Roland Emmerich

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Aus der Reihe: Film-Literatur
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Das Centropolis-Projekt:

Familienbande

Während der Dreharbeiten zu Das Arche Noah Prinzip geht das Geld aus. Das Projekt wird gestoppt. Es folgt eine Krisensitzung. Roland Emmerich, der seit Monaten an dem Film arbeitet, berät sich mit seinem Vater Hans (16.2.1923 – 1.1.2005), der schon von Anfang an sein finanzieller Berater ist.

Als Hans Emmerich, der im Nachkriegs-Deutschland zusammen mit seinem Bruder Heinz höchst erfolgreich die Kleinmotoren-Gesellschaft SOLO gründete, Anfang der 1980er Jahre durch seinen Sohn mit der Filmwelt in Berührung kommt, betrachtet er dieses Metier aus der Sicht des versierten Geschäftsmannes. Sofort macht er sich mit den Mechanismen des Marktes sowie den Zahlen und Fakten vertraut. Selbstverständlich studiert er auch alles zum Thema Filmförderungs- und Finanzierungs-Möglichkeiten. Es ärgert ihn natürlich maßlos, dass die Finanziers seinen Sohn mitten in den Dreharbeiten im Stich zu lassen gedenken, weshalb er vorschlägt, eine eigene Filmproduktions-Gesellschaft zu gründen, an der auch Roland und seine Schwester Ute beteiligt sein sollen.

Am 26. Januar 1982 wird die „Filmgemeinschaft Arche Noah Prinzip“ gegründet, die man einige Jahre später in „Centropolis“ umtauft. Der Name ist eine Anspielung des Regisseurs auf einen seiner Lieblingsfilme, den Science-Fiction-Klassiker Metropolis von Fritz Lang. Mit dieser eigenen Produktionsgesellschaft ist es ihm nun möglich, die Herstellung seiner Filme maßgeblich selbst zu kontrollieren sowie die Einflussnahme von Co-Produzenten auf ein Minimum zu reduzieren.

Interview mit Hans Emmerich:

„Chaotische Verhältnisse“

Wie haben Sie als schwäbischer Geschäftsmann, der sein Geld bevorzugt mit Rasenmähern und Spritzpumpen verdient, den Einstieg Ihres Sohnes ins Filmgeschäft erlebt?

HE: Ich war etwas irritiert wegen der chaotischen Verhältnisse, die bei Rolands erster Produktion in finanzieller Hinsicht herrschten. Es war zum Teil recht abenteuerlich, wie dort Kostenkalkulationen erstellt wurden. Aber die Finanzierung wurde natürlich von Film zu Film geordneter und damit besser und professioneller. Weil uns nicht so viel Geld zur Verfügung stand, mussten wir natürlich bei den Produktionen sparen, wo immer es möglich war. Ich bemerkte im Laufe der Zeit, dass es ein großer Fehler war, sich mit anderen Produzenten die Herstellungsrechte zu teilen. Wenn Sie einmal Rechte abgeben, können Sie an diesem Zustand nichts mehr ändern und es kann Ihnen später sehr viel Ärger einbringen. Bei den ersten Produktionen waren wir nur zu 50 Prozent beteiligt, dann mit 60 und bei Moon 44 schließlich mit 100 Prozent. Wir hatten einfach zu viele schlechte Erfahrungen gemacht mit zusätzlichen Rechte-Inhabern:

Beraten Sie Ihren Sohn auch heute noch in finanziellen und produktionstechnischen Fragen?

HE: Nein! Das letzte Mal, dass er mich zu Rate zog, war, als er das Angebot bekam, nach Hollywood zu gehen. Da prüften wir gemeinsam die Verträge. Von hier aus in Amerika mitzumischen, ist völlig unmöglich. Wir hatten damals die Idee, den Film in Deutschland zu drehen, aber das zerschlug sich im Laufe der Zeit. Ich bin aber auch ganz froh darüber, dass ich damit nicht mehr so viel zu tun habe. Es war für mich eine Zusatzbelastung, vor allem wegen der zahlreichen unerquicklichen Rechtsstreitigkeiten.

Haben Sie sich nie gewünscht, dass Roland in Ihre Firma einsteigt?

HE: Das stand nie zur Debatte. Es war uns schon früh klar, dass er einen künstlerischen Beruf ergreifen wollte, schließlich las und zeichnete er unentwegt. Er interessierte sich für alles, bloß nicht für unsere Maschinen. Ich trug es damals mit Fassung, dass er zur Filmhochschule wollte, weil ich wusste, dass seine Chancen, aufgenommen zu werden, sehr gering waren. Als er dann doch einen Studienplatz bekam, habe ich nicht schlecht gestaunt. Als er mit seinem Debüt Das Arche Noah Prinzip für so viel Aufsehen sorgte, war ich überzeugt davon, dass er alles richtig gemacht hatte.

Wie erleben Sie den Erfolg Ihres Sohnes?

HE: Wenn man sich die Geschichten vieler älterer Regisseure anhört, erfährt man, dass es oft Jahre dauern kann, bis man in Hollywood die Möglichkeit bekommt, Projekte zu realisieren. Während damit viele Regisseure lange auf ihren Erfolg warten müssen, ging es bei Roland im ICE-Tempo. Ich konnte es eigentlich gar nicht glauben. Mittlerweile werde ich natürlich ständig von Leuten auf Roland angesprochen und bekomme auch jede Menge Briefe von Filmbegeisterten, die uns Bewerbungen schicken. Aber da können wir natürlich nicht weiterhelfen, Roland hat sehr viel zu tun und die amerikanische Filmbranche hat ihre eigenen Gesetze. Deshalb bekommen alle ihre Schreiben mit einem freundlichen Brief zurückgeschickt.

Joey:

Emmerich huldigt seinem Vorbild

Sommer 1984. Roland Emmerich beginnt mit den Dreharbeiten zu Joey, einem Fantasy-Film um einen parapsychologisch begabten Jungen, der mit der Geisterwelt kommuniziert. Währenddessen lässt jenseits des Großen Teichs Indiana Jones und der Tempel des Todes die Kinokassen klingeln und spielt 180 Millionen Dollar ein. Es ist der jüngste Kassenrenner von Emmerichs Idol Steven Spielberg, dem erfolgreichsten Filmemacher aller Zeiten. Seinen ersten Blockbuster hatte der US-Regisseur zehn Jahre zuvor, als 27-Jähriger mit dem legendären Schocker Der weiße Hai. Danach folgten der UFO-Thriller Unheimliche Begegnung der dritten Art, der Abenteuerfilm Jäger des verlorenen Schatzes und das Science-Fiction-Märchen E.T., Spielbergs bis dato persönlichster Film. Mit dem außerirdischen Runzelgnom, der von seinen Artgenossen aus Versehen auf der Erde zurückgelassen und zum besten Freund eines einsamen kleinen Jungen wird, schuf er eine Figur, die er sich selbst, als er die Scheidung seiner Eltern miterleben musste, oft herbeigesehnt hatte.

Spielberg war ein ähnlicher Außenseiter wie der kleine Elliott im Film, fühlte sich allein und hätte gerne jemanden wie E.T. an seiner Seite gehabt. Das anrührende Science-Fiction-Epos kostete nur zehn Millionen Dollar, brach aber sämtliche Kassenrekorde und wurde zu einem der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Unter den Zuschauern, die 1982 in die Kinos strömten, war auch Roland Emmerich, damals noch Student an der Münchner Filmhochschule und gerade beschäftigt mit der Herstellung seines ersten eigenen Spielfilms Das Arche Noah Prinzip. Die Machart und emotionale Kraft von E.T. hinterließen einen bleibenden Eindruck beim Jung-Regisseur und so keimte in ihm bald die Idee, eine Hommage auf das Hollywood-Phantastik-Kino im Allgemeinen und E.T. im Besonderen zu inszenieren. Von der ursprünglichen Idee, eine Reinkarnations-Komödie für Erwachsene zu drehen, entfernte er sich dann aber wieder und entwickelte stattdessen ein Fantasy-Spektakel für Kids.

Die Geschichte handelt vom neunjährigen Joey (Joshua Morrell), der in einer amerikanischen Kleinstadt lebt und sich weigert, den Tod seines Vaters zu akzeptieren. Der Film beginnt mit einer vertikalen Kranfahrt, in der wir einen Leichenwagen und eine Phalanx von Autos auf die Kamera zufahren sehen. Wir werden Zeuge einer Beerdigung. Der kleine Joey sitzt völlig paralysiert da und nimmt die Kondolenzbekundungen wie in Trance auf. Der Tod seines Vaters stürzt den Kleinen in tiefe Verzweiflung. Zu Hause sitzt er in seinem Zimmer und betrachtet ein altes Foto von sich und seinem Daddy beim Basketballspiel. Joey erinnert sich an die schönen Zeiten und meint: „Bitte, Daddy, komm zurück!“

Just in diesem Moment scheint er parapsychologische Fähigkeiten zu entwickeln, schafft er es doch allein dank seiner Willenskraft, einen rollenden Ball zu stoppen. Plötzlich beginnen sich verschiedene Spielzeuge in seinem Zimmer wie von Geisterhand zu bewegen: Karten fliegen durch die Luft, ein Spielzeug-Affe zieht Grimassen, Bälle beginnen zu leuchten, ein Miniatur-Polizeiauto fährt durchs Kinderzimmer. Dann watschelt auch noch der kleine weiße Roboter Charlie auf ihn zu und gibt aufgeregte Pieps-Geräusche von sich. Noch unheimlicher wird das Ganze, als plötzlich ein rotes Spielzeug-Telefon aus Plastik zu klingeln beginnt. Am anderen Ende meldet sich Joeys toter Vater: Der Kleine unterhält sich unter seiner Return of the Jedi-Bettdecke mit ihm.

Währenddessen bricht in Virginia Beach das komplette Stromnetz zusammen. Vor Joeys Zimmertür hört seine Mutter Laura (Eva Kryll), wie ihr Sohn sich mit jemandem unterhält, und ist verzweifelt, weil sie glaubt, er würde den Verstand verlieren. Auch in der Schule bringt – außer seinem Lehrer Martin (Jan Zierold) und Joeys kleiner Freundin Sally (Tammy Shields), die von dessen telekinetischen Fähigkeiten weiß – niemand Verständnis für ihn auf; sie halten ihn für einen Freak.

So bekommt er einmal von Mitschülern ein kleines Plastik-Skelett zugeschoben mit dem Hinweis, dass sein Vater genau so aussehe. Als der Lehrer die Übeltäter ermahnt, nicht so grausam zu sein, erklären sie: „Er ist ja gar nicht tot – er telefoniert doch mit ihm.“

In einem alten verfallenen Nachbarhaus entdeckt Joey dann in Begleitung seines Hundes Scooter mitten in einem Berg alten Gerümpels eine seltsame Bauchrednerpuppe mit Monokel. Er nimmt sie mit in sein Zimmer und ahnt nicht, dass er damit das Böse ins Haus eingeschleust hat. Denn Fletcher, so der Name der Puppe, ist von einem Dämon besessen. Als Joey sich in der Küche mit seiner Mutter unterhält und ihr eine Kostprobe seiner übersinnlichen Fähigkeiten gibt, attackiert Fletcher Roboter Charlie. Dann klingelt wieder das rote Telefon – und als Joey sich nach oben begibt, kommt es zu einem neuerlichen Zwischenfall: Fletcher verhindert, dass der Junge mit seinem Vater telefoniert und schießt blaue Blitze auf ihn, die ihn durch die Luft schleudern lassen. Joey blickt in die teuflischen Augen der Puppe und stellt fest: „Du bist böse!“ Die Puppe lässt daraufhin ein altes TV-Gerät durch die Luft schweben, auf dessen Bildschirm eine Dokumentation über einen Bauchredner namens ­Jonathan Fletcher läuft, dessen Frau und Kind bei einem mysteriösen Unfall getötet wurden. Und auch der Mann selbst kam 1954 durch ungeklärte Umstände ums Leben …

 

Plötzlich sieht Joey dann auf dem Bildschirm seine Mutter, wie sie in der Küche steht. Er ahnt Fürchterliches: Und tatsächlich lässt die mörderische Puppe Messer durch die Luft wirbeln, um Laura zu verletzten. Aber die Messer-Attacke schlägt glücklicherweise fehl, Fletcher verschwindet.

Beim Abendbrot wird Joeys Lehrer Martin, der die Familie besucht, Zeuge von Joeys ungewöhnlichen Fähigkeiten. Er spürt sie sogar am eigenen Leib: Als er zum Löffel greifen will, ist dieser siedend heiß und er verbrennt sich entsetzlich.

Joey fühlt sich von seiner Mutter verraten, weil sie dem Lehrer alles erzählt hat. Er zieht sich in sein Zimmer zurück und telefoniert mit seinem Vater. Da taucht auf einmal Fletcher wieder auf. Er sorgt dafür, dass Laura und Martin von einem Auto und einem Monster in der Mülltonne attackiert werden. Im Schrank des Kinderzimmers öffnet er eine neue Dimension und fordert Joey auf, ein Spiel zu spielen. Erst im letzten Augenblick kann ihn der Junge überwältigen.

Am nächsten Morgen taucht überraschend eine riesige Lastwagen-Kolonne auf: Eine Gruppe von Parapsychologen ist Joey auf die Spur gekommen, den man als Ursache für die Störungen im gesamten Telefonnetz ausgemacht hat. Während Joey von den Wissenschaftlern untersucht wird, postieren sich mehrere seiner Mitschüler um das Haus und bereiten sich auf einen Angriff vor. In dessen Verlauf befreit eines der Kinder den gefesselten und geknebelten Fletcher und nimmt ihn mit in das düstere Nachbarhaus, wo die Kids inzwischen im Keller ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben und nicht ahnen, dass die Puppe teuflische Kräfte besitzt. Fletcher lockt die Kleinen in eine Falle. Sie fliehen in ein düsteres Albtraum-Labyrinth, in dem sie mit ihren schlimmsten Ängsten konfrontiert werden.

In einem verlassenen Zimmer kommt es schließlich zum Showdown: Dort steht ein alter verstaubter Sessel, auf dessen Lehne die Bauchredner-Puppe sitzt – als plötzlich der Geist von Jonathan Fletcher, dem Puppenspieler, erscheint. Joey kann ihn davon überzeugen, die Puppe wieder unter Kontrolle zu bringen: Fletcher explodiert. Allerdings tritt Joey im Verlauf der Auseinandersetzung durch eine Tür, die, so sieht es zumindest aus, ins Jenseits führt …

Joeys lebloser Körper wird schließlich gefunden, Wiederbelebungs-Maßnahmen scheitern. Der Junge stirbt. Seine Freundin Sally und die Klassenkameraden nehmen an seinem Totenbett Abschied. Als sie Joeys Zimmer verlassen, verharrt allein Sally vor dessen Tür, spürt sie doch, dass ihr Freund nicht wirklich tot ist. Und tatsächlich heben sich plötzlich ihre Zöpfe, als würden sie von Geisterhand nach oben gezogen. Roboter Charlie erwacht zum Leben, Spielzeuge fliegen durch die Luft. Gerade, als Sally in Joeys Zimmer zurückgehen will, friert das Bild ein und der Film ist zu Ende.

Einmal mehr zeigte sich Emmerich auch hier wesentlich stärker an der visuellen Gestaltung als an der Story interessiert, wobei er ein Zelluloid-Werk schuf, das auf verspielt-charmante Weise seine eigenen Kinovorlieben reflektiert. Vielen filmischen Vorbildern setzte er mit Hilfe dieser „beschwingten Zitatensammlung“ ein Denkmal. Alles in Joey bezieht sich auf die phantastischen Kinowelten jenseits des Großen Teichs: Ähnlich wie E.T. telefoniert auch Joey mit einer fremden Welt, wie in Brian De Palmas Stephen-King-Verfilmung Carrie surren Messer durch die Luft, wie in Tobe Hoopers Poltergeist beginnen im Kinderzimmer Spielzeuge zu schweben, wie in John Carpenters Christine wird ein Auto plötzlich von einem Dämon befallen. Stanley Kubricks legendärer Sternenflug am Ende von 2001: Odyssee im Weltraum ist gleichsam auch in Joey zu erleben, wenn der kleine Junge die Tür zum Jenseits öffnet und die andere Dimension betritt. Das unrühmliche Ende der scheußlichen Bauchrednerpuppe wiederum erinnert stark an die Nazi-Schergen, die sich am Ende von Jäger des verlorenen Schatzes in ihre Bestandteile auflösen. Auch sie werden durch überirdische Energiefelder erst zum Schmelzen, dann zum Explodieren gebracht.

George Lucas’ Krieg der Sterne kann im Zusammenhang des Films einen regelrechten Sonderstatus beanspruchen, wurde dieser doch durch diverse Merchandising-Produkte wie Star Wars-Bettwäsche oder Darth Vader-Faschingsmasken beinahe in jeder Einstellung gewürdigt. Zudem fliegen sowohl „TIE-Fighter“ als auch der „Rasende Falke“ durch die Flure von Joeys Zuhause und liefern sich wilde Gefechte. Besondere Bedeutung wiederum kommt auch einem „Allterrain“-Angriffstransporter aus Das Imperium schlägt zurück zu, wenn es diesem gegen Ende des Films gelingt, ein Kind im Darth-Vader-Kostüm in die Flucht zu jagen. Dabei ist er doch nur ein Spielzeug. Der „Dunkle Lord“ darf übrigens sogar in persona auftreten: Als die Kinder im dämonischen Labyrinth mit ihren eigenen Ängsten konfrontiert werden, taucht plötzlich Lord Vader auf, bewaffnet mit Laserschwert. Und selbstverständlich darf auch nicht der berühmteste aller Star Wars-Sprüche fehlen. Als Joeys Klassenkameraden ihre Attacke auf dessen Haus besprechen, heißt es freilich: „Möge die Macht mit uns sein.“

Ganz nebenbei demonstriert Emmerich mit seinem Film aber auch, wie minutiös er die Spezialeffekte seiner amerikanischen Kollegen analysiert und adaptiert hat. Im Prinzip kann Joey als tricktechnisches Muskelspiel betrachtet werden, als Zurschaustellung inzwischen erworbener handwerklicher Fähigkeiten. Wobei auch gesagt sei, dass einige der Bluescreen-Kopiertricks, vor allem jene, die das fliegende Spielzeug zeigen, dem heutigen Standard natürlich nicht mehr genügen. Oft sind bei den einkopierten Gegenständen die verräterischen blauen Ränder dieser speziellen Effekt-Technik zu erkennen. Zum damaligen Zeitpunkt vermochten diese Tricks jedoch in Erstaunen zu versetzen.

In einer Schlüsselszene läutet Joeys Spielzeugtelefon und kündigt so eine unheimliche Begegnung der jenseitigen Art an. Der Zuschauer spürt die Kraft dieser anderen Welt deutlich, weil er sieht, wie sich der Raum hinter dem Telefon auf magische Weise verschiebt. Die Kamera fuhr bei dieser Aufnahme langsam auf das Telefon zu, während gleichzeitig rückwärtsgezoomt wurde, um den identischen Bildausschnitt beizubehalten. Dadurch wird der Eindruck erzeugt, der Raum jenseits des Telefons gerate in Bewegung. Diesen wirkungsvollen Kamera-Effekt kannte Emmerich von einer legendären Szene aus Der weiße Hai: Polizeichef Brody (Roy Scheider) sitzt am Strand, beobachtet das Meer und wird plötzlich Zeuge, wie ein kleiner Junge von einem Weißen Hai gefressen wird. Steven Spielberg war indes mitnichten Erfinder dieses grandiosen optischen Effekts. Entwickelt worden war er vielmehr vom „Master of Suspense“ höchstpersönlich, von Alfred Hitchcock. Dieser suchte 1958 für sein Meisterstück Vertigo eine filmische Möglichkeit, um das Publikum ähnlich wie seine Hauptfigur ein Schwindelgefühl erfahren zu lassen. Lange tüftelte er mit seinen Technikern an einer Lösung und fand sie in diesem speziellen Kamera-Trick, der Travelling Zoom oder eben auch „Vertigo-Effekt“ genannt wird.

Gewappnet mit dem technischen und dramaturgischen Know-how der US-Traumfabrik, begann Emmerich mit den Vorbereitungen zu Joey. Die Erfahrungen mit dem Arche Noah Prinzip, der nur rund 250.000 Zuschauer in die Kinos locken konnte, hatten ihn gelehrt, dass der deutsche Absatzmarkt alleine kaum gewinnträchtige Einspielergebnisse ermöglichte. Dafür war er einfach zu klein. Deshalb entschloss er sich von Anfang an, Joey in englischer Sprache zu drehen, um die Produktion international vermarkten zu können. Als sehr schwierig gestaltete sich die Suche nach einem passenden Darsteller des Titelhelden, schließlich handelte es sich dabei nicht um einen Erwachsenen, der von einem professionellen Schauspieler hätte verkörpert werden können, sondern um ein Kind. Dieses musste noch dazu neben schauspielerischem Talent auch perfekte Englischkenntnisse besitzen. Das Filmteam sah seine einzige Chance darin, sich bei den Familien von in Deutschland stationierten US-Soldaten umzusehen, um dort ein geeignetes Kind ausfindig zu machen.

Nachdem über 1.000 Bewerber sich in einem Casting vorgestellt hatten, wurde Emmerichs Geduld endlich belohnt. In der Siedlung Robinson Barracks bei Stuttgart stellte sich ein aufgeweckter neunjähriger Junge vor, dessen Spontaneität und unbeschwerte Art, sich vor der Kamera zu bewegen, großen Eindruck auf den Regisseur machte: Joshua Morrell wurde zu weiteren Probeaufnahmen eingeladen und schließlich engagiert. Der auf Hawaii geborene Sohn der Mormonen Reid B. und Suzan Morrell hatte später bei den Dreharbeiten ständig Besuch von seinen fünf Geschwistern. Ihr Familienleben wurde einfach am Set von Joey weitergeführt. Weitere Nachwuchs-Mimen fand Emmerich unweit der Pattonville-Kasernen in der Nähe von Ludwigsburg.

Sein eigenes kindliches Gemüt half ihm beim Dreh dabei, sich mit seinen Darstellern zu verständigen, sich in ihre Situation einzufühlen. Er verstand sehr gut, dass es für sie schwierig war, Geduld aufzubringen, wenn eine Szene fünf- oder zehnmal wiederholt werden musste. Deshalb bemühte sich der Regisseur am Set um eine lockere und spielerische Atmosphäre. In den Pausen rasten die Kids über das Set, warfen sich Bälle zu, tollten herum, als seien sie auf einem großen Spielplatz.

Emmerich nahm es nach außen hin gelassen, auch wenn einmal ein Kind, das für eine Aufnahme gebraucht wurde, plötzlich spurlos verschwunden war. In Wirklichkeit waren seine Nerven jedoch verständlicherweise bis zum Zerreißen angespannt. Nicht allein, weil die Drehzeit mit den Kindern täglich auf wenige Stunden begrenzt war und er den strengen Arbeitszeit-Auflagen genau Folge leisten musste, um keine Schwierigkeiten mit den Behörden zu bekommen, sondern auch deshalb, weil sich das Projekt als organisatorischer Albtraum entpuppte. Dem Grundsatz treu bleibend, außerhalb der etablierten deutschen Filmwirtschaft zu drehen und in seiner schwäbischen Heimat eigene Kino-Produktionsstätten aufzubauen, verwandelte der Regisseur einmal mehr alte Lager- und Fabrikhallen in ein Filmstudio. Dafür musste seine Filmcrew erst einmal die notwendige Infrastruktur schaffen. Glücklicherweise war das Team, das zum größten Teil aus kinobegeisterten Laien bestand, so sehr motiviert, dass all diese Hürden schließlich genommen werden konnten.

Selbstverständlich engagierten sich auch diesmal Handwerker aus der väterlichen Firma, um in der Sindelfinger Ausstellungshalle die Dekors von Inneneinrichtungen und Kellergewölben zu bauen.

Im Döffinger Steinbruch „Sumpf“ entstanden die Außenaufnahmen. Unter den neugierigen Blicken der einheimischen schwäbischen Bevölkerung zimmerten dort die Kulissenbauer vier Monate lang an einem typisch amerikanischen Kleinstadthaus aus Virginia. Nicht wenig erstaunt waren die Zaungäste, als dann auch noch fünf 38-Tonner der US-Armee auf das Gelände ratterten, die im Film die Ankunft von Parapsychologen und Technikern des Institute of Psychological Research ankündigen. Um das authentische Bild eines amerikanischen Provinznestes – zumindest so, wie wir es aus dem Kino kennen – perfekt in Szene zu setzen, durften weder US-Streifenwagen noch die dazugehörigen Sheriffs fehlen. Die Polizeisirenen, auf in Deutschland gekaufte Gebrauchtwagen montiert, waren ebenso authentisch wie die Uniformen der Cops.

Perfektionist Emmerich war sich dessen bewusst, welch große Rolle Details spielen, schließlich visierte er mit dieser Produktion auch den bedeutsamen US-Markt an: Hätten die dortigen Zuschauer die uramerikanische Kleinstadtwelt von Joey nicht akzeptiert und als schwäbische Provinz enttarnt – ein Flop wäre vorprogrammiert gewesen. Aus diesem Grund aktivierte der junge Film-Enthusiast seine Amerika-Connection und wurde von Johnny Underwood, dessen Familie er als Halbwüchsiger mehrfach in den Sommerferien besucht hatte, beratend unterstützt. Von seinen Bekannten aus Newport News, Virginia, erhielt er neben wertvollen Tipps für den Bau des Virginia-Hauses zudem begehrte Ausstattungselemente wie Polizeisirenen, Uniformen, Teppiche, Sofas und Lichtschalter.

Nachdem das Team die Dreharbeiten in und um Sindelfingen herum beendet hatte, flog es dann im Januar 1985 nach Newport News, um dort zwei Wochen lang zusätzliche Außenaufnahmen zu drehen.

Emmerich hatte bei der Wahl seiner Mitarbeiter wieder darauf geachtet, den inneren Zirkel mit alten Freunden zu besetzen. So stand einmal mehr Egon Werdin hinter der Kamera, während Tomy Wigand den Schnitt besorgte. Ähnlich wie beim Arche Noah Prinzip kam auch bei Joey dem Elektroingenieur Hubert Bartholomae eine zentrale Rolle zu. Dessen Aufgabe bestand neuerlich darin, die Filmmusik zu komponieren und das Soundgerüst für die Dolby-Stereo-Fassung zu entwickeln. Damit nicht genug, hatte Bartholomae auch noch den Job des Visual Effects Supervisor zu übernehmen.

 

Bei Emmerichs Debüt hatte seine Kernaufgabe darin bestanden, ein Raumschiff-Modell aus einem Plastikbausatz und Cola-Dosen herzustellen. Diesmal waren die Anforderungen um ein Vielfaches höher. Bereits die ersten Entwürfe hatten gezeigt, dass Joey Effekte benötigte, die in vorhandenen deutschen Trickstudios unmöglich zu realisieren gewesen wären. Auch die Alternative, die Visual Effects in England oder Amerika herstellen zu lassen, schied wegen der immensen Kosten schon früh aus. Die einzige Möglichkeit bestand also darin, dass das Team sich ein eigenes Trickstudio baute. Bartholomae, der ähnlich wie Emmerich davon träumte, in Deutschland eines Tages großes Kino zu produzieren, stürzte sich in die Arbeit.

Wieder einmal hatte der brillante Effekt-Tüftler die Aufgabe, sich Möglichkeiten zu überlegen, um für wenig Geld Emmerichs phantastische Kinowelt so wirkungsvoll wie möglich auf Zelluloid zu bannen. Nach eigenen Entwürfen und denen des Regisseurs konstruierte er in der Folge sowohl den quirligen Spielzeug-Roboter Charlie als auch die böse Bauchredner-Puppe Fletcher, die natürlich ferngesteuert werden konnte. Während des Drehs war Bartholomae für sämtliche mechanischen Effekte verantwortlich. Aber er entwickelte auch Gerätschaften für die vielen komplizierten Kopiertricks des Films. Seine Pioniertat bestand allerdings im Bau einer computergesteuerten Motion-Control-Kamera ähnlich der, die einst die legendären Raumschlachten in Krieg der Sterne ermöglichte hatte. Mit diesem digitalen Zaubergerät lassen sich Bilder erzeugen, in denen die Kamera sich mühelos zwischen Raumschiffen oder fliegenden Spielzeugen bewegen kann. Zuerst werden die Modelle vor einem blauen Hintergrund aufgenommen. Die Bilder, die später anstatt der blauen Wand als Hintergrund zu sehen sein sollen, z.B. das Weltall oder ein Spielzimmer, je nachdem, was das Drehbuch verlangt, werden separat aufgenommen. Diese beiden Aufnahmen kopiert man dann in der Postproduktion übereinander, so dass sie eine Einheit bilden. Sämtliche Bewegungen der Kamera und der Gegenstände müssen in beiden Aufnahmen exakt übereinstimmen, damit der Trick nicht sichtbar wird. Bartholomaes kleines technisches Wunderwerk bestand aus einem computergesteuerten Kran mit einem 3-Achsen-Kamerakopf auf Schienen, bei dem jede Achse separat ansteuerbar war.

Die tricktechnische Nachbearbeitung, die bereits im November 1984 begann, stellte sich als extrem kompliziert heraus. Emmerich wäre beinahe daran verzweifelt. Mit der Arbeit eines Berliner Trickstudios, das er für verschiedene Bluescreen-Tricks angeheuert hatte, war er alles andere als zufrieden, weshalb unzählige Effekt-Aufnahmen noch einmal wiederholt werden mussten. Ein weiteres Mal griffen seine Effekt-Magier tief in die Trickkiste und warteten mit allem auf, was bis dahin als Domäne amerikanischer Visual-Effects-Spezialisten galt: von der altehrwürdigen Stop-Motion-Technik, bei der Gegenstände einzelbildweise aufgenommen werden, was im fertigen Film den Eindruck von echter Bewegung vermittelt, über „Matte Paintings“, gemalte Filmkulissen, bis hin zur Technik der „Travelling-Matte“, also Wandermasken, mit denen sich Modelle in Realaufnahmen einkopieren oder für superrotoskopierte Zeichentrick-Effekte nutzen lassen.

Aufgrund der komplizierten Trick-Arbeiten wurde der Starttermin des Films mehrfach verschoben. Es war vor Beginn des Drehs einfach für niemanden kalkulierbar gewesen, wie groß der Aufwand werden würde, schließlich hatte vorher noch kein deutscher Regisseur ein tricktechnisch ähnlich anspruchsvolles Unternehmen gewagt.

Mit Joey gelang Emmerich der Beweis, dass Effekt-Kino von internationalem Format auch in Deutschland realisierbar war und dazu den Vorteil hatte, wesentlich billiger zu sein als die Gegenstücke aus Hollywood. Er hatte gelernt, mit einem engagierten Team und viel technischem Know-how eine Produktion auf die Beine zu stellen, die wesentlich aufwendiger wirkte, als sie in Wirklichkeit war. Und obgleich in sämtlichen Medien kolportiert wurde, Joey habe zehn Millionen Mark verschlungen, waren es letztlich nicht einmal dreieinhalb.