Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht

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1. Wortlautinterpretation

Nach dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind“. Dieser Wortlaut ist eindeutig. Einer erweiterten Anwendung der Grundrechte der Art. 1 bis 17 GG auf nichtdeutsche, also auf ausländische juristische Personen, steht dieser Wortlaut entgegen. Mit einer solchen erweiterten Anwendung wäre die Wortlautgrenze des Art. 19 Abs. 3 GG überschritten.

2. Historische Auslegung

Nach den Angaben im Sachverhalt zu den einschlägigen Beratungen über die Fassung des Wortlauts des Art. 19 Abs. 3 GG war der Verfassungsgeber der Auffassung, dass eine erweiterte Geltung deutscher Grundrechte auf nichtdeutsche juristische Personen angesichts der geringfügigen Rolle ausländischer juristischer Personen im damaligen Deutschland nicht erforderlich war. Auf der Grundlage dieser Einschätzung wurde die begrenzende Formulierung „nur … inländische juristische Personen“ in den Text aufgenommen. Das ist ein kontextbezogener Geltungsausschluss für ausländische juristische Personen, dem aber keine dauerhafte normative Schranke für etwaige spätere Erweiterungen des Geltungsbereichs auf nichtdeutsche juristische Personen entnom|36|men werden kann. Ob eine solche Geltungserweiterung inzwischen stattgefunden hat, lässt sich einer rein historischen Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG nicht entnehmen.

3. Systematische Auslegung

Durch systematische Auslegung können erweiternde, einschränkende oder auch nicht vom Wortlaut getragene sinnverändernde Bedeutungsgehalte von Einzelbestimmungen des Grundgesetzes aus übergreifenden Regelungszusammenhängen ermittelt werden, in dem die auszulegende Grundgesetzregelung mit allen anderen Bestimmungen des Grundgesetzes steht. Ein zweites Element systematischer Auslegung wird der vorausgesetzten Einheit der Verfassung entnommen. Aus ihr folgt das Gebot, dass keine Verfassungsbestimmung mit einer anderen in Widerspruch stehen darf.

Aus übergreifenden Regelungszusammenhängen des Grundgesetzes lässt sich eine im System des Grundgesetzes angelegte Bedeutungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG im Sinne einer Grundrechtsgeltung auch für ausländische juristische Personen nicht entnehmen. Nach dem System des Grundgesetzes können Träger von Grundrechten nur entweder jedermann oder deutsche Staatsbürger sein. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechts. Eine auf innerhalb der EU ansässige Wirtschaftsunternehmen ausgerichtete Grundrechtsträgerschaft nichtdeutscher juristischer Personen ist dem System des Grundgesetzes fremd. Diese Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG steht auch mit keiner anderen Bestimmung des Grundgesetzes in Widerspruch. Zu denken wäre allenfalls an Art. 23 Abs. 1 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europa mitwirkt und hierbei einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. In diesem Verfassungsauftrag bleibt das im Grundgesetz verankerte System des Grundrechtsschutzes als Maßstab erhalten, also auch die auf jedermann und deutsche Staatsangehörige begrenzte Grundrechtsträgerschaft. Im Recht der Europäischen Union verankerte Wirtschaftsgrundrechte von in Europa ansässigen Unternehmen gehören mit dem Unionsrecht einer gesonderten Rechtsordnung an. Bei dem in den Primärverträgen verankerten europäischen Unionsrecht und dem deutschen Grundgesetz handelt es sich um zwei unabhängig voneinander bestehende Rechtsordnungen. Zwischen ihnen bestehen keine systematischen Regelungszusammenhänge.

4. Teleologische Auslegung

Durch teleologische Auslegung wird der im objektiven Regelungsgehalt des Gesetzes enthaltende Sinn und Zweck der Regelung – also das Regelungsergebnis, das mit ihr erreicht werden soll – als Maßstab für die Ermittlung des Bedeutungsgehalts des Gesetzes herangezogen.

Im vorliegenden Fall ist unschwer zu erkennen, dass mit Art. 19 Abs. 3 GG zwar eine Erweiterung des Kreises der potentiellen Grundrechtsträger über Individuen hinaus auf juristische Personen ermöglicht werden soll. Diese Erweiterung ist aber ihrerseits auf inländische juristische Personen beschränkt, d.h. auf solche, die nach deutschem Recht gegründet worden sind und ihren Sitz in Deutschland haben. Eine teleologische Auslegung spricht somit klar gegen eine erweiterte Geltung deutscher |37|Grundrechte über Art. 19 Abs. 3 GG hinaus auch auf alle in der Europäischen Union ansässigen Wirtschaftsunternehmen.

5. Ergebnis zur ersten Fallfrage

Die Entscheidung des BVerfGs ist mit Art. 19 Abs. 3 GG nicht vereinbar.

Zweite Fallfrage: Ist die vom BVerfG angenommene Verletzung des Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV durch eine Verneinung des Grundrechtsschutzes für EU-ausländische Unternehmen damit vereinbar, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV nur „im Rahmen der Verträge“ gilt?

Das BVerfG hatte in der den vorliegenden Fall betreffenden Verfassungsbeschwerde des italienischen Unternehmens G die Fragen zu beantworten, ob sich in Deutschland wirtschaftlich tätige juristische Personen mit Sitz außerhalb Deutschlands, jedoch in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, auf Grundrechte des Grundgesetzes berufen können. Außerdem war darüber zu entscheiden, ob der bei einem Urheberrechtsstreit letztinstanzlich zuständige BGH bei der Auslegung und Anwendung nationalen, auf Unionsrecht beruhenden Rechts das Grundrecht auf Eigentum des beschwerdeführenden italienischen Unternehmens G beachtet hatte. Seine Entscheidung, dass sich auch in Deutschland tätige juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können, gründete das BVerfG auf einen Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) sowie des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV). Aus diesen beiden Vorschriften des AEUV leitet das BVerfG „eine vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes“ ab.[15]

Der für den Fall einschlägige Beschluss des BVerfGs (vom 19.07.2011 – JZ 2011, 1112ff. und die Kritik an ihm)

Die Kenntnis des Begründungswegs, auf dem das BVerfG zu dem hier referierten Ergebnis seines Beschlusses gelangt ist, geht über den bei Studierenden zu erwartenden Kenntnisstand deutlich hinaus. Dasselbe gilt für die kritische Kommentierung der Entscheidung des BVerfGs durch Hillgruber (JZ 2011, 1118ff.). Die wesentlichen Positionen und rechtlichen Argumentationen des BVerfGs wie Hillgrubers sind daher referierend in das folgende „Gutachten“ einbezogen worden. Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Gutachten im eigentlichen Sinne, sondern um die Präsentation eines Beispielsfalls aus der gerichtlichen Praxis, der sich gut zur Vermittlung von Grundkenntnissen zum nicht ganz einfach zu verstehenden Verhältnis von Europäischem Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht im Grundrechtsbereich eignet.

|38|1. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der G – Akt öffentlicher Gewalt

Das angegriffene Urteil des BGH ist eine Maßnahme deutscher öffentlicher Gewalt und damit ein tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Das gilt insbesondere auch für diejenigen im BGH-Urteil zugrunde gelegten Rechtsvorschriften des Urheberrechts, mit denen Umsetzungsverpflichtungen aus der unionsrechtlichen Urheberrechts-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt werden. Das G-Unternehmen hat die von ihm behauptete Verletzung seiner eigentumsrechtlich geschützten Urheberrechte maßgeblich darauf gestützt, dass der BGH ohne Weiteres die enge Interpretation einer – urheberrechtswidrigen – Verbreitung übernommen habe, ohne nach einem verbleibenden Umsetzungsspielraum der unionsrechtlichen Urheber-Richtlinie für den deutschen Gesetzgeber zu fragen. Hierzu führt das BVerfG aus:

„Wird … eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung darauf gestützt, dass ein Gericht bei der Auslegung nationalen Umsetzungsrechts einen den Mitgliedstaaten verbleibenden Umsetzungsspielraum verkannt habe, beruft sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung deutscher Grundrechte im Bereich des unionsrechtlich nicht vollständig determinierten Rechts. Insoweit kann er auch geltend machten, das Gericht habe sich zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden gesehen.“[16]

Mitgliedstaatliche Umsetzungsspielräume unionsrechtlicher Richtlinien – Nationales Recht

Integrationseffekte auf sekundärrechtlicher Grundlage, mit denen Erweiterungen des Unionsrechts auf Kosten der Geltung mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften stattfinden, kann es nur im Umfang sekundärrechtlicher Harmonisierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten geben. Über den Umfang solcher Verpflichtungen entscheidet der Inhalt unionsrechtlicher Richtlinien.

Integrationswirkungen aufgrund von Ersetzungen uneinheitlicher mitgliedstaatlicher Rechtsvorschriften durch harmonisierende EU-Richtlinien treten effektiv nur in dem Umfang ein, in dem die Mitgliedstaaten ihren Umsetzungsverpflichtungen aus der jeweiligen Richtlinie tatsächlich nachkommen und ihr nationales Recht richtlinienkonform anpassen.

Erst mit diesem letzten Schritt tritt sekundärrechtliches EU-Recht an die Stelle nationalen Rechts und kann von „im Rahmen der Verträge geltendem Unionsrecht“ gesprochen werden. Für den gesamten Regelungsbereich vor diesem letzten Schritt bleibt nicht harmonisiertes nationales Recht in Kraft.

2. Beschwerdebefugnis

Nach Ansicht des BVerfGs steht Art. 19 Abs. 3 GG der Beschwerdefähigkeit des italienischen G-Unternehmens nicht entgegen.

 

In seiner bisherigen Rechtsprechung hatte das BVerfG nur die Geltung prozessualer Grundrechte des Grundgesetzes für ausländische juristische Personen bejaht, diejenige der materiellen Grundrechte aber zunächst unter Berufung auf den klaren Wortlaut |39|des Art. 19 Abs. 3 GG abgelehnt.[17] In späteren Entscheidungen wurde dieselbe Frage mit Blick auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen gelassen.[18] Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage fand nunmehr erstmals im hier behandelten Beschluss vom 19.07.2011 statt.[19]

Tragende Prämisse der nunmehr entgegen dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG bejahten Geltung deutscher Grundrechte für in der EU ansässige und in Deutschland tätige Wirtschaftsunternehmen ist ein Anwendungsvorrang des Europäischen Unionsrechts vor deutschem Recht. Diesen Anwendungsvorrang leitet das BVerfG aus den durch die europäischen Verträge übernommenen vertraglichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ab, wie sie insbesondere in den europäischen Grundfreiheiten und – subsidiär – dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV zum Ausdruck kommen. „Ein Eingreifen der aus den Grundfreiheiten und Art. 18 AEUV abgeleiteten unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote“ setze „voraus, dass die betroffenen juristischen Personen aus der Europäischen Union im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden. Der Anwendungsbereich der Verträge“ richte „sich insoweit nach dem jeweiligen Stand des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Union und damit nach den ihr in den europäischen Verträgen übertragenen Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 AEUV, vgl. BVerfGE 123, 267, 349ff.; 126, 286, 302). Insbesondere“ sei „er bei der Verwirklichung der Grundfreiheiten des Vertrags und dem Vollzug des Unionsrechts eröffnet. Die Tätigkeit der Beschwerdeführerin, die sich unter anderem auf unionsrechtlich (teil)harmonisiertes Urheberrecht“ berufe, „welches durch wirtschaftliche Aktivitäten in Deutschland verletzt worden sein“ solle, falle „in den Anwendungsbereich der Verträge in diesem Sinne (vgl. EuGH, Urteil vom 20.10.1993 – Phil Collins, a.a.O., Rn. 22, 27; Urteil vom 06.06.2002 – C-360/00 Ricordi, Slg. 2002, S. I-5088, Rn. 24). Die Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 23 GG auf juristische Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ reagiere „auf die europäische Vertrags- und Rechtsentwicklung und“ vermeide „eine Kollision mit dem Unionsrecht. Die Bundesrepublik Deutschland“ sei „an Art. 18 AEUV und die sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Diskriminierungsverbote einschließlich ihres Anwendungsvorrangs vor nationalem Recht (BVerfGE 126, 286, 301f.) gebunden. Die Anwendungserweiterung“ beachte „den Grundsatz, dass das supranational begründete Recht der Europäischen Union keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht“ entfalte, „sondern nur dessen Anwendung soweit“ zurückdränge, „wie es die Verträge erfordern und es die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlauben. Mitgliedstaatliches Recht“ werde „insoweit lediglich unanwendbar (vgl. BVerfGE 123, 267, 398ff.; 126, 286, 301f.). Die europarechtlichen Vorschriften verdrängen Art. 19 Abs. 3 GG nicht, sondern veranlassen lediglich die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf weitere Rechtssubjekte des Binnenmarktes.“[20]

|40|3. Grundrechtsverletzung (Behauptung und Möglichkeit)

Das von der französischen Fondation Le Corbuisier vertraglich exklusiv erworbene Urheberrecht des italienischen G-Unternehmens an den von Le Corbuisier entworfenen Möbelmustern ist Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG. Eine Grundrechtsverletzung durch das Aufstellen von urheberrechtlich nicht geschützten Möbelexemplaren, die M unter Verletzung von Urheberrechten der G hergestellt und verbreitet hat, ist also möglich. Sie ist auch von G behauptet worden. Insoweit bestehen an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde der G keine Zweifel.

Ob Z durch Überlassung der urheberrechtswidrig hergestellten Le Corbuisier-Modelle seinerseits eine Urheberrechtsverletzung begangen hat, die in der Folge zu einem staatlichen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG führte, weil der BGH ohne Prüfung eines Umsetzungsspielraums des deutschen Gesetzgebers vorschnell einer EUGH-Entscheidung zur unionsrechtlichen Richtlinie über zur Harmonisierung des Urheberrechts in der Europäischen Union folgte, geht über die Fallfrage hinaus. Die zweite Fallfrage geht nur dahin, ob das BVerfG mit seiner Annahme eines Anwendungsvorrangs des Europäischen Unionsrechts im Bereich der Wirtschaftsgrundrechte und des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 18 AEUV gegenüber deutschem Recht seinerseits die einschlägigen Regeln über das Verhältnis zwischen Europäischem Unionsrecht und deutschem Verfassungsrecht verkannt hat. Eben dies behauptet Hillgruber in seiner deutlichen Kritik am Beschluss des BVerfGs.[21]

Erläuterung zur gutachterlichen Fallbearbeitung

Wie erwähnt, sind die einschlägigen Fallfragen nicht aus kontroversen Rechtspositionen von Streitparteien hergeleitet, sondern aus abstrakten Rechtsfragen über das Verhältnis von Europäischem Gemeinschaftsrecht und deutschen Grundrechten anlässlich eines einschlägigen Beschlusses des BVerfGs.

Gutachterlich wären die einschlägigen Rechtsgrundlagen des vom BVerfG angenommenen Anwendungsvorrangs der Art. 26 und 18 AEUV gegenüber deutschem Verfassungsrecht zu prüfen. Einschlägig für diese Prüfung sind die schon erwähnten drei Prüfungsschritte zur Feststellung des Umfangs des jeweiligen Integrationsstands, von dem die Fortgeltung nationalen Rechts abhängt. Dieser Umfang hängt abstrakt vom Inhalt der zugrundeliegenden harmonisierenden unionsrechtlichen Richtlinien und konkret von der effektiven Anpassung mitliedstaatlichen Rechts an diese Harmonisierungsvorgaben ab.

Die Problematik der zweiten Fallfrage rührt daher, dass das BVerfG dem von der geltenden Rechtslage her vorgezeichneten Prüfungsweg nicht gefolgt ist. Es hat einen Anwendungsvorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber deutschen Grundrechten angenommen, ohne ihn zu begründen. Eben dies wird dem BVerfG in der Kritik Hillgrubers an dem einschlägigen Beschluss vorgeworfen.

|41|4. Kritik Hillgrubers am BVerfG

In Übereinstimmung mit dem BVerfG bestimmt Hillgruber den Gegenstand des Rechtsstreits dahin, dass sich das italienische G-Unternehmen auf eine Verletzung deutscher Grundrechte „im Bereich des unionsrechtlich nicht vollständig determinierten“ Urheberrechts beruft. Das BVerfG hatte dies in die Worte gefasst, dass der BGH durch die Annahme, das Recht der Europäischen Union lasse im Bereich des Urheberrechts keinen Umsetzungsspielraum zu, Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Grundgesetzes verkannt habe.

Hillgruber hält dem BVerfG entgegen, dass es sich nicht näher mit der Rechtsposition und Argumentation des EuGH in dem für den Fall einschlägigen urheberrechtlichen Vorabentscheidungsverfahren auseinandersetzt habe. Beide Gerichte – der EuGH wie das BVerfG – hätten den Fehler gemacht, den Anwendungsbereich der Verträge des Europäischen Unionsrechts abstrakt statt konkret zu bestimmen. Für das BVerfG wie für den EuGH sei der Anwendungsbereich des Unionsrechts schon deshalb eröffnet, weil „unionsrechtlich (teil)harmonisiertes Urheberrecht“ in Rede stehe. Das sei deswegen eine unzulässige „abstrakte“ Argumentation, weil der Anwendungsbereich der Verträge damit schon auf die sekundärrechtlichen Harmonisierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten in den einschlägigen Richtlinien gestützt wird, anstatt nach dem „konkreten“ Umfang der im jeweiligen Mitgliedstaat tatsächlich erfolgten Umsetzung der Richtlinie im nationalen Recht zu fragen. Nur dieser letzte Schritt habe einen integrationsrechtlichen Rechtseffekt. Nur er führe zur Ersetzung nicht harmonisierten nationalen Rechts durch nunmehr allgemein und einheitlich in der Europäischen Union geltende Rechtsvorschriften. Es liege auf der Hand, dass nur dieser letzte Harmonisierungsschritt unionsrechtlich in den Anwendungsbereich der Verträge führt, von dem Art. 18 AEUV spricht.

Der Kritik Hillgrubers an den vom EuGH wie vom BVerfG verkannten Anforderungen an die Umsetzung Europäischen Unionsrechts in nationales Recht ist ohne Einschränkung zu folgen. Was das Verhältnis von Europäischem Unionsrecht und nationalen Grundrechten betrifft, wofür dieser Fall steht: Hier geht es um die Basics.

[Zum Inhalt]

|43|Kapitel 3: Fälle zum Verfassungsrecht – Staatsorganisationsrecht
|45|Fall 3: Neuregelung der Altenpflege

Normenkontrollantrag eines Landes gegen Neufassung des Altenpflegegesetzes durch den Bund, konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes, Art. 74 Abs. 1 GG

Aufgrund gestiegener Anforderungen an die Pflege und Betreuung alter Menschen infolge einer demographisch immer weiter alternden Bevölkerung in Deutschland erlässt der Bund eine Neuregelung der Altenpflege im „Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (AltPflG)“. Erstmals werden mit diesem Gesetz die unterschiedlichen Altenpflegebestimmungen in den Ländern einer bundeseinheitlichen Regelung zugeführt. Ziel des Gesetzes ist es insbesondere, die Berufsbilder und Ausbildungswege des Altenpflegers bzw. der Altenpflegerin (§ 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1, 2 und 3 Nr. 1–5 AltPflG) sowie des Altenpflegehelfers bzw. der Altenpflegehelferin (§ 1 Nr. 2, § 2 Abs. 3 Nr. 6–9, §§ 10–12 AltPflG) zeitgerecht und bundeseinheitlich neu zu regeln. Mit der Neuregelung für Altenpfleger entfernt sich das AltPflG vom bisherigen sozial-pflegerisch dominanten Profil zugunsten einer heilkundlichen Schwerpunktsetzung. Der Gesetzgeber hält jedoch für die Altenpflege an einem „ganzheitlichen Ansatz“ fest, in dem heilkundliche und sozial-pflegerische Elemente zum Tragen kommen. Die gesetzgeberische Prognose geht dahin, dass sich beide Berufsbildelemente künftig stärker aufeinander zubewegen werden.

Für die Altenpflege lauten die Ausbildungsziele in § 3 der Neuregelung:

„Die Ausbildung in der Altenpflege soll die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die zur selbständigen und eigenverantwortlichen Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies umfasst insbesondere:

1. Die sach- und fachkundige, den allgemein anerkannten pflegewissenschaftlichen, insbesondere den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen entsprechende, umfassende und geplante Pflege …

Darüber hinaus soll die Ausbildung dazu befähigen, mit anderen in der Altenpflege tätigen Personen zusammen zu arbeiten und diejenigen Verwaltungsarbeiten zu erledigen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Aufgaben in der Altenpflege stehen.“

Der Beruf der Altenpflegehelferin und des Altenpflegehelfers steht nach § 10 AltPflG unter dem Ausbildungsziel, „die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten“ zu vermitteln, „die für eine qualifizierte Betreuung und Pflege alter Menschen unter Anleitung einer Pflegefachkraft erforderlich sind.“

In einem Normenkontrollantrag an das BVerfG rügt die Regierung des Landes L, dem Bund fehle die für die Neufassung des Gesetzes zur Altenpflege und zur Altenpflegehilfe erforderliche Gesetzgebungskompetenz. Nach der in den Art. 70, 72 Abs. 2 GG getroffenen föderalen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten liege diese Kompetenz bei den Ländern. Demgegenüber steht der Bund auf dem Standpunkt, |46|die mit der Pflegeversicherung erforderlich gewordene Modernisierung der Altenpflege und der Altenpflegehilfe umfasse mit Aufgaben der Behandlungspflege, der ambulanten häuslichen Pflege und der Sterbebegleitung ein aus medizinischen, psychiatrischen und gerontologischen Grundanforderungen zusammengesetztes Berufsanforderungsprofil, das für die Entlastung der stationären Pflege in Krankenhäusern immer wichtiger werde. Dies könne nur der Bund in umfassender und sachgerechter Weise gesetzlich regeln.

Wie hat das BVerfG zu entscheiden?

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