Edgar – Mein Leben zwischen Nobelpreis und Arschkarte

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Auf dem Schulhof bin ich jetzt ein Star.

Mein schräges Geburtstagsgedicht für Fräulein Lieblich ist Gesprächsthema Nummer eins. Wie ein Lauffeuer hat sich die Neuigkeit in der ganzen Schule verbreitet. Ich bin plötzlich der Hingucker. Alle starren mich an, als hätte ich nicht wie Bernd bloß einen, sondern gleich zehn Scheitel auf dem Kopf. Die Mädchen tuscheln und kichern und die Jungs grinsen mir hinterher. Rudi und Bernd laufen neben mir wie zwei Bodyguards. Fehlt bloß noch, dass ich jetzt Autogramme geben muss. Es ist ganz schön anstrengend, eine Berühmtheit zu sein.

Ich verkrieche mich auf der letzten Bank im hintersten Winkel vom Schulhof. Hier habe ich ein bisschen Ruhe. Nur nicht vor Rudi. Der nervt schon die ganze Zeit über mächtig.

„Habt ihr gesehen, wie der Heidelbeere vor Überraschung der Mund runtergeklappt ist? Die war ja total sprachlos. Ich hätte nie geglaubt, dass ihr so was mal passieren würde. Dass du ein Gedicht ohne zu Stocken aufsagen kannst, das hat sie dir garantiert nicht zugetraut“, schwärmt er.

„Ich mir auch nicht!“, knurre ich zurück und grüble immer noch über die Stimme in meinem Ohr nach. „Sagt mal, hat euch schon mal jemand angesprochen, der eigentlich gar nicht da ist?“, zische ich leise. Es muss ja nicht jeder wissen, dass ich Stimmen höre.

„Ist bei dir ‘ne Schraube locker?“, platzt Rudi erschrocken hervor. Ich seufze.

„Wenn ich das bloß wüsste.“ Bernd zuckt mit den Schultern. „Das ist doch nichts Besonderes. In der Klapsmühle von meinem Onkel finden jeden Tag solche Gespräche statt. Da unterhalten sich die Verrückten ständig mit irgendwelchen unsichtbaren Typen.“

Na toll! So weit ist es also mit mir gekommen. Ich bin verrückt. Ich bin reif für die Klapsmühle. Und wie zur Bestätigung krächzt es im nächsten Augenblick erneut in meinem Ohr: „Verflixt, ist das klebrig hier. Autsch! Jetzt bin ich ausgerutscht. Igitt, was für eine Pampe! Eine Schweinesuhle ist nichts dagegen!“

„Oh nein, da ist die Stimme schon wieder“, stöhne ich panisch. Rudi rutscht neugierig an mich heran. „Echt? Und was sagt sie?“

„Sie meckert über den Dreck in meinem linken Ohr.“

„Die Stimme kommt aus deinem linken Ohr? Cool, zeig mal her“, sagt Bernd und leuchtet mit seiner Minitaschenlampe in mein Ohr.


Das ist sehr unangenehm, denn Bernd kriecht fast mit hinein. Er ist ein bisschen kurzsichtig und sieht nur richtig gut, wenn er mit der Nase fast drauf stößt. Deshalb sitzt er bei Frau Schrei im Musikunterricht auch immer ganz hinten. Damit er „das Elend“ vorn nicht sehen muss. Es reicht ihm vollkommen, wenn er es hört. Am liebsten wäre er in Musik auch noch taub. Aber Hören tut er ausgezeichnet. Und manchmal ist das ja auch sehr wichtig. Zum Beispiel, wenn man sich in einer Leistungskontrolle mal etwas vorsagen lassen muss. Und Bernd muss sich in Musik sehr oft sehr viel vorsagen lassen. Weil er auf musikalische Bildung keinen Wert legt. Wenn es ihn auf die Opernbühnen diese Welt ziehen würde, wäre das was anderes. Aber er will später mal Pilot oder Müllfahrer werden. Und für so was brauche er kein musikalisches Gemüt, behauptet er.

Doch im Moment sagt er nichts. Im Moment schnauft er nur und verrenkt sich neben mir nach allen Seiten, um auch wirklich jeden Winkel meiner Ohrmuschel auszuleuchten. Von Weitem muss es aussehen, als würden wir zwei gerade eine ziemlich komplizierte Yoga-Übung aufführen. Ich halte zähneknirschend still und hoffe, dass uns jetzt niemand dabei beobachtet. Ich bin nicht scharf auf noch mehr doofe Bemerkungen.

Schließlich lässt Bernd die Lampe wieder in seiner Hosentasche verschwinden und ächzt enttäuscht: „Da sitzt ein fetter Klumpen Ohrenschmalz. Aber sonst ist nichts zu sehen.“

„Was hast du denn gedacht?“, knurre ich zurück. „Dass ich einen Mann im Ohr sitzen habe?“ Bernd nickt. „Wieso nicht? Bei meinem Onkel in der Klapsmühle gibt es einen, der hat sogar eine ganze Blaskapelle im Ohr. Jedes Mal wenn sie losspielt, reißt der Typ den Mund auf und die Musik kommt wie aus einem Lautsprecher hervorgescheppert. Vielleicht ist es ja bei dir ähnlich. Aber in deinem Ohr kann man ja leider nichts erkennen. Der Gehörgang ist dicht wie ‘n verkorkter Flaschenhals. Da hat die Stimme vollkommen Recht, wenn sie über den Dreck in deinem Ohr meckert. Moment mal! Woher weiß die Stimme eigentlich, dass dein Ohr zugemüllt ist? Das kann sie doch nur wissen, wenn sie Augen zum Sehen hat. Und wenn sie Augen hat, bedeutet das folglich, dass sie nicht bloß als Stimme in deinem Kopf existiert, denn eine Stimme hat keine Augen“, kombiniert Bernd.

„Sie hat nicht nur Augen, sie hat auch Beine. Sie ist nämlich in meinem Ohr ausgerutscht“, grummle ich und schaffe es damit zum zweiten Mal an diesem Tag, dass bei jemandem der Mund herunterklappt. Diesmal ist es Rudi, der sich nicht einkriegt. Er zieht sich bis zum Ende der Bank zurück und stöhnt: „Mann, das wird mir jetzt aber langsam echt unheimlich. Hoffentlich ist das nicht ansteckend. Kann man sich gegen so was impfen lassen?“

„Kann man nicht. Sonst wäre der Typ mit der Blaskapelle im Ohr ja nicht in der Klapsmühle gelandet“, murmelt Bernd düster und schafft es damit, mir auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung zu nehmen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm ist.

Wenig später stehe ich vorm Lehrerzimmer und überlege, ob ich jetzt echt da reingehen soll.

Unser Lehrerzimmer ist nämlich neben dem Direktorenzimmer der bedrohlichste Ort für uns Schüler. Weil dort die Lehrer meistens in geballter Ladung vorkommen. Schon einzelne Lehrer sind ja für einen Schüler nur schwer zu verkraften. Wo Lehrer aber in Massen auftreten, da wird’s erst richtig ungemütlich.

Auch hinter dieser Tür ist das so. Da brennt dauernd die Luft. Das Telefon klingelt unablässig, irgendwer hämmert Schriftstücke in eine Computertastatur und von allen Seiten hetzen die Lehrer zum Kopierer hin oder in die entgegengesetzte Richtung davon. Jeder Schüler, der sich in dem Chaos blicken lässt, läuft echt Gefahr, totgetrampelt zu werden. Und falls man es doch irgendwie schafft, wieder lebend da rauszukommen, hat man plötzlich irgendeinen doofen Auftrag am Hals, wie Unterrichtsmaterialien austeilen oder Schülerlotsenvertretung. In unserem Lehrerzimmer herrscht ein Gewusel wie in einem Ameisenhaufen. Bloß, dass die Ameisen hier größer sind und dauernd Aufgaben verteilen.

Ganz anderes dagegen ist es im Zimmer vom Direktor Kittel. Da ist es so still wie in einer Friedhofsgruft. Leider fühlt man sich dort auch begraben wie in einer Gruft. Deshalb heißt dieser Raum unter uns Schülern auch: die Todeszone. Wer da hinein muss, der ist mindestens ein Schwerverbrecher und eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Dort werden die „ganz schlimmen Fälle“ behandelt und verurteilt. Strafen wie Schulverweise oder Elterneinladungen sind das Mindeste. Manchmal gibt es noch drei Wochen Tafeldienst oder Papier aufsammeln auf dem Schulhof als Zugabe obendrauf. Welche Strafe man kriegt, weiß man vorher nie. Das kommt daher, weil die Strafen von Lehrern gemacht werden und die meisten Dinge die Lehrer tun, für uns Schüler völlig unlogisch sind.

Genauso unlogisch wie jetzt die Tatsache, dass mich Fräulein Lieblich ins Lehrerzimmer bestellt hat. Obwohl sie doch wissen müsste, dass es dort für mich höchst gefährlich werden kann. Aber vielleicht habe ich ja Glück und es ist gerade niemand drin. Dann kann ich mich schnell wieder verziehen und keiner darf hinterher behaupten, ich wäre ein Feigling und hätte mich bloß vor der Gefahr gedrückt.

Doch meine Hoffnung hält nur kurz an. Kaum habe ich an die Tür gepocht, ruft jemand von drinnen: „Herein.“ Die Stimme erkenne ich sofort. Sie gehört unserem Direktor. Ich wundere mich ein bisschen, wieso sich unser Direktor im Lehrerzimmer aufhält. Denn eigentlich gehört er ja ins Direktorenzimmer und demzufolge genauso wenig hierher wie ich. Aber wo er schon mal hier ist, will ich ihm einen hochachtungsvollen Gruß entbieten, so, wie es sich für einen braven Schüler gehört. Man weiß ja nie, ob es sich nicht hinterher mal auszahlt, wenn man einer Führungskraft höflich begegnet. Und unser Direktor Kittel ist ja sogar die oberste Führungskraft an unserer Schule.


Er ist der „Big Boss“ und steht über uns allen an der Spitze. Danach kommen die Lehrer. Dann Hausmeister Schlüsselbund, unser Küchenbulle Frau Aufessen und unser Putztäufelchen Fräulein Besenrein. Die stehen wiederum in der Hackordnung über den Schildkröten aus dem Schulzoo und den Schnecken und Käfern im Salatbeet vom Schulgarten. Darin sind sich alle einig. Da braucht man hier mit niemandem drüber zu diskutieren. Nur, wo wir Schüler stehen, ist noch nicht ganz klar.

Einige von uns meckern rum, wir Schüler kommen immer ganz zum Schluss. Wir sind der letzte Arsch im Glied. Andere dagegen finden, dass das so nicht stimmt. Weil wir wichtig sind. Wenn es uns nicht gäbe, könnten sie den Laden hier nämlich dichtmachen. Ich persönlich glaube ja, ein bisschen haben alle Recht und die Wahrheit liegt wohl eher in der Mitte.

Doch als ich nun ins Lehrerzimmer trete, zerbreche ich mir über so etwas natürlich nicht den Kopf. Ich nicke unserem Direktor freundlich zu und grüße ihn mit den Worten:

„Wenn zur Weise sich der greise

Weise dreht auf schräge Weise,

weiß die weiße weise Waise,

er hat’s wieder mit dem Steiße.“

Direktor Kittel starrt mich an, als wäre ich irgendeine übernatürliche Erscheinung und ich merke, wie ich einen knallroten Kopf bekomme. Was war denn das jetzt? Schon wieder so ein peinlicher Aussetzer! Ich wollte doch bloß sagen: „Guten Tag, lieber Herr Direktor! Ich hoffe, ihnen geht es gut. Grüßen Sie Ihre Frau schön von mir!“ Doch stattdessen plappere ich irgendwelchen Schwachsinn. Was ist bloß mit mir los?

 

In meinem linken Ohr meldet sich wieder die Stimme und jubelt: „Yippie!“ Und dafür habe ich jetzt bloß eine Erklärung: Ich bin reif für die Klapsmühle!

Während ich darüber nachgrüble, wie ich nun aus der peinlichen Nummer wieder herauskomme, schallt plötzlich Beifall durchs Zimmer und Fräulein Lieblichs Stimme zwitschert: „Na, was sagst du jetzt? Habe ich dir zuviel versprochen, Bernhard? Edgar hat ein unglaubliches Talent. Glaubst du mir jetzt, dass er der Richtige ist?“ Direktor Kittel nickt und lächelt verschmitzt. Die Überraschung in seinem Gesicht ist wie weggeblasen. Dafür sitzt bei mir der Schreck jetzt umso tiefer. Was meint Fräulein Lieblich jetzt bloß? Wofür bin ich der Richtige? Und was für ein Talent soll das sein? Bis jetzt bin ich auch ganz gut ohne Talent klargekommen. Und eigentlich hatte ich auch in Zukunft nicht vor, mit irgendeinem Talent in Verbindung gebracht zu werden. Denn hast du erst mal eins, wirst du es nie wieder los. Dann haftet es an dir, wie Hundekacke an deiner Schuhsohle. Überall musst du es mit herumschleppen und vorzeigen. So ein Talent ist eine Last, die ich nicht gebrauchen kann. Deshalb war ich bisher auch froh, keins zu besitzen. Und jetzt das: Ein Talent hat sich klammheimlich an mich rangemacht. Und seine Folgen bekomme ich auch gleich zu spüren. Fräulein Lieblich taucht hinter einem Bücherstapel auf, sieht mich mit leuchtenden Augen an und flötet: „Wir würden uns sehr freuen, wenn du am Lyrischen Abend teilnehmen und dort deine Klasse vertreten würdest. Was hältst du davon, Edgar?“

Ich weiß nicht, ob der Schock über mein unverhofftes Talent daran Schuld ist oder wieder die Stimme in meinem Ohr. Aber anstatt eines klaren: Nein danke! Ich bin doch nicht bekloppt! Nehmt doch die Heidelbeere!, kommt wieder so ein Mist aus meinem Mund:

„Alphabet mal anders:

Vier Hexen wollen Rudern geh’n,

die Jüngste heißt Sybille.

Die Älteste liebt Speisequark,

die Schönste trägt ‘ne Brille.

Die Letzte, die heißt Muh-Muh-Muh,

da ist es fast kein Wunder,

dass sie auch schwer ist wie ‘ne Kuh,

so geht das Boot rasch unter.“

Fräulein Lieblich und Direktor Kittel sind begeistert.

„Willkommen im Team. Wir gratulieren dir zu deiner löblichen Entscheidung. Unser Lyrischer Abend ist zwar nicht die Nobelpreisgala, aber ein guter Anfang. Er kann für dich der Beginn einer großen Karriere werden“, sagt Direktor Kittel hocherfreut und kugelt mir beim Händeschütteln fast den Arm aus.

„Ja, nur den Besten wird diese Ehre zuteil. Selbstverständlich habe ich dir für dein schönes Gedicht von vorhin ein „sehr gut“ mit Sternchen ins Klassenbuch eingetragen“, trällert Fräulein Lieblich und strahlt mich an. Und ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass es bis zum Literaturnobelpreis jetzt echt nicht mehr weit sein kann.


Der Lyrische Abend findet in jedem Jahr an unserer Schule statt.

Er ist ein Höhepunkt unseres Schülerlebens, sagen die Lehrer. Was aber falsch ist, weil es in einem Schülerleben gar keine Höhepunkte gibt. Vielmehr gibt es massenhaft Tiefpunkte. Wie Zeugnisausgaben, Leistungskontrollen, das Schulessen, Musikunterricht bei Frau Schrei – die Aufzählung ließe sich endlos fortführen.

Da unsere Schule schon sehr alt ist, ist auch der Lyrische Abend nicht mehr ganz jung. Was ihm aber nichts ausmacht, weil er eine lang Tradition hat und Traditionen müssen lang sein, weil man sie sonst nicht ernst nimmt. Unser Lyrischer Abend hat eine sehr lange Tradition, hat uns Direktor Kittel erläutert und seiner ehrfürchtigen Miene nach zu urteilen, müssen auch schon Heinrich Heine und Johann Wolfgang von Goethe hier aufgetreten sein.

Wie immer beginnt auch in diesem Jahr der Lyrische Abend mit den Vorbereitungen. Hausmeister Schlüsselbund holt von überall Stühle zusammen und sperrt sie in einen besonderen Raum. Der Raum ist sehr prunkvoll. An der Decke hängen riesige Kronleuchter und die Fensterscheiben sind aus buntem Glas. Sogar eine Orgel gibt es. Es ist fast wie in einer Kirche. Nur, dass es hier keine Empore gibt, von wo aus unser Direktor auf uns Schüler herabpredigen kann. Wenn Direktor Kittel seine Predigten hält, steht er an einem Rednerpult auf einer kleinen Bühne. Deshalb heißt der Raum auch nicht Kirche sondern Aula. Ich persönlich finde Aula ja etwas unpassend, weil die Bezeichnung eher nach einem Speichelprodukt klingt. Prunkhalle oder Luxuskabuff wäre hier meiner Meinung nach angebrachter. Aber mich fragt ja keiner. Schülermeinungen sind an unserer Schule leider meistens nur in Leistungskontrollen gefragt.

Nachdem Hausmeister Schlüsselbund genügend Stühle eingesammelt hat, schleppt er haufenweise Kartons vom Dachboden in die Aula. In den Kartons ist so ziemlich alles drin, was man für einen Lyrischen Abend so braucht. Kerzen und Kerzenleuchter, Bankett-Tischdecken, Plasteblumen, ein Buchständer, ein Mikrofon, Korkenzieher, Flaschenöffner Mottenkugeln und Fliegenspray. Einen ganzen Tag braucht Hausmeister Schlüsselbund für den Transport. Weil er nur zwei Hände hat und nicht hexen kann, wie er sagt. Aber beim Konzertflügel holt er sich noch ein paar Hände aus den oberen Klassen dazu. Die stärksten Jungs müssen mit anpacken und den Flügel aus dem Musikzimmer in die Aula rollen. Leider ist noch keiner drauf gekommen, ihn gleich für immer dort stehen zu lassen. Dann müsste er nie wieder hin und her gerollt werden und wir hätten endlich Ruhe im Musikunterricht, weil Frau Schrei uns damit nicht länger quälen könnte.

Nicht nur Hausmeister Schlüsselbund hat Vorbereitungen zu treffen. Auch unsere Eltern tragen Verantwortung. Sie müssen für die Beköstigung sorgen. Kuchen, Plätzchen, Kartoffel- und Nudelsalate, Würstchen, Schmalzbrote, Pizzen, gebratene Hühnerkeulen – alles wird gebraucht. Weil Lyrik anstrengend ist und hungrig macht. Und weil wir sonst nichts auf den Bankett-Tischen stehen hätten. Denn leere Bankett-Tische sehen nicht besonders stimmungsvoll aus und wir brauchen eine stimmungsvolle Umgebung, damit wir die „aufwühlende Kraft der Lyrik erspüren können“. Sagt jedenfalls Direktor Kittel in seiner Eröffnungsrede. Ich habe ihn zufällig dabei belauscht, als er sie einstudiert hat – wie immer auf dem Jungsklo, vor dem großen Spiegel überm Waschbecken.


Es waren sehr viele Worte, die er gesprochen hat und die meisten davon habe ich nicht kapiert. Aber das ist bei unserem Direktor nichts Neues. Seine Reden sind für uns Schüler immer schwer verständlich. Er könnte sie auch auf Indonesisch halten oder uns das Telefonbuch rückwärts aufsagen, es wäre dasselbe. Aber Direktor Kittel stört sowas nicht, Hauptsache er kann reden und die Schüler sperren ihre Ohren weit auf.

Hannibal meint, dass es keinen Zweck hat, sich darüber weiter aufzuregen, weil es unser Schicksal ist. Ein Direktor ist das Oberhaupt und somit der Chef der Schule und darf reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und wir Schüler sind seine Untertanen und müssen die Ohren aufsperren. So läuft das nicht nur an Schulen, so funktioniert das ganze Leben: Der Kopf spricht und der Arsch hört zu.

Am Lyrischen Abend aber ist Direktor Kittel mal nicht die Hauptperson, jedenfalls sagt er das in seiner Rede. Stattdessen stehen wir, die Vortragenden, im Rampenlicht. Nun sind zur Abwechslung wir mal die Leittiere der Schülergemeinde.

Meerschweinchen-Klara hat sich vor Lachen ausgeschüttet, als ich ihr das erzählt habe. Dann hat sie gesagt, dass ich auf meine Figur aufpassen soll, weil Leittiere schnell dick werden. Sie hätte da so ihre Erfahrungen. Ich wusste sofort, wen sie meint. Rambo nämlich. Rambo ist der Anführer ihrer Meerschweinchenherde. Deshalb steht Rambo in der Hackordnung ganz vorn und frisst immer zuerst. Und erst, wenn er satt ist, dürfen die anderen an den Futternapf. Ein Leittier muss beim Fressen mit niemandem teilen, deshalb hat es Überbreite, hat mir Klara erklärt. Aber ich glaube, hier täuscht sie sich. Leittiere sind nicht automatisch dick. Und wer dick ist, ist nicht automatisch ein Leittier. Wenn es anders wäre, dann müsste ja beim Lyrischen Abend auch Pfannkuchen-Rosi mit auf der Bühne stehen. Die hat schließlich mehr Überbreite als die meisten von uns.

Seit ich der Bildungselite unserer Schule angehöre sind Rudi und Bernd schwer beeindruckt.

Rudi sagt, er hätte nie gedacht, dass ich es mal so weit bringen würde. Weil ich doch in Deutsch bis jetzt immer so eine Niete war. Und Bernd erinnert mich an unseren Schwur, dass wir alles teilen wollen und dass alle Preise, die ich beim Lyrischen Abend abräume, somit durch drei gehen.

Die Heidelbeere dagegen ist stinksauer, als sie Wind von meinem kometenhaften Aufstieg bekommt. Sie hatte fest damit gerechnet, selber ins Lyrik-Kompetenzteam befördert zu werden. Schließlich ist sie Klassenbeste und Schülersprecherin dazu und eine solch löbliche Doppelbelastung könne ja wohl niemand sonst vorweisen, schimpft sie aufgebracht. Hannibal hält dagegen, dass das noch lange kein Grund sei, sich so aufzublasen. Er mache schließlich auch nicht so ein Theater, obwohl er sogar eine Dreibfachbelastung zu verkraften hätte. Einmal durch den Unterricht, dann hinterher auf dem Bolzplatz und am Abend schließlich auch noch zu Hause, wo er seinen Eltern ständig die miserablen Zensuren beibringen müsse, klärt er uns auf. Aber das lässt die Heidelbeere nicht gelten. Sie sagt, wenn er nicht so faul wäre, hätte er auch keine Unterrichtsbelastung und bessere Zensuren. Und wenn es einer verdient hätte, unsere Klasse beim Lyrischen Abend zu vertreten, dann doch wohl nur jemand mit ihren Qualitäten.

Daraufhin geht die Heidelbeere zu den Mädchen und meckert dort weiter rum – wieso mir Fräulein Lieblich für mein Gedicht eine Eins mit Sternchen geben konnte, während sie selber nur eine einfache Eins bekommen hat. Und dann motzt sie noch: Ein solch unterirdisch schlechtes Gedicht wie meins, hätte sie das letzte Mal im Kindergarten in der Krabbelgruppe gebrabbelt. Und weiter, dass Fräulein Lieblich wohl nicht richtig hingehört habe, sonst hätte sie mein Gestotter ganz bestimmt nicht so gut benotet. Aber die Mädchen lässt das kalt. Besonders Pfannkuchen-Rosi. Die zuckt nur mit den Schultern. Wenn es nicht um Pfannkuchen geht, hat Rosi auch keine Meinung. Und Meerschweinchen-Klara hat zwar eine Meinung. Aber die behält sie lieber für sich. Weil Frauen kleine Geheimnisse haben müssen. Das macht sie attraktiver, hat sie mir etwas später anvertraut und mich dabei ganz komisch angelächelt.

Beim Abendessen dann fällt mir das Wort attraktiv wieder ein und ich frage gleich mal nach, was es bedeutet. Mama erklärt mir, dass man es beispielsweise sagt, wenn jemand einen sehr gepflegten Eindruck macht und immer gut gekleidet ist. Dann spricht man von einer attraktiven Person.

„So wie Frau Stöckelschuh aus dem Nachbarhaus?“, frage ich.

„Richtig, Frau Stöckelschuh ist so eine attraktive Person“, bestätigt mir Mama und ich kapiere, dass attraktiv dasselbe ist wie aufgedonnert. Denn Papa nennt Frau Stöckelschuh immer: Aufgedonnertes Modepüppchen. Manchmal gibt es eben für ein und dieselbe Sache gleich mehrere Bezeichnungen – auch das habe ich längst kapiert. Beispielsweise nennt Mama mich immer „Edgarchen“, wenn sie mich ruft. Papa dagegen nennt mich „mein Großer“. Stella findet, „Blödmann“ passt am besten zu mir. Und Malte plärrt meistens „Ägar“, wenn er mich meint.

Oder nehmen wir mal die Heidelbeere. Die heißt ja eigentlich Heidrun-Beatrice. Doch Direktor Kittel nennt sie mitunter auch „Vorbild“, unser Sportlehrer Triller dagegen meistens „steife Gurke“ und wir Schüler sagen „Streberin“ zu ihr oder „blöde Ziege“ oder „liebe Heidrun“, je nachdem, was wir gerade von ihr wollen. Welche Bezeichnung man wählt, hängt immer von der Wertschätzung ab, die man einer Sache oder einer Person gegenüber empfindet. Je größer die Wertschätzung, umso liebenswerter das Wort.

Bei der Heidelbeere genieße ich derzeit eine unterirdisch geringe Wertschätzung. Seit sie Wind davon bekommen hat, dass ich unsere Klasse beim Lyrischen Abend vertreten soll, nennt sie mich bloß noch Doofplapper. Aber da stehe ich drüber. Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel Pfannkuchen-Rosi beim Felgumschwung. Eigentlich ist es ein lustiger Anblick, wenn Rosi wie ein aufgehängter Sitzsack an der Reckstange baumelt. Solange man nicht selber mit ran muss. Wenn aber unser Sportlehrer Triller ruft: „Jungs, helft doch der Rosi mal beim Schwung holen!“, dann wird’s Schwerstarbeit und wir haben hinterher meistens blaue Flecken und Muskelkater. Da lebt man als Doofplapper doch wesentlich gesünder. Und Gesundheit ist bekanntlich ein kostbares Gut. Das bekomme ich jedenfalls regelmäßig von Mama zu hören. Nämlich immer dann, wenn ich vom Spielen nach Hause komme und gerade mal nicht besonders attraktiv aussehe. Dann macht Mama jedes Mal ein Riesenfass auf und schimpft, dass es ein Wunder sei, dass bei mir noch alles heil geblieben ist, wo ich doch wieder aussehe, wie von einer Gerölllawine überrollt. Und dann sagt sie meistens noch, ich solle ein bisschen mehr auf mich achtgeben und meine Gesundheit nicht immer so leichtfertig aufs Spiel setzen.

 

Neulich erst hat sie wieder damit angefangen.

„Wie kann man nur auf die duselige Idee kommen, bei Tauwetter zu rodeln?“ hat sie gerufen. Und ich habe mich verteidigt und gesagt: „Pah, das bissel Dreck und die paar Schrammen. Wenn der Schnee weg ist, dann ist Rodeln eben etwas problematisch. Da hättest du erst mal Hannibal sehen sollen. Der hat hinterher mit seinen Schlittschuhen sogar noch ein paar Runden im Goldfischteich gedreht. Mama hat entsetzt den Kopf geschüttelt und gesagt, dass wir unbelehrbar wären und wenn wir erst mal richtig krank würden, was sie uns niemals wünscht, dann würden wir sie schon verstehen.

Nein, über Gesundheit kann man mit meiner Mutter echt nicht diskutieren. Deshalb mache ich jetzt auch gar nicht erst meine Klappe auf, als Mama sich plötzlich zu mir über den Abendbrottisch beugt und ruft: „Findet ihr nicht auch, dass unser Edgarchen krank aussieht? Es hat ja fast keine Farbe mehr im Gesicht. Irgendwas stimmt nicht mit dem Jungen!“

Was soll denn mit mir nicht stimmen? Der Tag eines Schülers ist hart und entbehrungsreich. Da sieht man eben so aus, wenn man ihn überstanden hat, denke ich, sage aber nichts dazu. Papa blinzelt mich kurz an und brummelt: „Wenn etwas mit unserem Großen nicht stimmt, dann wird er es uns schon erzählen. Schließlich hat er ja einen Mund zum Reden.“ Ich nicke und hoffe, dass das Thema damit jetzt durch ist. Aber wie immer, wenn es um die Gesundheit geht, lässt sich Mama so schnell nicht stoppen.

„Fühlst du dich nicht gut? Ist etwas mit dir, Edgarchen?“, bohrt sie weiter und lässt nun ihren berühmten Kummerblick auf mich niedergehen. Ich schüttle den Kopf und will nun doch etwas sagen, nämlich: Mach dir keine Sorgen. Mir geht es super. Ich bin heute aufgrund außergewöhnlicher Leistungen in meiner Muttersprache ins Team der Vortragenden zum Lyrischen Abend erwählt worden. Und solche Leistung kann man schließlich nur erbringen, wenn man topfit ist. Doch stattdessen kommt jetzt aus meinem Mund:

„Auf meiner Luftmatratze

hockt eine fette Katze,

sie presst und zieht ‘ne Fratze.

Jetzt seufzt sie auf und wird ganz dünn

- oh, Mann, ich glaub, ich platze!“


Danach denkt niemand mehr ans Abendessen. Stella wirft sich fast weg vor Lachen. Malte will auf der Stelle die fette Katze sehen. Mama starrt mich entgeistert an und Papa stammelt verblüfft: „Äh, wie war das eben? Könntest du das bitte noch mal wiederholen?“

Eigentlich will ich jetzt gar nichts mehr sagen. Aber wie von selbst öffnet sich mein Mund erneut und schon höre ich mich die unglaublichen Worte sprechen:

„Ob Rocker, Zocker, Stubenhocker,

alle tragen Knickebocker.

Bloß Lügen haben keine,

die haben kurze Beine.“

„Fieber! Er hat Fieber! Unser armes Edgarchen“, ruft Mama erschrocken und stürzt ins Badezimmer zum Medizinschrank, um das Fieberthermometer zu holen.

Nein, ich habe kein Fieber! Daran ist bloß die doofe Stimme in meinem Ohr schuld, versuche ich die Sache klarzustellen. Doch auch das geht schief. Diesmal sage ich:

„Dem Hüpfspecht sind Hüpfburgen recht,

auf Schaukeln wird ihm immer schlecht.

Das sagt doch schon der Name – echt,

sonst hieße er ja Schaukelspecht!“

Der Rest des Abends ist schnell beschrieben. Natürlich zeigt das Thermometer kein Fieber an, trotzdem muss ich sofort ins Bett. Mama will den Notarzt anrufen. Papa meint, das wäre übertrieben und man solle nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wahrscheinlich wäre ich bloß ein bisschen überarbeitet und er könne ja mal Direktor Kittel anrufen und ihn fragen, ob es nicht ein bisschen viel ist, was uns Kindern in der Schule an Unterrichtsstoff zugemutet wird. Direktor Kittel ist aber gerade nicht erreichbar. Und da Mama der Meinung ist, dass sie doch irgendwas tun müssten, ruft sie nun die Praxis von Doktor Heilfroh an und vereinbart gleich für den kommenden Tag einen Arzttermin für mich.

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