oder ihn uns wegnehmen zu lassen.

Durch Trauer und Liebe können wir den Kopf hochhalten, auch unter Tränen, auch, wenn wir am Boden zerstört sind.

Was uns gehört, gehört uns – rechtmäßig.

6
Kulturelles Feingefühl

Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen … sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint. Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Judith Herman

An einem frühen Samstagmorgen klingelte mein Telefon. Es war die leitende Gerichtsmedizinerin des Instituts, für das ich als ehrenamtlicher Familienkontakt arbeitete. „Komm bitte sofort“, sagte sie. Sie erklärte, gerade sei ein Baby gestorben, sein Leichnam sei zur Autopsie geschickt worden, um die Todesursache festzustellen, aber die Familie verweigere die Zustimmung. „Sie sind aus dem Reservat”, sagte sie. „Das ist ein echtes Problem für uns.“

Mir schien die Sache klar: „Dann mach eben keine Autopsie.“ Aber sie erinnerte mich daran, dass es in dem US-Bundesstaat bei jedem plötzlichen Todesfall gesetzlich vorgeschrieben war, eine Autopsie durchzuführen. Davon gab es nur eine Ausnahme: falls sich der Tod in einer souveränen Nation (einem Reservat) amerikanischer Ureinwohner ereignet hatte. Nun hatte der Junge zwar in der souveränen Nation gelebt, war aber mit dem Hubschrauber in ein lokales Krankenhaus geflogen worden, wo er dann verstorben war.

Zwei Paare mittleren Alters und ein junges Paar warteten eng beieinanderstehend im Parkhaus auf mich. Einer der älteren Männer, Henry, der sich später als Großvater väterlicherseits herausstellte, trat aus der Gruppe heraus. Ich stellte mich nur ihm vor und vermied es, mich den anderen Familienmitgliedern zuzuwenden oder Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Im Institut angekommen, bot ich Wasser und Taschentücher an und sicherte ihnen zu, ihre Fürsprecherin zu sein. Ich spürte keine Gefühlsregung in der Familie, nicht einmal Trauer. Doch das jüngere Paar saß auf den Stühlen in der Ecke und umarmte sich, mit gesenkten Köpfen, als würden sie beten. Nur Henry blickte mich an, daher sprach ich direkt und ausschließlich ihn an.

„Es tut mir sehr leid“, sagte ich. „Möchten Sie mir die Geschichte erzählen?“

Henry erklärte, dass sein Enkel Joseph ein gesundes, gut gedeihendes, achtzehn Monate altes Kleinkind gewesen war. Dann wurde er urplötzlich krank, und als er Fieber bekam, wandten sich seine Eltern (das junge Paar in der Ecke) an den Medizinmann. Josephs Symptome hielten den ganzen Tag lang an, sodass Henry sie drängte, ins Gesundheitszentrum zu fahren. Kurz nach ihrer Ankunft im Gesundheitszentrum erlitt Joseph einen Anfall und wurde ins lokale Krankenhaus geflogen, wo er einige Stunden später für tot erklärt wurde. Die behandelnden Ärzte schickten Josephs Leichnam zur Autopsie und benachrichtigten die Familie – die dann begann, gegen das Verfahren zu protestieren: Autopsien sind in ihrer souveränen Nation verboten.

Während Henry die Geschichte erzählte, bemerkte ich, dass andere Familienmitglieder zu weinen anfingen, sich in der Ecke zusammendrängten und einander festhielten. Josephs Eltern zitterten. „Wo wir herkommen, sind keine Autopsien erlaubt!“, sagte Henry. „Sie stören den Aufstieg des Geistes. Es ist ein Verstoß gegen unsere Gebräuche.“ Ich versicherte ihm nochmals, dass ich als Fürsprecherin seiner Familie handeln würde. Ein paar Minuten lang erklärte ich das übliche Verfahren im gerichtsmedizinischen Institut.

 

Mit seiner Einwilligung ging ich ins Büro des Instituts. Samstags arbeitete dort nur eine Gerichtsmedizinerin. Ich berichtete ihr über die Familie und unterstrich die Notwendigkeit, ihre Kultur und Gebräuche zu respektieren. Sie verstand und schlug eine Alternative vor. „Wenn wir mit Röntgen und Labortests anfangen, können wir vielleicht auch ohne Autopsie die Todesursache herausfinden“, sagte sie. „Würde die Familie das erlauben?“

Zurück im Warteraum erklärte Henry sich mit dieser Option einverstanden.

Zwei Stunden lang warteten wir gemeinsam schweigend auf die Ergebnisse. Henry flüsterte mit seiner Familie leise indigene Gebete. Ich blieb die ganze Zeit über bei ihnen, saß dabei aber schweigend auf der anderen Seite des Zimmers.

Schließlich bat mich die Gerichtsmedizinerin durch das Sicherheitsfenster zwischen Wartebereich und Büro, zu ihr zu kommen – und zum ersten Mal nahmen die Angehörigen Blickkontakt mit mir auf. Henry sah mich an, ich erwiderte seinen Blick. „Ich bin sofort zurück“, sagte ich.

Die Gerichtsmedizinerin hatte die Todesursache tatsächlich gefunden, ohne eine Autopsie durchführen zu müssen: Joseph hatte einen Darmverschluss erlitten, der sich entzündet hatte. Er war an einer Blutvergiftung gestorben. Die Gerichtsmedizinerin und ich gingen in den Warteraum, um die Familie zu informieren. Ich sprach Henry direkt an, während die Gerichtsmedizinerin zuhörte, und Henry senkte den Kopf. Die Familie begann zu weinen, als ich Josephs Todesursache erklärte. Henry zeigte weiter keine Gefühlsregung. Ich sagte: „Es tut mir sehr leid, Henry. Haben Sie Fragen, die ich für Sie beantworten kann?“

„Nein“, sagte er leise.

„Henry, möchten Sie Joseph sehen?“, fragte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich Josephs junge Mutter mit großen Augen aufblicken, aber sie sagte nichts.

Henry antwortete: „Nein, nein, nein. Wir wollen ihn nicht sehen. Wir dürfen das nicht.“ Im Raum herrschte völlige Stille. Besorgt, dass ich Henry womöglich beleidigt hatte, entschuldigte ich mich umgehend und erklärte, dass ich mit ihrem Glauben nicht vertraut war. Ich wollte ihnen ein wenig Zeit alleine als Familie geben und bat sie deshalb um ihre Erlaubnis, den Raum zu verlassen.

Als ich in den Warteraum zurückkehrte, trat Henrys Frau sofort auf mich zu. „Wir wollen Joseph sehen. Wir haben beschlossen, dass wir ihn sehen wollen“, sagte sie. Henry nickte zustimmend. Sofort ging ich ins Büro und bereitete einen kleinen Nebenraum für sie vor. Ich funktionierte einen Bürotisch zu einem Bett um, indem ich Decken und Kissen darauf verteilte, um eine Art Wiege für den toten Jungen Joseph herzurichten. Ich holte genügend Stühle für alle und dimmte das Licht.

Wenige Minuten später kehrte ich mit Joseph zurück, der in eine angewärmte Decke gewickelt war. Henry stand sofort auf und sah mich direkt an. Einen Moment hielt er inne, blickte auf Joseph hinunter und nahm ihn mir dann behutsam ab. Seine Gesichtszüge wurden weicher. Alle waren still. Henry hielt Joseph in den Armen und begann, mit ihm in ihrer Muttersprache zu sprechen. Er küsste Josephs Füße, Arme und Wangen. Er weinte. Alle weinten. Henry band eine heilige Feder des Medizinmanns an Josephs Hemd, dann gab Henry das Kind an seine Frau weiter. Sie ließen sich zwei Stunden Zeit, damit jedes Familienmitglied einzeln Abschied nehmen konnte.

Irgendwann dachte ich, ich sollte besser gehen, und sagte Henry, dass ich sie nun alleine lassen würde. Er fasste mich am Arm und bat: „Bitte – bleiben Sie. Sie sind jetzt eine von uns.“ Nachdem sie schließlich endgültig Abschied genommen hatten, legten sie Joseph widerstrebend zurück in meine Arme.

Die Familie wartete im Parkhaus auf mich.

Ich sagte ihnen, dass ich ihnen gerne zur Verfügung stand, falls sie Fragen hätten oder in Zukunft irgendetwas bräuchten. Ich dankte ihnen für ihre Geduld, verabschiedete mich und machte mich auf den Rückweg zum Institut. Dann gellte die Stimme von Josephs junger Mutter durchs Parkhaus. Gerade an der Tür angekommen, hielt ich inne und drehte mich um. Sie ging langsam auf mich zu, dann begann sie zu laufen. Die anderen folgten ihr. Sie schlang die Arme um mich und begann zu weinen.

„Vielen, vielen Dank“, sagte sie immer wieder. Ihr junger Mann holte sie ein, umarmte uns beide und dankte mir unter Tränen. Dann trat einer nach dem anderen – auch die Großeltern – hinzu und umarmten mich.

Ich hatte sehr viel von ihnen gelernt. Ich hatte gelernt, Schülerin, Anfängerin zu sein und meine eigenen Überzeugungen hintanzustellen, um anderen zu helfen. Ich hatte etwas über Geduld und über die Kraft der Stille gelernt.

Und ich verbeugte mich dankbar vor Joseph, meinem Lehrer.

Wie so viele andere Todesfälle in diesem Buch war Josephs Tod traumatisch für die, die ihn liebten. Aber Mitgefühl und Liebe glätteten die harten Kanten des Traumas für Josephs Familie – und auch für mich. Die Begleitumstände eines von Natur aus ohnehin schon traumatischen Todes können durch die Art und Weise der Benachrichtigung der Menschen, durch dilettantische, trauerleugnende Therapien oder auch durch rechtliche Bestimmungen und unsensible Maßnahmen im medizinischen, spirituellen und gemeindenahen Bereich, die den Kontext des Traumas und seine Auswirkungen nicht berücksichtigen, massiv verschlimmert werden. Josephs Tod war für seine Eltern traumatisch – und nichts, was ich tat, konnte daran etwas ändern. Zumindest aber konnte ich dafür sorgen, dass ihnen zusätzlicher Schmerz durch ängstliche, trauervermeidende Menschen und Bürokraten erspart wurde, die nicht darauf vorbereitet waren, mit den Realitäten und Folgen traumatischer Trauer umzugehen oder sie nachzuvollziehen.

Ein traumatischer Tod verursacht traumatische Trauer. Und ein traumatischer Tod ist jeder plötzliche, unerwartete Tod, jeder gewaltsame oder entstellende Tod, jeder nach langem Leiden eintretende Tod, jeder Selbstmord, jeder Mord und jeder Tod eines Kindes jeden Alters aus jeglichem Grund. Wenn jemand, den wir lieben, auf traumatische Weise stirbt, fühlen wir uns in beängstigendem Ausmaß entwurzelt und zutiefst verunsichert. Unser Vertrauen in die Welt fühlt sich dann massiv bedroht an – was es auch ist.

Traumata wirken sich sowohl psychologisch als auch körperlich aus. Das kann sich in einer Beschleunigung von Atmung und Herzschlag, erweiterten Pupillen, kognitiven Beeinträchtigungen und Gedächtnisstörungen, Übererregbarkeit, belastenden Gedanken und Bildern, dem Gefühl, sich außerhalb des Körpers zu befinden oder keine Persönlichkeit mehr zu haben, Veränderungen der Zeitwahrnehmung, emotionaler Abstumpfung und Vermeidungsverhalten äußern. Letzteres, also der Versuch, etwas zu vermeiden oder nicht zu fühlen, ist wohl eine der fehlangepasstesten Reaktionen auf traumatische Trauer.

In dem Bemühen, nicht zu fühlen, können Trauernde in eine ständige Suche nach Ablenkung verfallen. Drogen und Alkohol, Fernsehen, Essen, Sport, Sex, Glücksspiel, Shopping, zwischenmenschliche Konflikte und sogar die spirituelle Praxis können unbewusst zu Figuren eines Schachspiels werden, das zum Ziel hat, den Schmerz zu vermeiden. Wenn es um Ablenkung geht, sind Menschen äußerst kreativ, die Möglichkeiten sind schier endlos. Wir können praktisch alles dazu nutzen, um uns von unseren Gefühlen zu distanzieren. Denn still zu bleiben und einfach bei der niederschmetternden Trauer zu sein, ist ohne den richtigen Beistand und das Gefühl körperlicher und emotionaler Sicherheit einfach zu bedrohlich.

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