Gottes Weg mit den Menschen

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Aus der Reihe: Forschung zur Bibel #134
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Wirkungsgeschichte

In der Matthäus-Exegese ist die Methodik über die Redaktionsgeschichte hinaus weiter entwickelt worden. Ulrich Luz postuliert in seinem vierbändigen Matthäuskommentar23 neben der historischen Kritik methodisch den wirkungsgeschichtlichen Ansatz. Dieses exegetische Verfahren ist zumindest für das letzte Jahrhundert beispiellos.24 Seine Versuche, die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte in die Exegese zu integrieren, sind von der Problematik der historisch-kritischen Exegese angeregt, dass „sie einen Text in seiner eigenen Zeit und in seiner eigenen Ursprungssituation isoliert und ihn so daran hindert, etwas zur Gegenwart zu sagen“25. Luz räumt dem Problembewusstsein der Wirkungsgeschichte einen besonderen Stellenwert ein. Nach seinem Begriffsverständnis sei Wirkungsgeschichte „das Gesamte der Spuren, welche ein Text in seiner Nachgeschichte durch seine Lektüren hinterlassen hat, und zwar in allen Bereichen des Lebens, also z. B. in der Theologie, in der Kunst, in der Politik, im Recht, in der Frömmigkeit, in der Literatur, in der Philosophie usw.“26. Im Unterschied zur Rezeptionsgeschichte, die die aktive Rolle der Rezipienten bei der Sinngebung betont, zeichne die wirkungsgeschichtliche Exegese die Wirkkraft des Textes und dessen Wirkungen im Wandel der Zeit nach. Sie zeuge von möglichst allen Auslegungsmöglichkeiten, die durch den Text (und dessen Lektüre) freigesetzt sind. Demgegenüber fokussiere die Auslegungsgeschichte sich restriktiv auf die mannigfaltigen Interpretationen in Kommentar- und Predigtwerken im Verlauf der Geschichte. So sei die Wirkungsgeschichte unter die Auslegungsgeschichte subsumiert.27

Entsprechend seiner hermeneutischen Interessen begreift Luz die Texte „nicht so sehr als Reservoir, sondern als Produzenten von Sinn in neuen Situationen“28, und die damit „als das Ganze der Relektüren, Rezeptionen und Aktualisierungen des Evangeliums in neuen geschichtlichen Situationen“29 verstanden werden. Durch die textorientierte Aufarbeitung der matthäischen Texte versucht er, „ihre eigenen Aussagen, ihre Offenheiten und ihre Sinnpotenzen herauszuarbeiten und ihren Richtungssinn im Gespräch mit der Wirkungsgeschichte und im – oft nur impliziten – Blick auf die eigene heutige Situation vorsichtig zu positionieren“30. Dabei dient die historisch-kritische Exegese, die in der biblischen Forschung über hundert Jahre lang vorherrschend war, nicht als ein marginaler Gegenstand, sondern bleibt Teil der wirkenden Geschichte. Die Wirkungsgeschichte hilft das Defizit der historischen Kritik auszugleichen, insofern sie nicht nur die historisch-kritisch zu untersuchende Aussage des Textes hervorhebt, sondern seinen Wortsinn in jeweils neuer Situation erschließt und damit ihn an die Gegenwart übermittelt. Ihre Beziehung zur historisch-kritischen Exegese kann daher „im Sinne einer Erweiterung des Methodenangebotes“31 gedeutet werden.

Durch die wirkungsgeschichtlich orientierte und dadurch exegetisch bereicherte Textauslegung wird das Problembewusstsein der Exegese geschärft. Die wirkungsgeschichtliche Exegese gewinnt ihre Bedeutung nicht im bisherigen Paradigma von Diachronie und Synchronie32. Sie richtet sich „gegen alle mithilfe von Textinterpretationen legitimierten Absolutheitsansprüche“33 und weist eine Vielfalt von Interpretations- und Applikationsmöglichkeiten nach. Das gesamte Spektrum aller möglichen Deutungsvarianten zeigt die Erweiterung des Verstehenshorizonts. Positiv heißt das, dass die Auslegungsgeschichte sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigt, sondern schon im Prozess der Textauslegung immer auch auf die Zukunft ausgerichtet ist. Die Texte werden in einer jeweils neuen Erfahrungswelt des Interpreten rekontextualisiert und reaktualisiert. Sie werden auf eine dialogische Kommunikationsebene der wirkenden Geschichte gehoben, die nicht nur Potenziale auslotet, sondern Bedeutungen generiert.

Wirkungsgeschichtliche Exegese bringt aber nicht nur die positive Seite der Textauslegung hervor. Sie hat auch den Nachteil, dass die kritische Funktion des Textes gegenüber der Auslegung strukturell reduziert wird. Insofern jeder einen Text anders interpretieren kann, gibt es nicht nur keine endgültig richtige Auslegung; es stellt sich auch die Frage, ob und wie richtige von falschen Auslegungen unterschieden und missbräuchliche Verwendungen biblischer Texte kritisiert werden können. Für die Unterscheidungen sind bestimmte Kriterien nötig, so dass wirkungsgeschichtliche Spurensuche nicht als bloßer Stimmenwirrwarr angesehen werden kann. Vor der Debatte um die Normativität und Relevanz der Textauslegungen diskutiert Ulrich Luz, wie die verschiedenen Interpretationsweisen der dreidimensionalen Wahrheitsfrage gerecht werden: 1) Inhaltlichtheologisch sind neutestamentliche Texte Christuszeugnisse. Christus gibt der Textinterpretation die Leitlinie. 2) Für die Identität der Kirche wird eine ekklesiologische Deutungshoheit für Interpretationen beansprucht. 3) Die Wahrheit biblischer Texte ist mit der Frage nach ihren Folgen verbunden. Pragmatisch beschäftigt sich die Textinterpretation mit den Auslegungen, die die Nachgeschichte der Texte hinterlassen hat.34 Alle drei Aspekte sind für die Fragestellung dieser Studie virulent und müssen kritisch in ein konstruktives Verhältnis zueinander gebracht werden.

Das Matthäusevangelium ist bereits ein Teil der Wirkungsgeschichte der Jesus-Überlieferung, mit der die Auslegungsgeschichte der Kirche einsetzt.35 Es gibt aber keinen wirkungsgeschichtlichen Versuch in der Weise, dass das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie an den entscheidenden Stellen im Licht der Auslegungstradition erschlossen wird. Denn die Problematik ist eine spezifisch moderne, die nur unter den Bedingungen der historischen Kritik in voller Schärfe aufbricht. Aber indem die Studie das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie erörtert, geht sie an den Anfang dessen, was überhaupt „Wirkungsgeschichte Jesu“ genannt werden kann, zurück. Sie fragt nach den – der Überlieferung zufolge – von Jesus selbst gegebenen Impulsen, die zuerst dem Jüngerkreis überliefert und von diesem dann weitergegeben wurden. Auf diesen Anfang muss sich die vorliegende Studie beschränken.

Eine weitgehend offene Frage ist das Verhältnis der wirkungsgeschichtlichen zur historisch-kritischen Exegese. Die bei Ulrich Luz angefertigte Dissertation von Moisés Mayordomo-Marín36 bringt am Beispiel des Prologs des Matthäusevangeliums (Mt 1-2) den Ertrag einer konsequent rezeptionskritischen Fragestellung ein. Die Position der historisch-kritischen Exegese verbindet er mit literaturtheoretischen und rezeptionsästhetischen Entwürfen. Mayordomo-Marín unternimmt allerdings diese stark leserorientierte Arbeitsweise37 „keineswegs als Ersatz für historisch-kritische Exegese, sondern viel eher als einen Versuch, die Möglichkeiten auszuloten, die verschiedene moderne literaturwissenschaftliche Rezeptionsmodelle für eine Methodenintegration bieten können“38. Mit seiner rezeptionskritischen Untersuchung erweitert sich der Raum für die methodenkritischen Reflexionen, so dass eine Pluralität der hermeneutischen Disziplinen zur Bibelauslegung ermöglicht wird. Aber angesichts der Fokussierung auf die Leserwelt bleibt die Frage nach dem geschichtlichen Sinn des Textes.

Narratologie

Als Gegenbewegung zur historisch-kritischen Arbeitsweise der Exegese entstand die stark synchron orientierte Methode, u. a. die narrative Analyse. Dieser Methodenschritt verfolgt einen „Primat der Synchronie“ gegenüber der Diachronie. Er untersucht nicht den Ursprung der Texte; er sieht von ihrer Entstehungsgeschichte und -situation ab. Gegen die situative Orientierung der Exegese richtet sich sein Augenmerk „auf die literarische Integrität der Endfassung, d. h. kanonische Form der Texte, und auf die Textwelt“39. Die in sich abgeschlossenen, erzählerisch-literarisch kohärenten Texte sind Gegenstand dieser Erzählforschung. Ebenso wie das Markusevangelium wird auch das Matthäusevangelium mit Hilfe narratologischer Analyseverfahren aus der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft exegesiert, vor allem im englischsprachigen Raum entwickelt und verbreitet.40

Beachtenswert ist in der deutschsprachigen Exegese für das Matthäusevangelium eine narratologische Studie von Uta Poplutz.41 Sie arbeitet in ihrer Untersuchung den narrativen Charakter des Evangeliums heraus. Sie liest – angeregt durch Luz’ Werk „Die Jesusgeschichte des Matthäus“ – das Matthäusevangelium in erster Linie „als kontinuierliche Erzählung, mit anderen Worten als die Geschichte Jesu, welche einen sinnvollen Spannungsbogen bildet“42. Für sie ist die narratologische Theoriebildung der Ausgangspunkt für ihre Auslegung des Evangeliums. Sie zeigt Vorzüge des narratologischen Ansatzes für die Bibelexegese auf. Die erzähltheoretische Lektüre könne „mit einem vergleichsweise geringen methodischen Aufwand und ohne weitere Hilfsmittel“43 durchgeführt werden. Die narrative Analyse weist auf die Notwendigkeit hin, die Logik der Erzähltexte zu erhellen. Dafür sei die Grundkenntnis der Sprache unbedingt relevant – weniger die wissenschaftlichen Bemühungen. Erzählungen reichen über die geschichtliche Realität hinaus. Sie fungieren „als ein vordergründiger, auf den ersten Blick objektiv erscheinender Tatsachenbericht: Erzählungen stellen Gegenwärtigkeit her – sie nehmen die Leserin und den Leser mit in das Geschehen hinein. Damit erfüllen sie eine wichtige Funktion zur Erzeugung von Kohärenz“44. Poplutz nimmt aber auch die Grenze dieser Verfahrensweise wahr, die nicht zu übersehen ist, nämlich die immanente Struktur der erzählten Textwelt. Die Narratologie funktioniert synchronisch, konzentriert sich also auf die kohärent strukturierte Größe des Evangeliums. Als komplementäre Methoden müssen aber historisch-kritische wie wirkungsgeschichtliche Exegese in Betracht gezogen werden. So entsteht ein neuer „Methodenkanon“45. Er weist den Erzählungen einen festen Platz in der zeit- und sozialgeschichtlichen Situation ihrer Entstehung zu, so dass die Texte in ihrem Kontext gelesen und analysiert werden können. In diesem Netzwerk kann die Fragestellung der Narratologie sachgemäß erweitert und präzisiert werden.

 

Die Lücke, die zwischen der historisch-kritischen Methode und der narrativen Analyse besteht, versucht die in jüngster Zeit erschienene Dissertation von Sönke Finnern46 zu füllen. Wie der Titel besagt, ist sie eine narratologische Studie. Finnern zeigt in seiner Arbeit eine geschichtliche und theoretische Ausführung zur Erzählanalyse, deren Ertrag am Beispiel der matthäischen Ostergeschichte (Mt 28) erprobt wird. Finnern verabsolutiert dabei aber die Narratologie nicht. Er gibt die strenge Unterscheidung von Diachronie und Synchronie auf. Von ihm wird eher ein „kognitiv ausgerichtetes Modell“47 als das neue, umfassende Konzept zur Erzählanalyse vorgestellt. Der reale Rezipient kann demnach die Texte erst aufgrund seines (historisch und kulturell variablen) Vorwissens und seiner kognitiven Verstehensschemata verstehen. Die statischen und dynamischen Situationen der Leser verändern sich. Sie führen bei der Analyse von Erzählungen zu Verhaltensänderungen. Die Kommunikationsebene der Texte ist damit variabel. Die Untersuchung von Finnern kommt zu dem Ergebnis, dass die Erzählanalyse aus der Sicht der „kognitiven Wende“ mit dem historisch-kritischen Methodenensemble vereinbar ist. Sie bietet in der Kombination von Erzählanalyse und historisch-kritischer Methode einen integrativen Ansatz der biblischen Exegese.

Die Bochumer Habilitationsschrift von Robert Vorholt48 versucht, „mit exegetischen Mitteln aufzuzeigen, inwiefern theologische Grundparadigmen der Rede von der Auferweckung des Gekreuzigten durch das neutestamentliche Osterkerygma eine erzählerische Entfaltung erfahren haben, und zugleich zu begründen, weshalb die narrativen Elemente der österlichen Botschaft zum Kern und Wesen des Osterglaubens selbst gehören“49. Vorholt will die Ostererfahrung, die am Anfang des Osterglaubens steht (z. B. das leere Grab und die Erscheinungen des Auferstandenen), nicht nur historisch und theologisch einholen. Er hat auch das Ziel, „zu klären, was es theologisch bedeutet, dass sich diese österliche Erfahrung elementar in Erzählungen äußert“50. Diese narratologische Studie widmet sich allerdings nicht allein der Hervorhebung der matthäischen Theologie. Sie zeigt vielmehr den gesamten Sinnhorizont der Osterereignisse auf, die von allen vier Evangelisten in großer Übereinstimmung, aber auch mit unterschiedlichen Aspekten berichtet werden. Vorholt nimmt als ein hermeneutisches Defizit der Narratologie wahr, dass die Frage nach dem geschichtlichen Sinn der Geschehnisse ausgeblendet wird. Die narratologische Methodik wurde anhand fiktionaler Literatur entwickelt. Die kanonischen Osterevangelien werden hingegen „unter dem Anspruch formuliert, historische Wirklichkeit festzuhalten und somit beglaubigenden Zeugnischarakter zu haben“51. Vorholt konfrontiert mit der Herausforderung der Exegese, „Modus und Gehalt des Ostergeschehens auf der Grundlage des biblischen Zeugnisses zu beschreiben und es in seinem Wirklichkeits- und Wahrheitsanspruch vor dem neuzeitlich geprägten Forum der Vernunft kategorial wie inhaltlich zu bestimmen“52. Seine Untersuchung genügt diesem Anliegen, indem einerseits die Fundamente des Osterglaubens methodisch und inhaltlich abgesichert, andererseits die narrativen Strukturen der Osterevangelien untersucht werden. Für Vorholt sind historisch-kritische Exegese und narratologische Analyse integrierbar. Er entwickelt und kombiniert in seiner Studie geschichtshermeneutisches und narrationsanalytisches Verfahren.

Ergebnis und Ausblick

Die aktuelle Ausrichtung der Bibelexegese zeigt eine mittlerweile stark synchrone Orientierung. Das heißt nicht, dass die herkömmlichen Methoden in der Auslegung des Evangeliums bedeutungslos geworden wären.53 Der neue Trend der Bibelexegese verzichtet auf die eindeutige Trennung von Diachronie und Synchronie, versucht vielmehr in vielfältiger Weise54 beide in ein kommunikatives Beziehungsverhältnis zu setzen. Auch für die Kennzeichnung der Theologie des Matthäus wird nicht ein methodisches Instrumentarium gebraucht, sondern eine Integration beider exegetischer Zugangsweisen von Diachronie und Synchronie bevorzugt. Es bleibt aber umstritten, inwiefern dieser integrative Ansatz im Textfeld zugänglich ist und durchgeführt werden kann.

Die vorliegende Arbeit gewährt der narrativen Analyse eine wichtige exegetische Position, weil ihre Grundlinie sich orientiert an der Erzählung. Der Weg Gottes mit den Menschen wird im Rahmen des Evangeliums erzählerisch entfaltet. Die Erzählung wird zumal in die matthäische Tradition eingeordnet, weil gerade die Verbindung des Weges Jesu mit dem seiner Jünger untersucht werden soll. Die Erzählung wird konsequent auf den Jünger bezogen, von dem erzählt wird. Es handelt sich um die qualifizierte Wirkung Jesu, die in die Kirche ausstrahlt, aber vom bestimmenden Anfang her erschlossen werden soll.

1.2.2 Zu den Themen

In der Matthäus-Forschung ist das Kirchenverständnis ein wichtiges Thema.55 Eine Reihe von Aufsätzen und Monographien untersucht, welche Bedeutung ἐκκλησία (Mt 16,18; 18,17) bei Matthäus hat. Sie setzen sich mit der Fragestellung auseinander, wie sich die Kirche und Israel zueinander verhalten und wie in dieser Beziehung das Volk Gottes bestimmt ist. Das Verhältnis des Matthäus zum Judentum und sein Missionsverständnis sind dafür entscheidend. Ein Schwerpunkt ist die Darstellung der Jünger als Nachfolger Jesu; die „Jünger“ (μαθηταί) sind nach Matthäus für die nachösterliche Gemeinde die wichtigsten Identitätsfiguren (vgl. z. B. Mt 18,1-35). Sie sollen nach dem Sendungsauftrag des Auferstandenen zu seiner Nachfolge aufrufen und zur universalen Mission aufbrechen (vgl. Mt 28,16-20). Aber die Untersuchungen zum matthäischen Kirchenbild bleiben unzureichend, wenn die Begründung in der Christologie56 nicht genau beachtet wird. Matthäus spricht in seinem Evangelium keineswegs von der Kirche im Allgemeinen, sondern von der Kirche, die Jesus begründet hat (vgl. Mt 16,18). Die Jünger folgen dem Nachfolgeruf Jesu und partizipieren an seiner messianischen Sendung, so dass sie Jesu Person und Wirken repräsentieren. Die ekklesiologischen Elemente müssen auf der Grundlage der Christologie bestimmt werden.

Die Kirchenvorstellung des Matthäus ist mit der Ethik untrennbar verbunden. Dies ist für die christologische Begründung der Ethik nicht unwichtig – allerdings bereits untersucht, so dass diese Spur in dieser Studie nicht eigens verfolgt zu werden braucht. Durch Identifizierung der nachösterlichen Gemeinde mit den Jüngern wird Jesu Lehre in der Geschichte weitergetragen, welche sich in den großen Redekompositionen, besonders in der Bergpredigt (Mt 5-7), inhaltlich-sachlich entfaltet; sie orientieren das menschliche Handeln am „Willen des Vaters“ (Mt 7,21; 12,50), so dass jene, die Jesus nachfolgen, den „Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32) nicht verfehlen, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer ihn verfehlen, wenn sie die „überfließende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20), die Jesus lehrt, nicht erkennen. Die Matthäus-Exegese erforscht die Bergpredigt als Programmtext der Ethik Jesu, um den Jüngern (und der christlichen Gemeinde) das wahre Ethos der Nachfolge als Norm zu vermitteln.57 Für die Bildung der Gemeinde sind die ethischen Weisungen Jesu verbindlich. Sie verdanken sich dem (alttestamentlichen) Gesetz. Dieses wird in göttlicher Vollmacht ausgelegt (vgl. Mt 5,17-20). So liefert die Christologie des Matthäus den Schlüssel zum Verständnis des Gesetzes und damit zum Leben der Kirche. Allerdings ist die Forschung kontrovers. Zur Diskussion steht die Grundfrage nach der Übernahme oder Ablehnung der Tora, ihrer Verbindlichkeit oder Ablösung.58

Offenbar ist die Christologie das Fundament des Matthäusevangeliums. Die matthäische Theologie ist von der Überzeugung bestimmt, Jesus als der Sohn Gottes sei der erwartete Messias, der die Heilsverheißung Gottes erfüllt.59 Die Christologie hat somit einen herausragenden Stellenwert im Matthäusevangelium. Die Matthäusforschung beschäftigt sich dagegen aber mehr mit dem matthäischen Schlusstext (Mt 28,16-20)60 und den christologischen Titeln (z. B. der Gottessohn, der Menschensohn)61 als mit der narrativen Struktur der Jesusgeschichte im gesamten Evangeliumszusammenhang.62 Wie Donald Senior hervorhebt, „one should view the whole narrative and its impact on the reader as the medium for communicating Matthew’s theology“63. Er versteht die Christologie als „the summation of the meaning it assigns to the life, ministry, destiny, and person of Jesus“64. Die Exegese steht also vor der Herausforderung, dieses thematische Defizit in der matthäischen Forschung aufzuarbeiten.

Die vorliegende Arbeit widmet sich weder allein der Ekklesia-Thematik noch der Christologie, sondern setzt sich darüber hinaus mit der theologischen Fragestellung auseinander, wie Christologie und Ekklesiologie im Matthäusevangelium miteinander verbunden sind. In diesem Forschungsfeld gibt es Ansätze, die aber unterschiedliche Perspektiven und Akzentuierungen zeigen.

Günther Bornkamm

In einem redaktionsgeschichtlich programmatischen Beitrag „Enderwartung und Kirche im Matthäus-Evangelium“ (1956)65 zeigt Günther Bornkamm den Zusammenhang von Eschatologie, Ekklesiologie und Christologie auf. Er setzt dabei voraus, Matthäus habe die urchristliche Überlieferung, also die literarischen Quellen, so sorgfältig und planmäßig bearbeitet, dass seine theologische Konzeption anhand dieser Veränderungen dargestellt werden kann. Als Kennzeichen des Matthäusevangeliums gelten u. a. die Redekompositionen; aus ihrer Analyse ergebe sich, dass das Kirchenverständnis des Matthäus von der Erwartung des kommenden Gerichts geprägt sei. Die matthäisch spezifische Komposition zeige also eine „eigentümliche Verbindung von Enderwartung und Kirchengedanken“66. Die Klammer zwischen beiden bestehe „im Verständnis des Gesetzes und damit der neuen Gerechtigkeit, die die Jünger Jesu von Pharisäern und Schriftgelehrten unterscheidet, zugleich aber der Maßstab ist, nach dem die Glieder der Kirche selbst von dem kommenden Richter erst gerichtet werden“67. Das Matthäusevangelium entstand laut Bornkamm im jüdischen Milieu, sein Gesamtentwurf zeige damit eine stark jüdische Ausprägung. Vor diesem Hintergrund sei das Gesetz nicht unwichtig, um den jüdischen Charakter des Evangeliums zu bezeichnen. Nach Bornkamm versteht Matthäus das Gesetz nicht im Gegensatz zum Judentum, sondern „stellt sein Gesetzesverständnis bewusst in die jüdisch-schriftgelehrte Tradition“68. Die Frage nach der rechten Gesetzesauslegung sei aber strittig. Matthäus polemisiere gegen das Konzept der Gesetzesauslegung und die Diskrepanz zwischen Lehren und Tun bei den Gegnern Jesu. Er gewinne damit „sein radikales Verständnis des Gesetzes, indem er es sub specie principii, im Licht des in der Schöpfung kundgewordenen Willen Gottes, aber erst recht sub specie iudicii, im Sinne des universalen Weltgerichtes versteht, dem alle und gerade auch die Jünger entgegengehen“69. Diese konsequente und radikale Rezeption des Gesetzes bestimme das Kirchenverständnis bei Matthäus, sie sei aber in seiner Christologie begründet. Im Matthäus-evangelium erscheine Jesus als ein zweiter Mose, dessen Geschichte von der Erfüllung des Gesetzes (Mt 5,17) bestimmt wird. Seine messianische Würde werde von der Autorität der Schrift ausgewiesen.

Die Fülle christlicher Aussagen werde, so Bornkamm, nicht schon mit einer Reihe von ekklesiologischen Begriffen und Motiven ausgeschöpft. Aber es sei möglich, dass die Jüngerschaft die Messianität Jesu und seine Lehre vertrete. Der „Jünger“ habe im Matthäusevangelium nicht dieselbe Position wie der Schüler eines jüdischen Lehrers. Seine Identität werde von der Berufung in die Nachfolge und der Beauftragung zur Verkündung der Gottesherrschaft (Mt 10,7) und zur Lehre der Gebote Jesu (Mt 28,20) begründet. Die nachösterliche Jüngerschaft stehe mit Jesus nicht so in Verbindung, wie man in Verbindung mit einem Rabbi der Vergangenheit verbunden sein könne, sondern werde von der Beistandszusage des erhöhten Kyrios begleitet (Mt 28,20; vgl. 18,20). Das Kirchenverständnis des Matthäus habe auf diese Weise in der Christologie seine Entsprechung und Begründung (vgl. Mt 16,17-19 im Kontext von 16,13-28).

 

Auswertung: Bornkamms Untersuchung, die redaktionsgeschichtlich angelegt ist, zeigt großes Interesse am matthäischen Kirchenbild. Die Kirche ist eschatologisch ausgerichtet, wie die spezifisch matthäischen Redekompositionen ausweisen. Sie richtet ihren Blick auf den letzten Tag, wobei die Gerechten sich von den Ungerechten nach dem Maßstab der „besseren Gerechtigkeit“ (Mt 5,17-19) unterscheiden werden. Das Gesetz kommt durch die messianische Lehre Jesu zur Geltung. Jesus bestimmt gleichzeitig das Wesen der Kirche mittels seiner vor- und nachösterlichen Verbindung zur Jüngerschaft. Bornkamm arbeitet das Verständnis der Kirche bei Matthäus im eschatologischen und christologischen Zusammenhang heraus. Demgegenüber wird in dieser vorliegenden Studie die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die direkte Verbindung von Christologie und Ekklesiologie gerichtet. Die Eschatologie wird nicht in direkter Verbindung zur Ekklesiologie behandelt, sondern ist in die christologische und ekklesiologische Themendarstellung mit einbezogen. Ihre große Bedeutung im Matthäusevangelium (z. B. Mt 24-25) ist aber keineswegs zu unterschätzen.

Georg Strecker

Die Habilitationsschrift von Georg Stecker „Der Weg der Gerechtigkeit“ (1962) hat neben dem einleitenden Teil zwei Hauptteile, nämlich einen christologischen und einen ekklesiologischen. Diese klare Arbeitsgliederung zeigt an, dass Strecker für die theologische Konzeption des Evangelisten den Fokus insbesondere auf die Christologie und Ekklesiologie richtet. Beide Perspektiven sind davon geprägt, dass er Matthäus in der Darstellung Jesu eine historisierende Tendenz zuschreibt, deren theologische Qualität bei Strecker in Verbindung mit der Eschatologie und der Ethik gewonnen wird; so entstehe eine Vorstellung von Heilsgeschichte.

Strecker hebt hervor, das Evangelium sei „als Darstellung des Lebens Jesu seinem Wesen nach primär christologische Aussage“70. Seine Untersuchung widmet sich daher zunächst – und umfänglich – der Christologie des Matthäus, die dann durch die historischen und die eschatologischen Bezüge herausgestellt wird. Nach Strecker deutet Matthäus unter der Bestimmung einer Historisierungstendenz seine Christologie historisch, wie es sich in der Zeitanschauung, den geographischen und den sachlichen (Israelthematik und Jesus als Davidssohn) Vorstellungen zeigt71. Er hebe die Zeit Jesu als einen einmaligen Ausschnitt aus der Vergangenheit hervor. Er blicke von seiner Gegenwart auf den besonderen Zeitabschnitt Jesu in der Vergangenheit. Er zeichne eine kontinuierliche Linie von der Geburt bis zum Tod und zur Auferstehung, um der Biographie Jesu den historischen Charakter zu verleihen. Seine christologische Aussage als „ein der Vergangenheit angehörendes, zeitlich und räumlich fixierbares ‚Objekt‘“72 schließe jedoch nicht mit einem in sich geschlossenen Teil des Zeitablaufes, sondern deren Deutungshorizont werde dadurch erweitert, dass einerseits die Geschichte Israels als eine Vorgeschichte des Evangeliums vorgestellt (Mt 1,1-16) wird und andererseits eine neue Epoche, die Zeit der Kirche und ihrer Mission, nach der Auferstehung angedeutet ist (Mt 28,16-20). Der Zeitabschnitt des Lebens Jesu habe auf der historischen Ebene eine besondere Bedeutung, sei aber zugleich „von dem noch ausstehenden, Gericht und Heil bringenden Ende der Geschichte deutlich abgehoben“73. Die theologische Bedeutung Jesu sei nicht allein auf der Grundlage der Historie zu beschreiben. Jesus sei nicht nur der historische, sondern der eschatologische Kyrios, der gekommen ist. So werde sein Leben nicht zuletzt durch die Verkündigung gekennzeichnet, die sich als ethische Belehrung versteht, also als „Forderung, die durch den Blick auf das Eschaton motiviert ist, daher eschatologischen Anspruch erhebt“74. Der historische Moment werde jedoch nicht dem eschatologischen untergeordnet, umgekehrt aber auch nicht. Die Christologie des Matthäus sei nicht durch die Alternative „historisch“ oder „eschatologisch“ zu erschließen, sondern durch die Zusammenschau beider Aspekte. Insofern könne man das Leben Jesu „in den Kategorien der ‚Heilsgeschichte‘ begreifen, in der die lineare Periodisierung mit der eschatologischen Heilsbedeutung der Zeit zur Einheit verbunden ist“75. In der Mitte dieser Heilsgeschichte werde die eschatologische Forderung verkündet und vorbildhaft durch das Handeln Jesu praktiziert – z. B. bei seiner Taufe und seiner Passion.

Die Zeit Jesu, die von den Propheten vorausgesagt war, weite sich nach der Ablehnung der Vorrechte Israels mit der Zeit der Kirche aus. Daher beginne mit der Auferstehung eine neue Periode der Heilsgeschichte, die von der Zeit Jesu abgehoben ist. Sie stehe allerdings in Verbindung mit der Vergangenheit. Sie bekomme vom Leben und Werk Jesu Sinn und Aufgabe. Die christologische Aussage finde in der ekklesiologischen einen Niederschlag. Matthäus charakterisiere seine Ekklesiologie durch die „Jünger“; sie bezeichneten die geschlossene Gruppe, die dem Herrn gegenübersteht. Sie bildeten zugleich die spätere Gemeinde im Voraus ab. In der Historisierungstendenz des Evangelisten sei der μαθητής-Begriff den Zwölf vorbehalten. Sie seien die Augen- und Ohrenzeugen des Lebens Jesu. Sie würden in der Aussendungsrede mit ihm parallelisiert, da sie durch ihre Machttaten das Eschaton vergegenwärtigen. In der Darstellung ihrer Gestalt spiegele sich die historisierende Akzentuierung wider, die aber durch das Petrusbild in ekklesiologischem Sinn typologisiert wird. Die Sendung der Jünger an alle Völker (Mt 28, 16-20) sei der Anfang der Kirche, so dass die Verbindung mit der heilsgeschichtlichen Periode gesichert ist. Die Ekklesiologie erlange eschatologische Qualität dadurch, dass die Gemeinde sich an den ethischen Forderungen Jesu ausrichte; sie solle in der Nachfolge Jesu die eschatologische Gerechtigkeit erfüllen. Sie sei aber fortwährend von der Versuchung der Sünde bedroht. Ihre christliche Existenz werde „durch eine ständige Bewegung zwischen Bejahung und Verneinung, Erfüllung und Nichterfüllung des eschatologischen Imperativs“76 charakterisiert. Für die Vollkommenheit hat deshalb dieses corpus mixtum die Paränese notwendig.

Auswertung: Streckers Untersuchung zielt auf die Rekonstruktion der Heilsgeschichte ab. Das irdische Leben Jesu – von der Geburt über sein öffentliches Wirken bis zum Tod und zur Auferstehung – vollzieht sich auf der historischen Ebene. Das Heilsgeschehen durch Jesus entfaltet sich mit der Sendung der Kirche weiter, jedoch unter der Voraussetzung der Ablehnung Jesu durch Israel. Die Zeit der Kirche ist am letzten Gericht Gottes orientiert. Die ethischen Forderungen an die Jünger als Gegenstand der Basileia-Verkündigung Jesu sind schon eschatologisch ausgerichtet. Bei Strecker ist die Heilsgeschichte von der Historisierungstendenz bestimmt. Christologie und Ekklesiologie bewegen sich auf der historischen Ebene. Die Geschichte Jesu beruht aber m. E. nicht nur auf der historischen Erinnerung, sondern hat einen bleibenden Gegenwartsbezug. Sie gewinnt ihre Bedeutung dadurch, dass sie durch die Sendung der Kirche fortbesteht und damit transparent bleibt.

Eduard Schweizer

Die Frage, welches Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie im Matthäusevangelium besteht, leitet auch Eduard Schweizer für seine Matthäus-Forschung77. Im Vorwort erwähnt er explizit, ihn habe besonders der „Zusammenhang der Ekklesiologie des Matthäus mit seiner Christologie interessiert“78. Als Schwierigkeit erkennt Schweizer jedoch, dass „Matthäus nie seine Theologie oder Christologie bewußt darlegt“, während bei Markus „schon der Aufriß des Evangeliums als ganzes eindeutig auf die Christologie zugespitzt“79 ist. Nach Schweizer zeige das Matthäusevangelium mehr das ekklesiologische Interesse als das christologische. Er sehe das Verständnis der „Gemeinde“ (Mt 16,18; 18,17) als sein zentrales Thema an.