Fälle und Lösungen zum Öffentlichen Recht

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|27|3. Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung

Durch Einsatz der Scannertechnologie werden Einblicke in die unbekleidete Körperoberfläche von Fluggästen ermöglicht. Es werden also für das Kontrollpersonal sichtbare Bilder der Körperoberfläche der Fluggäste angefertigt. Dies ist ein gesetzlich erzwungener, also staatlicher Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, hier in der besonderen Ausprägung des Rechts am eigenen Bild. Dass diese Bilder, bei negativem Kontrollbefund, unmittelbar nach ihrer Aufnahme wieder gelöscht werden ändert nichts an dem staatlichen Eingriff. Da es sich um personenbezogene Bilder und Verarbeitungsvorgänge handelt, fällt der Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Es geht um das Recht zur Selbstbestimmung über die staatliche Erhebung und Verarbeitung personenbezogener Daten.

4. Eingriffsrechtfertigung

Für eine mögliche Eingriffsrechtfertigung sind die auch für das Recht auf Schutz der Privat- und Intimsphäre geltenden Schrankenvorbehalte, also insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seinen verschiedenen Abstufungen, zu prüfen. Insoweit kann auf die Ausführungen oben zur Eingriffsrechtfertigung bei dieser Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verwiesen werden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird die Frage relevant, welche Bedeutung der Verwendung der erhobenen Daten zukommt. Bei einer sofortigen Datenlöschung, wenn kein negativer Sicherheitsbefund vorliegt, bleibt der staatliche Eingriff in personenbezogene Daten gering.

III. Eingriff in das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Art. 4 Abs. 1 GG

Im Hinblick auf Religionen, die von ihren Anhängern die Einhaltung religiöser Bekleidungs- und Entkleidungsvorschriften verlangen, fällt auch das Gebot der Achtung solcher Vorschriften durch die deutsche Staatsgewalt in den grundrechtlichen Schutzbereich der Religions-, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Wenn der menschliche Körper nach Maßgabe solcher religiöser Vorschriften bewusst durch Kleidung verdeckt gehalten werden muss, stellt die visuelle technische Durchdringung der Bekleidung von Fluggästen, die an solche religiösen Be- und Entkleidungsvorschriften gebunden sind, einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dar.

Im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung ist insbesondere eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, für die wiederum auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.

|28|IV. Unvereinbarkeit der Ausgestaltung des Einsatzes der Scannertechnologie als Eigensicherung durch den Flughafenbetreiber mit einem hoheitlichen Charakter der Kontrollmaßnahme

In Betracht kommt eine Verletzung von Art. 33 Abs. 4 GG als grundrechtsgleiches Recht gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG.

Eine Beleihung darf nur durch oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Der Gesetzesvorbehalt betrifft nicht nur das „Ob“ einer Beleihung, sondern umfasst auch deren wesentliche Modalitäten. Art. 33 Abs. 4 GG begründet somit einen sog. Funktionsvorbehalt. Die Wahrnehmung bestimmter hoheitlicher Aufgaben soll „in der Regel“ Personen vorbehalten sein, die Beamte sind, um die Neutralität und Unparteilichkeit bei der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben zu gewährleisten. Die inhaltlichen Anforderungen an eine Übertragung auf Private bemessen sich nach dem Entscheidungsgehalt des aufgetragenen Handelns und damit nach der Bedeutung der übertragenen Aufgabe. Je höher also die grundrechtliche Relevanz des amtlichen Handelns ist, umso sorgfältiger muss überprüft werden, ob eine Übertragung auf Private möglich erscheint.

Vom Grundsatz her gebietet Art. 33 Abs. 4 GG eine exklusive staatliche Wahrnehmung für diejenigen hoheitlichen Befugnisse der Eingriffsverwaltung, die mit intensiven Eingriffen in grundrechtliche Schutzbereiche verbunden sind.

Gutachterlich ist eine Auseinandersetzung mit den im Sachverhalt aufgeführten Kritikpunkten erforderlich. Im Ergebnis wird ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 4 GG wohl zu verneinen sein. Die im Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen Aufgaben und Befugnisse beim Betrieb der Körperscanner lassen sich noch als Ausnahmen vom Grundsatz des Funktionsvorbehalts einordnen. Solche Ausnahmen sieht Art. 33 Abs. 4 GG selbst durch die Verwendung der Worte „in der Regel“ vor. Der bloße fiskalische Gesichtspunkt, dass eine Aufgabenwahrnehmung durch Private den öffentlichen Haushalt entlasten würde, dürfte nicht ausreichend sein. Ein tragfähiger Sachgesichtspunkt ist jedoch der Routinecharakter des Einsatzes von Körperscannern, der sich auf alle Kontrollfälle erstreckt, nicht nur auf diejenigen, in denen keine am Körper versteckten Gegenstände entdeckt werden. Mit dem Routinecharakter argumentiert auch die Rechtsprechung des BVerwG hinsichtlich der im Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen Eigensicherungsmaßnahmen. Hiernach hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum in der Frage, ob er Routineuntersuchungen dem Bereich der staatlichen Gefahrenabwehr oder dem Bereich der Eigensicherung durch Flughafenbetreiber zuordnet.

Die Beleihung Privater darf jedoch nicht zu einer Flucht aus der staatlichen Verantwortung führen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass dieser Verantwortung unter den gesetzten Rahmenbedingungen ausreichend Rechnung getragen ist, muss sich in der Realität bewahrheiten. Die staatliche Gewährleistungsverantwortung für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung schließt daher eine entsprechende Beobachtungspflicht ein (BVerfG, Urteil vom 18.01.2012, 2 BvR 133/10).

|29|Zweite Fallfrage: Wäre eine Verfassungsbeschwerde von Frau F, einer regelmäßig ins Ausland fliegenden Geschäftsfrau, mit dem Antrag, die Verfassungswidrigkeit der geplanten Gesetzesänderung schon vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens festzustellen, zulässig?

Die Frage betrifft die Problematik, ob eine präventive Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetzesvorhaben zulässig ist.

Eine Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliche Bestimmungen setzt voraus, dass die Beschwerdebefugnis ausreichend substantiiert dargelegt wird und der Beschwerdeführer durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist (BVerfG, Urteil vom 05.12.2006, 1 BvR 2186/06, BVerfGE 117, 126, 135). Dies ist grundsätzlich dann nicht der Fall, wenn Rechtsnormen zu ihrer Durchführung noch administrativer Vollzugsakte bedürfen, da regelmäßig erst solche Vollzugsakte die Rechtssphäre des Einzelnen tatsächlich berühren (BVerfG, Urteil vom 14.07.1999, 1 BvR 2226/94, BVerfGE 100, 313, 354).

In folgenden Fällen hat das BVerfG aber eine unmittelbare Grundrechtsbetroffenheit ausnahmsweise bejaht: wenn die beanstandete Regelung bereits vor ihrer konkreten Anwendung im Einzelfall verhaltensprägende Vorwirkungen entfalten soll (BVerfG, Urteil vom 08.02.1977, 1 BvR 1/76, BVerfGE 43, 291, 387) oder tatsächlich entfaltet (BVerfG, Urteil vom 14.01.1998, 1 BvR 1995/94, BVerfGE 97, 157) oder den Wert der geltend gemachten Grundrechtsposition konkret und mit Einfluss auf die Dispositionsmöglichkeiten des Betroffenen beeinträchtigt (BVerfG, Urteil vom 14.07.1986, 2 BvE 2/84, BVerfGE 73, 40, 68). Eine unmittelbare Betroffenheit ist auch dann zu bejahen, wenn gegen einen denkbaren Vollzugsakt nicht – mangels Kenntnis hiervon (BVerfGE 100, 313, 354) – oder nicht in zumutbarer Weise (BVerfG, Urteil vom 15.02.2006, 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118, 137) vorgegangen werden kann.

Würde sich die viel fliegende Geschäftsfrau F gegen ein in Kraft befindliches Gesetz wenden, so würde man ihre Beschwerdebefugnis bejahen müssen, da es ihr nicht zumutbar wäre, erst gegen den Vollzugsakt des Scannens im Flughafengebäude vorzugehen. Darum geht es aber hier nicht. Einer der genannten Fälle vom BVerfG bejahter „Vorwirkungen“ von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen, bei denen dieser Vorwirkungen wegen eine Beschwerdebefugnis bejaht werden kann, liegt hier nicht vor.

Im Ergebnis ist eine präventive Beschwerdebefugnis der F somit zu verneinen.

|31|Fall 2: Grundrechtsgeltung für EU-ausländische Unternehmen

Art. 19 Abs. 3 GG, Geltungsbereich deutschen Verfassungsrechts und europäischen Unionsrechts

Der deutsche Zigarrenhersteller Z hatte bei der in Bologna ansässigen italienischen Möbelfirma M Nachbildungen von Le Corbusier-Möbeln erworben und diese in einer von ihm zu Werbezwecken errichteten und ausgestatteten Zigarrenlounge in einer Ausstellungshalle für Kunstobjekte aufgestellt. M hatte die Möbel ohne urheberrechtliche Nutzungsrechte an den Le Corbusier-Modellen hergestellt. Diese liegen aufgrund von urheberrechtlichen Exklusivverträgen mit der Fondation Le Corbusier in Paris, welche die Rechte des verstorbenen Urhebers wahrnimmt, bei der italienischen Firma G. In Ausübung ihrer vertraglichen Nutzungsrechte stellt G weltweit exklusiv Möbel in Gestalt von Le Corbusier-Nachbildungen her. Der Exklusivvertrag mit der Fondation erlaubt G auch das gerichtliche Vorgehen gegen Rechtsverletzungen.

In Gerichtsverfahren vor den zuständigen deutschen Zivilgerichten hatte G die Zigarrenfirma Z erfolgreich wegen Urheberrechtsverletzungen durch Aufstellen von Le Corbusier-Nachbildungen in der Zigarrenlounge auf Unterlassung verklagt. Gegen die Nichtzulassung der Revision im zweitinstanzlichen OLG-Urteil erhob die italienische Firma M Beschwerde zum BGH. Wegen eines gleichzeitig anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH zur Überprüfung einer etwaigen Unvereinbarkeit deutschen Urheberrechts mit der EU-Urheberrechts-Richtlinie stellte der BGH seine Entscheidung zunächst zurück. Nachdem der EuGH eine Urheberrechtsverletzung verneint hatte, weil er nur in einer Eigentumsübertragung eine Verletzung des urheberrechtlichen Verbreitungsrechts sah, ließ der BGH die Revision des M-Unternehmens zu und wies die Klage der italienischen G-Unternehmens gegen Z unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils ab. Das deutsche LG hatte der Klage des Z-Unternehmens stattgegeben und war dabei – abweichend vom EuGH – von einer weiten Deutung des urheberrechtlichen Verbreitungsbegriffs ausgegangen. Nicht erst die Eigentumsübertragung, sondern schon die tatsächliche Gebrauchsüberlassung wie sie Z zur Ausstattung der Lounge vorgenommen hatte, stelle eine Verletzung des Verbreitungsrechts des Urhebers dar.

 

Gegen die BGH-Entscheidung erhob das italienische G-Unternehmen Urteilsverfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung ihres Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG an den Le Corbusier-Mustern. Abweichend von früheren Entscheidungen und langjährigen eigenen Zweifeln entschied das BVerfG (Beschluss v. 19.07.2011, 1 BvR 1916/09, JZ 2011, 1112), auf deutsche Grundrechte könnten sich aufgrund von Art. 19 Abs. 3 GG zwar keine „ausländischen juristischen Personen“ be|32|rufen, wohl aber alle in der EU ansässigen Unternehmen. Das folge aus den damaligen Verfassungsberatungen zu Art. 19 Abs. 3 GG sowie aus dem heutigen Integrationsstand der EU. In den Beratungen zum Grundgesetz wurde hervorgehoben, dass eine Erstreckung deutscher Grundrechte auf ausländische juristische Personen aufgrund deren minimaler Betätigungen in Deutschland nicht erforderlich sei. Daraufhin stimmte der Verfassungsgeber der vorgeschlagenen Beschränkung auf „inländische juristische Personen“ zu. Aus dem heutigen EU-Integrationsstand folgert das BVerfG, dass eine Diskriminierung in der EU ansässiger nichtdeutscher Wirtschaftsunternehmen gegenüber deutschen Unternehmen bei der Anwendung deutscher Grundrechte nach dem in Art. 18 AEUV verankerten Diskriminierungsverbot nicht mehr zulässig sei. Daher könnten alle EU-ansässigen Unternehmen auch geltend machen, dass sich deutsche Gerichte zu Unrecht durch Unionsrecht gebunden gesehen und hierdurch ihre Grundrechte verletzt hätten.

Im Ergebnis wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des italienischen G-Unternehmens zurück, weil keine Verletzung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG vorläge. Es folgte dabei der engen Deutung des EuGH, dass nur Eigentumsübertragungen, nicht aber schon bloße Besitzüberlassungen den Tatbestand einer urheberrechtswidrigen Verbreitung erfüllen könnten. In der EU-Urheberrichtlinie ist die Frage, wann und wodurch eine urheberrechtswidrige Verbreitung eines urheberrechtlich geschützten Werkes vorliege, nicht geregelt.

Fallfragen:

1 Ist die Entscheidung des BVerfGs mit Art. 19 Abs. 3 GG vereinbar?

2 Nach Art. 18 AEUV gilt das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nur „im Anwendungsbereich“ der EU-Verträge. Steht die Annahme des BVerfGs, dass eine Verneinung des Schutzes EU-ausländischer Unternehmen durch deutsche Grundrechte unter Berufung auf Art. 19 Abs. 3 GG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde des nichtdeutschen EU-Unternehmens gegen ein deutsches Gerichtsurteil eine unzulässige Diskriminierung darstelle, mit dieser Bestimmung im Einklang?

Strukturierung des Sachverhalts
1. Tatsachenstoff

Die französische Gesellschaft „Fondation Le Corbuisier“, Inhaberin sämtlicher Urheberrechte des bekannten verstorbenen französischen Architekten und Designers, überträgt die Rechte zur weltweiten Herstellung von Möbeln nach Mustern von Le Corbuisier in einem Exklusivvertrag an den italienischen Möbelhersteller G in Bologna. Unter Verletzung der Exklusivrechte von G stellt auch ein anderes italienisches Unternehmen – M – Möbel nach Mustern von Le Corbuisier her und verkauft diese u.a. an das deutsche Zigarrenunternehmen Z. Von Z werden die von M erworbenen Möbelstücke unentgeltlich in einer in einem anderen Unternehmen zu Werbezwecken |33|errichteten Zigarrenlounge aufgestellt. Hiergegen klagte G erfolgreich wegen Verletzung ihrer Urheberrechte vor deutschen Zivilgerichten. Wegen Nichtzulassung der Revision durch das letztinstanzliche deutsche OLG hatte der italienische Lieferant der Nachbildungen M Beschwerde zum deutschen BGH erhoben. Der BGH fühlte sich an eine gegenüber den deutschen Gerichten deutlich engere Interpretation des urheberrechtlichen Verbreitungsbegriffs gebunden, wonach nur die Eigentumsübertragung, nicht schon die unentgeltliche Besitzüberlassung an urheberrechtlich geschützten Werken eine rechtswidrige Verbreitung darstellt. Diese in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangene Entscheidung veranlasste den deutschen BGH dem EuGH zu folgen. Er ließ die Nichtzulassungsbeschwerde des M zu und wies seine Klage gegen die vorinstanzlichen Entscheidungen deutscher Gerichte ab, die eine Urheberrechtsverletzung schon wegen bloßer Besitzüberlassung bejaht hatten. Im anschließenden Revisionsverfahren des italienischen M-Unternehmens werden die in den Vorinstanzen erfolgreichen Klagen von G gegen Z abgewiesen. Hiergegen erhebt das nunmehr benachteiligte italienische Unternehmen G Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung seines Eigentumsgrundrechts durch den BGH.

2. Parteivorbringen (Streitgegenstand)

G beruft sich auf eine europarechtskonforme Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG, der zufolge nach dem im Gemeinsamen Markt erreichten Integrationsstand deutsche Grundrechte für alle in der EU ansässigen Wirtschaftsunternehmen gelten müssten.

Ein streitiger Gegenstandpunkt hierzu kann im vorliegenden Fall deshalb nicht formuliert werden, weil sich der BGH zur Problematik der Grundrechtsgeltung nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 3 GG nicht geäußert hat. Der Sache nach kommt die einschlägige streitige Rechtsposition aber in der anschließenden Formulierung der Fallfragen zum Tragen.

3. Rechtsfragen des Falles

Im vorliegenden Fall werden die einschlägigen Rechtsfragen nicht durch kontroverse Rechtsstandpunkte von Streitparteien geprägt, sondern inhaltlich aus einer Entscheidung des BVerfGs hergeleitet und als allgemeine Fallfragen präsentiert. Der grundrechtliche Fallbezug ergibt sich daraus, dass die im Sachverhalt dargestellte Streitgeschichte zwischen Z, M und G in einer deutschen Grundrechtsproblematik kulminiert und die Entscheidung des BVerfGs eben diese Grundrechtsproblematik zum Gegenstand hatte.

Die erste Fallfrage verlangt eine Auslegung der für die Grundrechtsgeltung einschlägigen Verfassungsbestimmung des Art. 19 Abs. 3 GG nach den allgemeinen Regeln der Verfassungsinterpretation (wörtliche, historische, systematische und teleologische Auslegung). Auch die systematische und teleologische Auslegung müssen hierbei grundsätzlich im Regelungskontext des Grundgesetzes bleiben. Ob und inwieweit im Hinblick auf die von Art. 19 Abs. 3 GG erfassten Sachverhalte auch auf europäisches Unionsrecht einzugehen ist, ist eine Frage, die aus dem Grundgesetz |34|beantwortet werden muss. Für die Auslegung und Anwendung europäischen Rechts ist das BVerfG im Rahmen des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nicht zuständig.

Bei der zweiten Fallfrage ist demgegenüber sehr wohl auf europäisches Unionsrecht einzugehen, allerdings unter der besonderen Fragestellung der Reichweite des „Anwendungsbereichs der Verträge“, von der auch die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots in Art. 18 AEUV auf den vorliegenden Fall abhängt. Das BVerfG ist stillschweigend und ohne Begründung bei seiner Berufung auf Art. 18 AEUV davon ausgegangen, dass der Anwendungsbereich der Verträge eröffnet sei. Diese stillschweigende Annahme ist anhand der einschlägigen Regeln über den Geltungsbereich deutschen Verfassungsrechts und europäischen Unionsrechts überprüfungsbedürftig.

Für Einschränkungen oder Erweiterungen dieser Rechtsfragen enthalten die Sachverhaltsangaben keinerlei Anhaltspunkte.

Gutachten
Erste Fallfrage: Ist die Entscheidung des BVerfGs mit Art. 19 Abs. 3 GG vereinbar?

Zur Beantwortung dieser Frage ist Art. 19 Abs. 3 GG auszulegen. Die Regeln der Auslegung von Verfassungsbestimmungen folgen grundsätzlich den klassischen Regeln der Gesetzesauslegung, zusätzlich erweitert um die Regel verfassungskonformer Gesetzesinterpretation, die aber im vorliegenden Fall keine Rolle spielt.

Auslegung (Grundlagen)

Auslegung im Rechtssinne ist Auslegung von Rechtstexten (Verfassungstext, Gesetzestext, Verordnungs- und Satzungstext (= allgemeinverbindliche normative Texte), Vertragstext, Erklärungstext (bilateral, einseitig verbindliche Texte). Für Normtexte, Vertragstexte und individuelle rechtsgeschäftlichen Erklärungen gelten unterschiedliche Auslegungsregeln, für die es nur zum Teil gesetzliche Grundlagen gibt: Auslegung einer Willenserklärung (§ 133 BGB), Auslegung von zivilrechtlichen Verträgen (§ 157 BGB), Auslegung völkerrechtlicher Verträge (Art. 31 WVRK).

Die Regeln der Auslegung normativer Texte (Verfassungs- und Gesetzesauslegung) sind nicht gesetzlich geregelt. Sie sind in der Rechtswissenschaft entwickelt und in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BVerfG, BGH) auf eine verbindliche Grundlage gestellt worden. Für die Auslegung von Verfassungsbestimmungen hat das BVerfG auf der Grundlage der klassischen Regeln für die Gesetzesauslegung einige weitergehende Auslegungsregeln entwickelt (verfassungskonforme Auslegung, Konkordanz von Verfassungsnormen).

|35|Gesetzesauslegung

In seinem Urteil vom 21. Mai 1952 hat sich das BVerfG[12] für die Auslegung von Gesetzesvorschriften zu den klassischen Regeln der Gesetzesauslegung bekannt: Dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung (grammatische Auslegung), den Anhaltspunkten für das richtige Verständnis des abstrakten Wortlauts aus den parlamentarischen Gesetzgebungsmaterialien (historische Auslegung), die systematische Kontrolle und ggf. Korrektur der Textbedeutung durch den regulatorischen Sinnzusammenhang, den eine einzelne Gesetzesbestimmung aus ihrem Gesamtzusammenhang mit den anderen Bestimmungen des jeweiligen gesetzlichen Regelungswerks erfährt (systematische Interpretation), sowie schließlich dem Zweck der Gesetzesbestimmung (teleologische Interpretation), womit wohl überwiegend die Bemühung des Interpreten um eine im konkreten Streitfallkontext zu realisierende Regelungsabsicht des Gesetzgebers zu verstehen sein dürfte. Grundprobleme der teleologischen Gesetzesauslegung sind bis heute nicht gelöst. Sie bewegen sich zwischen der (imaginären) Suche nach einem angeblich im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden „objektiven Willen“ des Gesetzgebers (BVerfG)[13] und einer (deutlich realistischeren) Konkretisierungsarbeit, um den konkreten Streitfall an die für diesen Fall schrittweise zu erarbeitende einschlägige Bedeutung des abstrakten Gesetzestextes heranzuführen (Friedrich Müller)[14]. Erst wenn diese fallbezogene Arbeit geleistet ist, so die Grundthese, sei eine konkrete Fallösung durch den Gutachter oder den Richter möglich.