Gottes Weg mit den Menschen

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Aus der Reihe: Forschung zur Bibel #134
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Dass das Kind vom Heiligen Geist gezeugt ist (Mt 1,18.20), verbürgt seine Göttlichkeit; dadurch aber, dass es den Namen Jesus erhält und auch so angesprochen wird (Mt 1,21.25), wird das Kind rechtlich in das davidische Geschlecht eingereiht; seine Davidssohnschaft wird konkretisiert. Der Name Jesus drückt das Menschsein des messianischen Kindes aus, mit dessen Geburt sich die Heilsverheißung Gottes an Israel erfüllt. Joseph adoptiert dieses Kind und verschafft ihm dadurch das Recht in der Nachkommenschaft Davids, das Gott ihm durch den Heiligen Geist zuerkannt hat. Joseph vollzieht das schöpferische Wirken Gottes rechtlich nach.

Der Name

Der Name Jesus, den Joseph dem geistgezeugten Kind geben wird (vgl. Mt 1,21), erklärt sich aus der hebräischen Etymologie. Jesus (’Iησόῦς) leitet sich vom alttestamentlichen Jeschua/ישוע („Jahwe ist Rettung / Heil“) ab, das eine nach dem Exil verkürzte Form des Jehoschua/יהושע (retten, befreien, helfen)30 ist. Während die jüdische Tradition dabei an die politische bzw. kriegerische Rettung vor der Fremdherrschaft denkt, ist für Matthäus Jesus das Subjekt der Rettung von der Sünde. Insofern man in dieser kürzeren Namensform ישוע noch ein weiteres Verbum ישו (retten bzw. heilen) heraushören kann, hat der Name Jesus auch eine inhaltliche Entsprechung im griechischen Wort σωζeιυ31. Darin spiegelt sich wider, dass dieses Kind seine messianische Sendung, den Heilswillen Gottes zu verwirklichen, erfüllen wird.32 Die Namensetymologie aus dem hebräischen Wortsinn lässt sich bei Matthäus mit der griechischen Wiedergabe von Mt 1,21 (αὐτòς γὰp σώσει τόυ λαòν αὐτòῦ άπò τῶν ἁμαρτιῶν αὐτώυ) erkennen, wobei Ps 130,8 (129,8 LXX: καί αύτòς λuτpώσeται τòν Iσpαηλ έκ πασῶν τῶν ἀνομιῶν αύτoϋ) anklingt.33 Dadurch wird die Herkunft des Namens Jesus nicht nur semantisch geklärt, sondern seine Funktion als Retter soteriologisch ausgelegt. Dem zu erwartenden Kind soll der Name Jesus gegeben werden, weil dieses Kind34 – aufgrund der Verheißung für Israel – sein Volk von seinen35 Sünden erlösen wird. Nomen est omen. Die Namensgebung ist Heilsprogramm. Der Heilswille Gottes begründet bei Matthäus den Auftrag zur Namensgebung (γάρ: Mt 1,21; diff. Lk 1,31). Dieser erfüllt sich durch die Rettung Jesu, die sich im Verlauf des Evangeliums entfalten wird und deren Thematik schon hier in Mt 1,21 mit Hilfe der futurischen Formulierung (σώσει) programmatisch angesagt ist.36 Im Namen Jesus „steht Gott im Hintergrund des Handelns. Doch bindet sich das theophore Moment in der Person Jesu. Jesus bringt und repräsentiert Gottes Retten personal37. Gottes Heilszusage, die dem sündigen „Volk“ gilt, wird durch das Kommen Jesu von Nazareth und dessen Wirken in sichtbarer, geschichtlicher und personaler Weise eschatologisch erfüllt.

2.1.2 Das Volk Jesu

Wer wird von Jesus gerettet? Auf diese Frage antwortet Mt 1,21 mit dem Terminus λαός. Die Meinungen in der Forschung, was unter „Volk“ zu verstehen ist, sind sehr unterschiedlich. Es wäre problemlos, wenn Matthäus hier wie in Mt 2,6 eindeutig „mein Volk Israel“ (τόν λαόν μου τὸν ’Ισραήλ; vgl. 2Sam 5,2) schreiben würde. Er setzt aber abweichend von der Aussage aus Ps 130,8 (129,8 LXX) anstelle „Israel“ die Wendung „sein Volk“ (τὸν λαὸν αὐτoῦ). Damit entsteht eine Debatte um die Frage, wer zum Volk Jesu gehört. Diese Debatte dauert an. Die Deutung des Begriffs bleibt so offen, dass auch die spätere (christliche) Leserschaft mitgemeint sein kann.38 Aber auf der Erzählebene des Matthäusevangeliums ist unter ό λαός in Mt 1,21 zunächst das Volk Israel zu verstehen.39 Dafür gelten folgende Argumente40:

1) Im Frühjudentum war die Erwartung des Messias aus dem Haus Davids verbreitet.41 Es waren vor allem die Juden als Erst-Rezipierende, die mit großer Hoffnung das Kommen des Retters erwarteten.

2) Mit einer Ausnahme von Mt 4,16 verwendet Matthäus diesen Terminus λαός für die Juden, sei es mit einer allgemeinen Bedeutung (Mt 4,23; 26,5; 27,25.64), sei es mit einer negativen (Mt 13,15; 15,8). Auch in der geläufigen Ausdrucksweise „die Hohenpriester und Ältesten des Volkes“ (Mt 2,4; 21,23; 26,3.47; 27,1) zeigt sich, dass das jüdische Volk als Volk des Bundes im Unterschied zu den Völkern gemeint ist.

3) Das direkt mit λαός verbundene Possessivpronomen αϋτoῦ lässt die Beziehung Jesu zum Volk erkennen. Jesus wusste sich von dem „Gott Israels“ (Mt 15,31) zu seinem erwählten Volk gesandt, und zwar „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24; vgl. 23,37). Er sandte die von ihm erwählten Jünger nicht zu den Heiden aus, sondern ausschließlich zu den Juden (Mt 10,5f.). Jesus als „Israels König“ (Mt 27,42) diente also der Rettung Israels. Er selbst war Israelit; er stammte aus dem Haus Davids (Mt 1,2-17). Die „Überschrift“ des Evangeliums bezeichnet ihn als „Sohn Davids“ (Mt 1,1), der der Messias ist (Mt 1,16). Nach der alttestamentlichen Verheißung (Mt 1,22f.) wurde Jesus als wahrer Mensch in Bethlehem, der Davidsstadt, geboren (Mt 2,1.6). Gemäß seiner jüdischen Abstammung hält er zum einen an der jüdischen Tradition fest – z. B. am Gesetz (Mt 5,17-20), an jüdischen Frömmigkeitsübungen (Almosen, Gebet und Fasten: Mt 6,1-18) und an der Tempelsteuer (Mt 17,24-27) –, aber zum anderen erhebt er einen hohen Anspruch, das Gesetz zu erfüllen, um Israel zu retten (Mt 11,20-24; 23,1-36). „In the Gospel of Matthew Jesus fulfills a role of being part of Israel’s history.“42 Obgleich Israel ihn ablehnte (Mt 13,54-58), sich seinem Anspruch verschließt und ihn sogar letztlich durch die Römer zum Tod verurteilt (Mt 27,25), hört Jesus nicht auf, die Verstocktheit Israels zu beklagen (Mt 13,1-15; 15,8). Nach Matthäus ist Jesus der Messias und als solcher der Retter Israels. Der Genitiv αὐτoϋ kennzeichnet Jesu Zugehörigkeit zum jüdischen Gottesvolk. Zu seiner Rettung ist er gesandt. Dieses Volk wird er retten.

Aber trotz der entscheidenden Verbindung Jesu mit seinem Volk Israel beschränkt sich der rettende Wille Gottes nicht auf die Juden. Im Licht des Ostergeschehens (Mt 28,16-20) weitet sich der Geltungsbereich der Rettung universal aus. Der Heilstod Jesu „für viele“ (Mt 26,28) artikuliert die Heilszusage Gottes nicht nur für die Juden, sondern auch für die Heiden. Jesus wusste sich zuerst „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24) gesandt, verkündet aber auch Hoffnung für die Heiden. Jesu Heilsuniversalismus, auf den Matthäus im Verlauf des Evangeliums des Öfteren hinweist, z. B. in der Wendung „Galiläa der Heiden“ (Mt 4,15f.) und im Glauben eines heidnischen Hauptmannes (Mt 8,5-13), ist bereits zu Anfang durch den Titel „Sohn Abrahams“ (Mt 1,1) und durch die Erwähnung der vier heidnischen Frauen im Stammbaum Jesu (Mt 1,217) vorbereitet. Dieser kommt dadurch zur Geltung, dass der messianische Davidssohn durch die Auferstehung die Abrahamsverheißung erfüllt (Mt 1,1; 28,18-20).43 Die universale Heilszuwendung Gottes durch die Sendung Jesu relativiert die Erwählung des Gottesvolkes Israel nicht. Sie öffnet sich aber auch zunehmend den Heiden, so dass sie auch nachträglich zur Heilsgeschichte des Gottesvolkes hinzugerechnet werden. Den Zusammenhang zwischen der Juden- und Heidenmission, der auch für die Interpretation von λαός in Mt 1,21 von Bedeutung ist, prädiziert Matthias Konradt folgendermaßen: „Universalismus und Zuwendung zu Israel werden von Matthäus nicht als miteinander konkurrierende oder sich gar gegenseitig ausschließende Optionen präsentiert. Sie erscheinen vielmehr bereits durch 1,1 als zwei Dimensionen des Heilsgeschehens, die schon durch ihre gemeinsame Verankerung in der alttestamentlichen Verheißungsgeschichte miteinander verknüpft sind: Der matthäische Universalismus ist israelbezogen, und zugleich ist umgekehrt Israel für Matthäus von Abraham an auf die Völkerwelt hingeordnet.“44

2.1.3 Die Rettung aus der Sünde

Sünde im Matthäusevangelium

Der Name Jesus zeigt nach Mt 1,21 programmatisch die zentrale Aufgabe des messianischen Gottessohnes auf: die „Rettung seines Volkes aus seinen Sünden“. Das griechische Wort αμαρτία „bedeutet zunächst das irrtümliche oder/und schuldhafte Verfehlen (eines Zieles) im weitesten Sinn, sowohl als Tat wie auch als ihre Beschaffenheit“45, lässt sich aber auch im religiösen Sinn mit „Sünde als Schuldigwerden/-sein vor Gott und den Mitmenschen“46 wiedergeben. Gegenüber den anderen neutestamentlichen Schriften47 spielt dieser Begriff bei Matthäus – wie auch bei anderen Synoptikern – eine relativ geringe Rolle. Aber Matthäus hält ihn auch nicht für unwichtig. Aus der Betrachtung des Begriffes „Sünde“ und seiner Stellung im Evangelium ergeben sich folgende Beobachtungen48:

1) Matthäus spricht nicht oft explizit von der Sünde, wohl aber von ihrem Wesen und ihren Auswirkungen. Jesus wusste sehr wohl um ihre Existenz und handelte auch danach (z. B. Mt 18,15-18; 18,21f.; 12,31).

2) Jesus wusste sich nach Matthäus „in seinem Handeln und Reden als Überwinder der Sünde“49 (z. B. Mt 9,2-8; 9,10-13 [par Mk 2,13-17]; 26,28). Diese SündenThematik exponiert Matthäus bereits am Anfang des Evangeliums (Mt 1,21), und zwar im Anschluss an den Stammbaum (Mt 1,2-17), wo die sündhafte Geschichte Israels implizit angedeutet ist.50 Dadurch gibt der Evangelist dem Problem der Sünde einen hohen Stellenwert. Sie wird bei Matthäus nicht marginalisiert; die Vergebung der Sünde gehört zur Mitte des Evangeliums.

Die etymologische Erklärung des Namens Jesus gibt keinen Hinweis auf den Terminus λαός, bei dem zuerst an das Volk Israel zu denken ist. Das zeitgenössische Judentum erwartete damals nicht unbedingt einen Messias, der kommen würde, um das Volk ἀπό τῶν αμαρτιῶν αὐτῶv (Mt 1,21) zu erlösen.51 Hier liegt eine eigene Akzentuierung des Matthäus vor. Diese vom Wortspiel des hebräischen Namens Jesus/Jeschua hervorgehobene Redaktion stellt nicht zuletzt die Heilsgestalt Jesu heraus, aber nicht im nationalpolitischen oder militärischen Sinn, sondern im soteriologischen, indem sie mit σῴζeiυ verbunden wird. Präziser: Jesus ist der messianische Retter, der sein Volk von seinen Sünden erlösen wird.52 Aufgrund der futurischen Formulierungen in Mt 1,21 (auch Mt 1,23), die damit den programmatischen Charakter unterstreichen,53 erfahren die Leser, dass der Messias kommt, um sein Volk von seinen Sünden zu erretten.

 

Gottes Botschaft, die durch den Engel verkündet wird (Mt 1,21), beinhaltet die Exposition der Thematik der Sündenvergebung. Die im Namen Jesu angesagte Sündenvergebung wird dann im Verlauf des Evangeliums narrativ entfaltet, um das Heilswirken Jesu für die Sünder, das sich thematisch durch das gesamte Matthäusevangelium hindurchzieht. darzustellen.54 Paradigmatische Bedeutung haben folgende zwei Episoden: Mt 9,2-8 und Mt 26,26-30.55 Dabei ist zu beobachten, dass der Terminus ἁμαρτία in Verbindung mit ἀϕιέναι, (Mt 9,2.5.6; vgl. Mt 12,31) oder άϕεσις (Mt 26,28) gesetzt ist.56

Mt 9,2-8

Die Sündenvergebung, von der – nach Matthäus – zuerst die prophetische Ankündigung des Engels in Mt 1,21 spricht, entfaltet sich im Verlauf des Evangeliums weiter. Sie wird in der Erzählung über die Heilung eines Gelähmten (Mt 9,2-8) aufgegriffen. Dabei wird an einem Beispiel beschrieben, „wie die Erlösung des Volkes Israel von seinen Sünden tatsächlich von Jesus vollbracht wird“57.

Das wunderbare Heilswirken Jesu schildert Matthäus bereits im bevorstehenden Summarium (Mt 4,23-25) und bestätigt es im nachfolgenden (Mt 9,35).58 In prägnanter Weise fasst der Evangelist das öffentliche Wirken Jesu in Wort und Tat zusammen. Die Korrespondenz der beiden Summarien erweist Lehren und Heilen als das wesentliche Wirken des messianischen Gottessohnes. In diesem strukturellen Rahmen gehören auch die Bergpredigt (Mt 5-7) und die Machttaten Jesu (Mt 8-9). Stellt die Bergpredigt Jesus als den „Messias des Wortes“ vor, so lassen seine Wundertaten ihn als den „Messias der Tat“59 erkennen. Auf die Worte Jesu folgen die Wundergeschichten, so dass die Macht des Wortes Jesu sich durch die wunderbaren Taten offenbart.60

In der Mitte dieser Wundererzählung von Mt 9,2-8 steht Jesus als der messianische Retter. Zuerst heilt er einen Gelähmten (Mt 9,2.6b), und dann bestätigt er seine göttliche Autorität zur Vergebung der Sünden (Mt 9,6a). Er beherrscht diese Erzählszene als die zentrale Gestalt der Episode. Dass er dem Gelähmten Mut zuspricht und ihm seine Sünden vergibt (Mt 9,2), erregt den Anstoß der Schriftgelehrten, und es beginnt der Streit über seine Vollmacht zur Sündenvergebung (Mt 9,3-6a). Aber die Gegner, die als Gesprächspartner Jesu auftreten, führen keinen harten Disput. Sie distanzieren sich vielmehr in ihren Gedanken von der Tat Jesu (Mt 9,3). Seine Antwort auf die Gedanken der Schriftgelehrten ist dann das zentrale Thema der Erzählung, während der relativ knappe Bericht über die Heilung des Gelähmten den Rahmen (Mt 9,2.6b-8) bildet.61 Sie „trägt christologischen Charakter, insofern es um die Frage geht, daß der Mensch Jesus von Nazareth die Vollmacht für sich in Anspruch nahm, die allein Gott zustand“62. Die durch die Länge hervorgehobene Struktur wird durch die Wiederholung der zwei wichtigen Ausdrücke, αφíεvταí σου αἱ ἁμαpτίαι (Mt 9,2.5; vgl. άφιέναι, άμαpτíας in Mt 9,6) und έξoυσíα (Mt 9,6.8) verdeutlicht. Indem sie beide in Mt 9,6 zusammen genannt werden, erreicht die Erzählung ihren Höhepunkt. Jesus ist danach der Menschensohn, der die Vollmacht zur Sündenvergebung hat. Durch seine Rede über die Vollmacht wird der Konflikt mit seinen Gegnern verschärft.

Matthäus gibt den markinischen Bericht (Mk 2,1-12) in verkürzter Fassung wieder. Durch seine redaktionelle Bearbeitung setzt er jedoch eigene Akzente:

1) Die narrativen Schilderungen (vgl. Mk 2,1f.und 3b-4) lässt Matthäus weg, und damit konzipiert er eine stärker pointierte Erzählung. Außerdem fehlt bei ihm der Vorwurf der Schriftgelehrten, sein Tun, das sie als Gotteslästerung empfinden, zu begründen (Mk 2,7). Denn seine judenchristlichen Leser wussten, dass die Sündenvergebung allein Gott zusteht. Deshalb hat er keine weiteren Erklärungen nötig.63

2) Matthäus beendet seine Erzählung von der Heilung des Gelähmten wie auch Markus mit der Reaktion des Volkes (Mt 9,8; vgl. Mk 2,12b). Aber Matthäus akzentuiert zwei Hinweise: Erstens begründet Matthäus die Vollmacht zur Sündenvergebung, die Gott gegeben hat (τὸυ θεὸυ τὸυ δόυτα έξoυσíαυ τoιαύτηυ: Mt 9,8). Im Heilungsgeschehen des Gelähmten repräsentiert der Gottessohn seinen Vater, insofern die von ihm ausgeführte Vollmacht zur Vergebung der Sünden von Gott selbst legitimiert wird. Zweitens bringt der redaktionelle Zusatz τoῖς αvθpωπoις (Mt 9,8) nicht nur die christologische Dimension, sondern auch die ekklesiologische ins Blickfeld.64 „Das Erstaunen der Menge über τoῖς άυθpώπoις (Mt 9,8) deutet an, wie diese Autorität auch auf die Jünger Jesu übertragen wird.“65

Gegenüber Markus konzentriert Matthäus sich auf den Konflikt Jesu mit den Pharisäern, der durch das Wort von der Sündenvergebung ausgelöst wird. Jesus begründet die Sündenvergebung durch seine Gottessohnschaft, die ihm dazu die Vollmacht gibt. Diese hat einen ekklesiologischen Ausblick, insofern sie den Menschen gegeben ist (vgl. Mt 9,8). In der Praxis der Gemeinde wird den Menschen die Sünde vergeben, und dadurch erweist sich der Name Jesus als weiterwirkendes Programm Gottes.

Mt 26,26-30

Der Weg des irdischen Jesus geht seinem Ende entgegen. Die prophetischen Ankündigungen Jesu (Mt 16,21; 17,22f.; 20,18f.) weisen auf seinen Weg nach Jerusalem hin, der ihn zum Kreuzestod führt. Jesus ist also nach Matthäus der leidende Gottesknecht (Mt 12,18-21; vgl. Jes 42,1-4). Im Leiden und Tod, aber auch in der Auferstehung, kommt seine Heilssendung zur Vollendung. Seine Passion bewirkt die Sündenvergebung, die in der Namensgebung von Mt 1,21 schon angekündigt wurde, und die in der Heilungsgeschichte von Mt 9,1-8 thematisiert ist.

Die Passionsgeschichte hat ihren Höhepunkt im Letzten Abendmahl Jesu, wo er selbst von der Deutung seines Todes spricht (Mt 26,26). Bereits am Anfang dieser Geschichte weist er auf die Kreuzigung des Menschensohnes (Mt 26,2; vgl. 26,4) hin, womit auf die bevorstehende Passion vorausgezeigt wird. Auf die zwei Erzählungen von der Vorbereitung des Paschamahles (Mt 26,17-19) und der Benennung des Verräters (Mt 26,20-25) folgt der Bericht vom Letzten Abendmahl, das er mit seinen „Jüngern“ feiert (Mt 26,26f.; vgl. Mt 26,266). Die Erzählung bildet eine einfache Struktur angesichts aller Knappheit des Textes: An einen kurzen Hinweis auf die Mahlsituation (ἐσθi‚óvτωv δὲ αύτῶυ: Mt 26,26a) schließen sich das Brot- (Mt 26,26b) und das Becherwort (Mt 26,27f.) mit dem eschatologischen Ausblick (Mt 26,29) an. Beide Worte Jesu bilden eine syntaktische Parallele. Aber aus dieser Symmetrie fällt die zusätzliche Applikation des Becherwortes (τoῦτo γάp ἐστιυ τò αἷμά μoυ τῆς διαθήκης τò πeρὶ πoλλῶυ ὠκχυυυóμeυoυ εἰς ἄφεσιυ ἁμαρτιῶυ: Mt 26,28) heraus. Dadurch wird die theologische Aussage des Matthäus verschärft.

Der matthäische Abendmahlsbericht entspricht fast wörtlich und strukturell der markinischen Überlieferung (Mk 14,22-25) – weniger der paulinischen (1Kor 11,23-25) und der lukanischen (Lk 22,15-18.19f.). Matthäus bietet zwar keine völlig neue Fassung, wohl aber eine selbstständig reflektierte Abendmahlsüberlieferung. Der signifikante Beweis dafür ist die Konzeption der „Sündenvergebung“ (εἰς ἄφεσιυ ἁμαρτιῶυ: Mt 26,28; vgl. Mk 14,24), die von der markinischen Tradition abweicht. Diese formelhafte Wendung von der Sündenvergebung, von der bei Markus im Kontext der Taufe des Johannes (Mk 1,4) die Rede ist, lässt Matthäus in seinem parallelen Text (Mt 3,2) weg. Im Abendmahlsbericht fügt er das Motiv hingegen ein (Mt 26,28). Damit unterstreicht Matthäus „die Sündenvergebung als die entscheidende Differenz zwischen der Verkündigung Johannes des Täufers und dem Wirken Jesu“67. Er schreibt die sündenvergebende Wirkung und Kraft dem Leben und dem Tod Jesu zu.68 Jesus ist der Heilsmittler, auf dessen Kommen Johannes der Täufer sich vorbereitet.

Der Nachlass der Sünden, der das Heil erwirkt, ist im Tod Jesu begründet, der seinem Leben „für“ die anderen entspricht. Sein zukünftiges Schicksal am Kreuz deutet noch deutlicher als das Brotwort (Mt 26,26b) das Wort über den Kelch (Mt 26,27f.). Jesus wird demnach das „Blut des Bundes für viele“ vergießen. In diesem heilswirkenden Akt vom „Vergießen des Blutes“ ist der kultisch geprägte Blutritus aus der alttestamentlichen Tradition (z. B. Lev 4,5-7) noch erkennbar. Der Sprachgebrauch „das Blut des Bundes“ (τὸ αἷμα τής διαθήκης) weckt eine Erinnerung an den alttestamentlichen Bund Gottes mit seinem Volk Israel, der durch Mose beschlossen wurde (Ex 24,8).69

Daraus aber ergibt sich das Problem der Verbindung von Jesu Opfer mit der Wirkung des alttestamentlichen Opfers. Dort bewirkt der Vollzug des Sühneopfers durch die Priester die Vergebung, die Gott dem Opfernden schafft. Anders beim Abendmahl: Die Sündenvergebung, die allein Gott schenken kann, bewirkt das Blut Jesu. Der von Gott gesandte Jesus selbst gewährt durch seinen Tod die Erlösung von den Sünden. Aufgrund der Hingabe seines Lebens wird also das Heil geschenkt und die Anteilhabe am Leben und Sterben Jesu ermöglicht. Das Heil gilt zuerst den Zwölf, mit denen Jesus das Letzte Abendmahl feiert. Es öffnet sich auch für jene, die durch die Nachfolge in Beziehung zu Jesus stehen. Jesus vergießt sein Blut „für viele“ (περὶ πολλῶυ70: Mt 26,28), die durch die zwölf Jünger repräsentiert werden. Mit dem Heilstod Jesu ist eine ekklesiologische Dimension gegeben. Die sühnende Heilskraft des Blutes Jesu durchbricht in soteriologischer Hinsicht die Grenze des alttestamentlichen Bundes, und seine Reichweite öffnet sich hin zu allen Völkern.71 Beim Letzten Abendmahl wird der „neue“72 Bund Jesu mit seinen Jüngern (vgl. 1Kor 11,25; Lk 22,20) begründet. Wie Jesus mit der eucharistischen Tischgemeinde sein Schicksal teilt, so teilen es auch in Zukunft die Jünger aus allen Völkern. In der Teilhabe am Letzten Abendmahl wird der Zugang zum Heil der Gottesherrschaft für alle Menschen ermöglicht.

2.1.4 Der Name als Programm

Der Name Jesus wird von Matthäus häufiger als von den anderen Synoptikern genannt. Seine theologische Bedeutsamkeit im Matthäusevangelium erklärt sich aber nicht allein aus der Summe der Nennung dieses Namens, sondern wird noch dadurch unterstrichen, dass die Verleihung des Namens Jesus mit einer Deutung zu Beginn des Evangeliums in den Zusammenhang der Geburtsankündigung gestellt ist (Mt 1,21). Der Engel richtet Gottes Botschaft aus, dass dem Kind, dessen Empfängnis durch die Kraft des Heiligen Geistes geschieht, der Name Jesus gegeben werden soll. Es ist derselbe Name, der nach Lk 1,31 von Maria, der Verlobten Josephs, dem Kind gegeben wird. Die Namensgebung verweist auf den Menschen Jesus von Nazareth73, wie die Abstammung aus der davidischen Familie aufgezeigt hat (Mt 1,1-17). Wie jeder Mensch mit Namen angeredet wird, so wird auch dem bald geborenen Kind der Name Jesus gegeben. Dass Joseph ihm den Namen geben soll, zeigt an, dass Jesus rechtlich als Kind Josephs angenommen wird. Dem Evangelisten Matthäus ist es ein Anliegen, zu unterstreichen, dass Jesus als wahrer Mensch in der davidischen Familie geboren wird, weil ihm an der Gültigkeit der Verheißung gelegen ist. Seine Christologie wird durch die Messianität der Gottessohnschaft abgesichert. Dass die Verleihung des Namens durch den Engel aufgetragen wird, weist auf die Geburt des lang ersehnten und von Gott verheißenen Messias hin. Das Kind ist als Messias der Sohn Gottes. Seine künftige Aufgabe erklärt sich nach Mt 1,21 aus der Auslegung des Namens Jesus: die Rettung seines Volkes aus der Sünde. Darin liegt „eine grundlegende Klarstellung, wie Heil des Menschen zu denken ist und worin daher die wesentliche Aufgabe des Heilsbringers besteht“74.

Mt 1,21 ist das Programm für das ganze Evangelium, das erzählt, wie sich die Sendung Jesu, die Heilszusage Gottes zu erfüllen, entfaltet. Jesus ist gekommen, um den Willen Gottes zu erfüllen und um sein Volk von seinen Sünden zu erretten, obgleich er von Israel in seiner großen Mehrheit abgelehnt wird. Die Sündenvergebung erklärt die Sendung Jesu. Zwar kann Gott allein Sünden vergeben, doch er lässt Jesus teilhaben an seiner Vollmacht zur Vergebung der Sünden, so dass auch er den Menschen vergeben kann (Mt 9,6-8). Dem Gelähmten wird das Heilswort der Vergebung zugesprochen (Mt 9,2). Auch die Zöllner und Sünder lädt der bevollmächtige Jesus zum Gastmahl ein und holt sie damit in seine Gemeinschaft, die ihnen Erlösung und Vergebung schenkt (Mt 9,10-13). Die in Mt 1,21 angekündigte Botschaft Gottes, die von der Sündenvergebung spricht, findet nach Matthäus in der Passion Jesu ihre Erfüllung. Das Evangelium entwirft das Bild. Ein unschuldiger Mann ist ans Kreuz geschlagen; dieser ist „Jesus, der König der Juden“, wie es im titulus crucis aufgeschrieben ist (Mt 27,37; diff. Mk 15,26)75. Damit bezeugt Matthäus die rettende Sendung des Messias, die an das Volk Israel ergangen ist. Aber die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu ist für den Evangelisten universal. Jesus hat „für viele“ (Mt 26,28) sein Blut vergossen, so dass allen die Sünde vergeben wird. Nach Mt 26,28 ist „Sündenvergebung durch den Tod Jesu die letzte Konsequenz des in seinem Namen liegenden Auftrags“76. Der Name dessen, der als der erwählte Gottesknecht dem Willen Gottes gehorcht und der „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24) gesandt wird, ist die Hoffnung der Heiden (vgl. Mt 12,18-21). Sein Auftrag zur Rettung aus der Sünde, die in Mt 1,21 programmatisch mit dem Name Jesus verbunden ist, wird im nachösterlichen Horizont durch die Rahmung des Immanuel-Motivs (Mt 1,23; 28,20) untermauert.77 Das Heilsprogramm des Matthäusevangeliums, das in der Immanuelverheißung ihre Grundlegung findet, hat eine universale Dimension; sie wird, weil für Matthäus Jesus der Immanuel ist (Mt 1,23; 18,20; 28,20), durch den Auftrag an Joseph zur Namensgebung israeltheologisch zurückgebunden.

 

2.2 Der Immanuel

Jesus wird vom Evangelisten Matthäus als Retter von der Sünde seines Volkes dargestellt (Mt 1,21). Das ist für die matthäische Christologie grundlegend (vgl. oben 2.1). Als ein weiteres Motiv der christologischen Eröffnung gibt Matthäus die Immanuelverheißung an. Sie wird zu Beginn seines Evangeliums im Reflexionszitat von Mt 1,23 (Jes 7,14) exponiert. Sie wird im Verlauf des Evangeliums im Mund des Irdischen in Mt 18,20 sowie des Auferstandenen in Mt 28,20 ausgesprochen. Dass das Wort Ἐμμανουήλ, das wörtlich „Mit-uns-Gott“ heißt (vgl. Jes 8,8.10), nicht nur ein Hapax legomenon des Matthäusevangeliums ist, sondern in immer neuen Entsprechungen durch das ganze Evangelium hindurch entfaltet wird, ist grundlegend für das Verständnis des Evangelisten.78 Offenbar ist die Immanuelverheißung das Christologoumenon des Matthäus. Wie im Matthäusevangelium Jesus als der Immanuel charakterisiert wird, wird in der folgenden Untersuchung der drei Immanuelstellen – Mt 1,23; 18,20; 28,20 – aufgezeigt.

2.2.1 Die Verheißung der Schrift (Mt 1,23)

Der Anfang Jesu Christi

Der Eingang des Matthäus (Mt 1-2) – und auch des Lukas und des Johannes79 – beschäftigt sich mit der Frage nach dem Anfang Jesu, von dem Markus nicht spricht. Für die nachösterliche Gemeinde, die durch die Botschaft über die Auferweckung des Gekreuzigten zum Glauben gekommen ist, wird die Identitätsfrage von großer Bedeutung. So wichtig für Matthäus und seine Gemeinde Jesu Tod und Auferstehung sind, so blickt er auch mit großer Aufmerksamkeit auf den Anfang Jesu, seine Herkunft und sein Werden.80 Aus dem Anliegen des Evangelisten, zu bestimmen, wer der auferstandene Herr ist und woher dieser kommt, verlängert sich die Biographie Jesu nach vorn. Damit zeigt sich im Matthäusevangelium, dass die Kindheitsgeschichte mit dem Stammbaum Jesu (Mt 1-2)81, „deutende Erzählungen, die auf den Hintergrund des Osterglaubens in Jesus den Messias und von Gott gesandten Retter sehen“82, dem Markusaufriss (Mk 1,1-20 par. Mt 3-4) vorangestellt ist. „Matthäus wie auch Lukas wollen den nur im Glauben zugänglichen Ursprung Jesu aus Gott aufdecken und greifen dazu auf bestimmte in der hellenistischjudenchristlichen Gemeinde umlaufende Vorstellungen zurück.“83

Diese Anfangsgeschichte Jesu (Mt 1,18-2,23) hat eine gewisse Analogie zu den Erzählungen vom tödlich bedrohten und geretteten Königskind, die in der antiken Literatur weit verbreitet und damit auch wahrscheinlich dem Evangelisten Matthäus bekannt waren. Aus dem Vergleich dieser zahlreichen Überlieferungen ergibt sich für die Anfänge Jesu eine Kongruenz zu den Erzählungen von Ankündigung, Verfolgung und Rettung eines zu gebärenden Kindes.84 Am nahesten liegt die Mose-Geschichte (Ex 2), insbesondere wie sie von Josephus (antiquitates Judaicae 2, 205-307) nacherzählt wird. Die matthäische Erzählung von der Ankündigung der Geburt Jesu (Mt 1,18-25) stimmt in der Struktur mit der Geschichte von der Geburt des Mose überein.85 Diese beachtliche Übereinstimmung mit der Mose-Haggada wird noch deutlicher in der Anspielung auf das Verhalten des Pharao, der erschrak und den Kindermord befahl, nachdem er von der Geburt eines israelitischen Kindes, d. h. des Mose, erfuhr, der die ägyptische Herrschaft bedrohen wird (Ant 2,206; vgl. Mt 2,16-18).86 Die Kindheitsgeschichte des Matthäus ist offenbar von dieser jüdischen Kindheitshaggada geprägt. Aber die direkte Übertragung auf die matthäische Kindheitserzählung lässt sich literar- und überlieferungskritisch schwer beweisen.87 Mit der literarischen Gattung und der zugrundeliegenden Erzählstruktur wird die dem Matthäus vorliegende jüdische Kindheitsgeschichte profiliert. Matthäus sieht im Geschick des Moseknaben das Geschehen des Jesuskindes präfiguriert. Er erzählt allerdings nicht von einem Gesandten, der die Isareliten von der Herrschaft der Ägypter befreien werde. Demgegenüber hat die haggadisch strukturierte Jesusgeschichte als ein Hauptanliegen, das zu gebärende Kind, welches der Messias ist, als Erlöser einzuführen. Dieser ist nach Matthäus der Sohn Gottes, dessen Empfängnis durch die Kraft des Heiligen Geistes geschieht (Mt 1,18.20) und der durch die Gerechtigkeit Josephs in die davidische Familie aufgenommen worden ist (Mt 1,24f.). Er sollte wegen der Bosheit des Königs Herodes sterben (vgl. Mt 2,16). Er wird aber gerettet, so dass er am Leben bleibt und für die Menschen, zu deren Erlösung er gesandt ist, sterben kann (Mt 1,21).88 Matthäus berichtet die Jesusgeschichte nicht einfach als eine bloße Variante oder Wiederholung der Mose-Haggada, er sieht darin vielmehr die Erfüllung der Verheißung Gottes, die durch die Geschichte von der Geburt und Rettung des Mose vorausgesagt worden ist.89

Die „Genesis“ Jesu Christi

Die Erzählperikope über die Geburt Jesu (Mt 1,18b-25) wird von einer Überschrift in Mt 1,18a eingeleitet: Toῦ δὲ Ἰησοῦ Χρίστοῦ ή γέnεσtς oὔτως ἦn. Diese greift zum einen auf die Überschrift des Evangeliums in Mt 1,1 zurück, insofern der Evangelist in Mt 1,18a zwei entscheidende Wortwendungen von Mt 1,1, Ίησοῦς Χριστός und γέυeσις, wiederholt. Zum anderen ist diese Perikope im direkten Anschluss an den Stammbaum Jesu (Mt 1,217) an Mt 1,16 zurückgebunden, wo entgegen der Erwartung der Leser ein Passivum von γευυάω steht. Dort wird nicht strukturgemäß beschrieben, dass Joseph Jesus „zeugte“ (ἐγέwησευ), sondern dass er der Mann Marias ist, „von der Jesus geboren wurde“ (έξ ἧς έγευυήθη Ἰησοῦς: Mt 1,16).90 Diese ungewöhnliche Formulierung verwendet Matthäus nicht, weil er die bis Mt 1,15 herrschende, strenge Monotonie der davidischen Abstammungsliste unterbrechen will, sondern er bereitet damit die folgende Erzählung von Mt 1,18-25 vor. Bereits in Mt 1,16 ist angedeutet, wie Jesus dem davidischen Geschlecht zugeordnet wird, und zwar durch die Geburt aus der Jungfrau Maria, deren Mann, Joseph, der Sohn Davids ist.91