Das Vermächtnis des Erfinders

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Aus der Reihe: Timmi Tobbson #1
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KAPITEL 05
Die Verfolgung

„Okay, der Hut steht mit der Tasche an der Ampel gegenüber vom Postamt“, rief Marvin.

Einige Gäste kicherten und schüttelten ihre Köpfe.

„Der Hut steht mit der Tasche an der Ampel“, wiederholte einer von ihnen amüsiert.

„Er hat seinen Mantel verkehrt herum angezogen und auch den Hut umgekrempelt. Ist jetzt alles lila. Auch den weißen Bart und die Haare hat er abgelegt. Sie schauen aus seiner Manteltasche“, sagte Marvin.

Augenblicklich stürmte Lilli zurück ins Innere des Cafés und die Treppe hinab. Ich hinterher. Marvin musste die Stellung noch halten und Herrn Hut beobachten, bis Lilli und ich unsere Zielperson gefunden hatten. Also musste er den Kellner hinhalten. Er nahm all seinen Mut zusammen und stellte sich vor, was Lilli jetzt wohl sagen würde.

„12 Euro für ein Stück Erdbeerkuchen?“, fragte er ungläubig.

Der Kellner deutete zur Treppe: „Ihre Freunde, Sie werden sie verlieren.“

Ja, Marvin wäre uns liebend gerne hinterhergelaufen.

Stattdessen sagte er: „Hiermit verliert man niemanden. Schon mal gesehen? So ein Ding?“

Er wedelte mit dem Fernglas.

Der Kellner signalisierte Marvin wortlos, er solle doch jetzt bitte nicht auch noch frech werden.

„Damit sieht man wie ein Adler. Selbst ich“, sagte Marvin und spähte erneut durch das Fernglas. Noch stand Herr Hut an Ort und Stelle. Nun sah Marvin auch Lilli und mich, wie wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.

„Sehen sie? Drei Euro kostet ein Stück Erdbeerkuchen da unten“, rief Marvin dem Kellner zu. „Drei!“


Ich hatte Mühe, mit Lilli mitzuhalten. Sie wuselte sich mit viel Geschick und einer guten Portion Durchsetzungsvermögen zwischen den Menschen hindurch.

„Marvin, steht er noch da?“, fragte ich schnaufend ins Walkie-Talkie.

„Leider ja, ich reiche dich mal an ihn weiter“, antwortete er zu meiner Verblüffung. Es folgten ein paar Sekunden der Stille. „Er will nicht mit dir reden.“

„Nicht der Kellner - Herr Hut, Marvin!“

„Ach so. Ja, der steht noch da. Warte, die Ampel springt auf Grün. Er geht los.“

Lilli und ich standen jetzt vor einer geschlossenen Reihe von Ständen, die uns den direkten Weg zur Ampel blockierten.

„Links oder rechts?“, fragte Lilli ins Walkie-Talkie.

„Lassen Sie mich los“, krächzte es aus unseren Funkgeräten. Daraufhin hörten wir Marvin den Gästen des Cafés zurufen: „Ich bin Künstler! Wen darf ich zeichnen?“

„Links oder rechts?“, wiederholte Lilli ungeduldig.

„Rechts! Rechts rum!“, rief Marvin schließlich.

Wir sausten los.

„Jetzt kommt gleich ein Spalt zwischen zwei Ständen links. Da durch!“, instruierte er uns weiter.

Wir fanden die Abkürzung, quetschten uns hindurch und standen vor der Ampelkreuzung. Gerade wechselte sie zurück auf Rot.

„Das darf doch nicht wahr sein,“ ärgerte sich Lilli, als sich die dicht gedrängten Autos und Lastwagen vor uns in Bewegung setzten. Verzweifelt versuchte ich, inmitten des Verkehrs Herrn Hut auf der anderen Straßenseite auszumachen.

„Marvin? Siehst du ihn?“, fragte ich in mein Walkie-Talkie.

„Ja, er läuft die Straße runter. Jetzt biegt er in die erste kleine Gasse links ein,“ berichtete Marvin. „Und jetzt sehe ihn nicht mehr.“

Wie zwei Tiger im Käfig liefen Lilli und ich vor der roten Ampel nervös auf und ab. Als sie endlich auf Grün wechselte, rannten wir los. Erst die gegenüberliegende Straße entlang und dann links in die kleine Gasse hinein.

Der Lärm der Stadt verebbte und die hohen Hauswände spendeten einen kühlen Schatten. Einige wenige Türen führten in die Treppenhäuser und Wohnungen der beidseitig verlaufenden Gebäude. Ein Blick nach oben fiel auf Balkone, die teils zum Trocknen von Wäsche und teils als gemütliche Ruheoasen genutzt wurden. Am anderen Ende der vor uns liegenden Gasse sah man wieder den Verkehr im hellen Sonnenschein vorbeiziehen.

Von unserer Zielperson war nichts mehr zu sehen.

„Wir haben ihn verloren! Ich glaube es nicht“, rief Lilli verärgert.

„Warte,“ sagte ich zu Lilli. „Ich glaube, er ist in eines der Gebäude gegangen.“


Warum dachte ich, der Verdächtige sei in eines der Gebäude gegangen? Und in welches?

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KAPITEL 06
Die Diebeshöhle

Rings um die Pfütze aus Waschwasser sah man Abdrücke von Schuhen. Die Personen mussten sie vor kurzem erst durchschritten haben. Neben einer Fußspur erkannte man kleine runde Flecken. Letztere stammten vermutlich von einem Gehstock. Herr Hut hatte das Treppenhaus hinter der blau gestrichenen Tür betreten.

„Die Scheiben beim zweiten Balkon sind mit Zeitungspapier verkleidet,“ flüsterte ich.

„Da will jemand nicht, dass man in die Wohnung schauen kann,“ sagte Lilli.

Ich sprach in mein Walkie-Talkie: „Marvin? Wir haben die Wohnung vom Hut gefunden. Wir holen jetzt die Polizei.“

„Gut“, krächzte es zurück. „Ich muss hier nur noch schnell wen fertig zeichnen.“


Kurze Zeit darauf hatte sich Marvin wieder zu uns gesellt und wir standen gemeinsam mit einer Polizistin und einem Polizisten vor dem Wohnungseingang im zweiten Obergeschoss, hinter dem wir das Versteck von Herrn Hut vermuteten. Durch die Tür hörte man Geräusche. Gespannt beobachteten wir, wie die Beamtin anklopfte.

„Hallo? Hier ist Polizeikommissarin Well“, rief sie.

Augenblicklich wurde es hektisch hinter der Tür. Es klang, als ob fieberhaft Dinge zusammengepackt würden. Irgendetwas polterte. Dann wurde es mucksmäuschenstill.

„Hallo?“, rief die Kommissarin erneut. „Bitte öffnen Sie.“

Lilli eilte zum Fenster des Treppenhauses, das zu der kleinen Gasse führte. Sie sah hinaus. „Er flüchtet über den Balkon!“

„Das darf doch nicht ...“, rief die Kommissarin. „Ihr bleibt hier.“

Sofort rannten die Polizisten die Treppe hinab und nahmen die Verfolgung auf. Vom Fenster aus sahen wir sie die Gasse entlang dem Verdächtigen hinterherrennen.

„Und was jetzt?“, seufzte ich, als sie außer Sicht waren.

„12-Euro-Erdbeerkuchen?“, fragte Marvin und hielt ein köstliches Stück vor unsere Nase. Wir lachten, setzten uns neben den Wohnungseingang und genossen den süßen Snack. Marvin erzählte uns, wie er den Kuchen als Gegenleistung für eine Zeichnung von einem netten Gast spendiert bekam.

Auf einmal öffnete sich die Tür der Diebeshöhle.

Wir erstarrten vor Schreck. Als sei nichts weiter dabei, marschierten der Reihe nach fünf Männer, allesamt von kräftiger Statur und mit der Aura einer militärischen Einsatztruppe, der Reihe nach aus der Wohnung und die Treppe hinab. Sie liefen zügig, aber nicht hektisch und schleppten dabei allerlei Kisten und Rucksäcke. Mit versteinertem Gesicht und offenen Kinnladen blickten wir ihnen hinterher. Sie beachteten uns nicht weiter. Der letzte ließ die Tür hinter sich zufallen. Zumindest fast, denn ich nahm unauffällig Marvins Zeichenstift, der neben ihm auf dem Boden lag, und klemmte ihn in den sich schließenden Spalt. Der Mann schien das Geräusch einer zufallenden Tür nicht zu vermissen. Die Schritte der Gruppe hallten durch das Treppenhaus.

„Wer sind denn die?“, fragte Lilli ungläubig.

„Die will ich aber nicht verfolgen“, murmelte Marvin.

„Die Flucht über den Balkon war also nur eine Ablenkung“, flüsterte ich, stand auf, klopfte mir den Staub ab und schlich zu dem offen stehenden Fenster. Die Männer verließen der Reihe nach das Haus und gingen hintereinander die Gasse entlang. Als der Letzte von ihnen unter mir erschien, wandte er sich an seinen Vordermann und fragte: „Die Straßenkarte hast du?“

„Habe ich nicht“, sagte dieser, ohne sich umzudrehen oder seinen Schritt zu verlangsamen.

Der Letzte der Bande blieb stehen und tastete sich ab. Lilli erschien neben mir am Fenster.

„Ich glaube, sie haben was vergessen. Eine Straßenkarte“, flüsterte ich ihr zu.

„Schnell“, sagte Lilli und flitzte in die Wohnung.

Marvin und ich sahen uns an.

„Immer das Gleiche mit ihr“, sagte er, verschlang den verbleibenden Happen und rappelte sich auf.

Mein Blick fiel zurück hinunter in die Gasse. Dort untersuchte das Schlusslicht der Truppe jetzt seinen Rucksack, während sich die anderen weiter von ihm entfernten.

„Hilf Lilli, die Straßenkarte zu finden. Der kommt bestimmt gleich zurück“, sagte ich zu Marvin.

Doch der war schon bei Lilli in der Wohnung.

Mit wachsender Panik beobachtete ich, wie das Bandenmitglied kurz darauf sein Gepäck schulterte und sich anschickte, wieder nach oben zu kommen.

„Wir bekommen Besuch“, rief ich den anderen zu.

„Hier ist das reinste Chaos“, hörte ich Lilli rufen.

 

Nun betrat der Mann das Treppenhaus unter uns.

Ich flitzte zur Wohnungseingangstür. In der Diebeshöhle herrschte ein wildes Durcheinander.

„Jetzt oder nie“, flüsterte ich.

„Wir finden nichts“, sagte Marvin, der sich verzweifelt umsah.

Ich hörte das Bandenmitglied die Stufen rasch emporsteigen.

„Ich habe sie!“, sagte Lilli.

„Dann raus hier!“, rief ich.


Wo lag die Straßenkarte?

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KAPITEL 07
Der versteckte Mann

Lilli genügte ein kurzer Blick auf die Straßenkarte, die sie hinter dem alten Grammofon gefunden hatte. Sie prägte sich ein, was sie sah.

Doch jetzt war es zu spät, um die Wohnung noch zu verlassen. Das Bandenmitglied stapfte bereits die Treppe zu unserer Etage hinauf.

Möglichst schnell und lautlos schloss ich die Eingangstür. Lilli platzierte die Karte auffällig mitten im Raum, damit der Dieb sie sofort finden würde, wenn er die Wohnung betrat.

Hastig versteckten wir uns im Schlafzimmer.

Wir hörten, wie sich die Tür öffnete und der Mann in die Wohnung stürmte. Er blieb unvermittelt stehen, murmelte etwas zu sich selbst und machte postwendend wieder kehrt. Gleich darauf wurde die Wohnungstür geschlossen.

Wie sich herausstellte, hatte er die Straßenkarte gefunden, denn als wir unser Versteck verließen, war sie weg. Anschließend durchsuchten wir weiter die Diebeshöhle, während wir auf die Rückkehr der beiden Polizisten warteten, fanden aber keine neuen Hinweise. Als die Beamten schließlich die Wohnung betraten, konnten auch sie nichts Gutes berichten. Leider hatten sie Herrn Hut im Gewirr des Marktplatzes aus den Augen verloren. Sie nahmen uns mit auf ihr Polizeirevier, um unsere Aussagen aufzunehmen.


„Und du bist sicher, dass auf der Straßenkarte Bloodhound Castle verzeichnet war?“, fragte Kommissarin Well zum wiederholten Male.

„Ganz sicher,“ grummelte Lilli erschöpft.

Das Polizeirevier glich einem Backofen. Draußen war es schon heiß, aber wenigstens wehte dort ein angenehmes Lüftchen. Hier drinnen stand die Luft und alle schwitzten. Wir hatten die Kommissarin überzeugt, eine Streife nach Bloodhound Castle zu schicken, da wir vermuteten, die Bande würde dort bald zuschlagen. Die Polizisten hatten bereits vor über einer Stunde Stellung bezogen.

Zwischenzeitlich hatte Kommissarin Well einiges über Bloodhound Castle herausgefunden. Es handelte sich um ein altes burgähnliches Gemäuer, mitten in einem Sumpfgebiet. Den Namen verdankte das Gebäude der Legende, dass sich angeblich riesige wilde Hunde in den Sümpfen herumtrieben. Kommissarin Well hielt dies jedoch für ein Ammenmärchen, das Fremde vom Schloss und dem durchaus gefährlichen Feuchtgebiet fernhalten sollte.

Die größte Überraschung ihrer Recherche bestand jedoch in der Erkenntnis, dass Bloodhound Castle vor einigen Jahren von James Eckles gekauft worden war. Derselbe James Eckles, der hinter der Schatzsuche steckte, auf der wir uns seit heute Morgen befanden. Das konnte kein Zufall sein. Die im Museum gestohlene Flagge musste Hinweise enthalten, die auf Bloodhound Castle verwiesen. Bestimmt hatte die Bande deswegen das alte Gemäuer auf der Straßenkarte markiert und befand sich mittlerweile wahrscheinlich auf dem Weg dorthin.

„Funk doch nochmal die Streife an,“ sagte die Kommissarin zu einer Kollegin, die vor einer großen Apparatur mit allerlei Knöpfen und Skalen saß. Diese seufzte und drehte an einem Regler, bis auf einem Display die Frequenz 103.2 erschien.

„Revier Nummer zwei hier. Wie sieht es aus, Kollegen?“, sprach sie in ein Mikrofon.

„Streife fünf hier. Weiter alles ruhig. Wie lange sollen wir hier noch rumsitzen?“, krächzte es aus einem der Lautsprecher.

Kommissarin Well atmete tief durch, während sie uns musterte. „Er soll noch zwei Stunden durchhalten“, sagte sie ihrer Kollegin, die die Anweisung weiterreichte.

Ein junger Polizist eilte uns entgegen und wedelte mit einem großen Papierumschlag. „Hier sind die Bilder der Überwachungskameras“, rief er.

„Vom Museum? Auf den Tisch da!“, sagte die Kommissarin.

Die Aufnahmen zeigten allesamt Herrn Hut. Herr Hut, wie er das Museum betritt, wie er durch die Ausstellung schlendert, wie er das Diadem an sich nimmt und damit den Alarm auslöst, wie er die Flagge in seine Tasche steckt und schlussendlich auch wie er die Tasche im Kinderwagen platziert.

„Ich glaube das einfach nicht“, sagte die Kommissarin.

„Was genau?“, fragte der junge Polizist.

„Auf keinem der Fotos sieht man sein Gesicht. Ihr habt mir zwar von dem Tattoo auf seinem Handrücken berichtet, aber ein Bild von seinem Gesicht wäre wirklich hilfreich.“

Wir alle schauten uns die Aufnahmen nochmal genau an.

„Stimmt“, sagte ich.

„Er wusste, wo die Überwachungskameras waren“, überlegte die Kommissarin.

„Und nutzte seinen Hut als Deckung“, ergänzte ihr Kollege.

„Wir haben zwar die Beschreibung seines Aussehens von unterschiedlichen Personen, euch eingeschlossen. Aber ein richtiges Foto ersetzt das nicht“, sagte Kommissarin Well und blickte zu uns. „Es existiert nicht eine einzige Aufnahme, die sein Gesicht zeigt.“

„Sind Sie sich sicher?“, fragte Marvin zu unser aller Erstaunen.


Warum dachte Marvin, das Gesicht des Herrn Hut wurde womöglich doch fotografiert?

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KAPITEL 08
Die Geisterstrecke

Wenn der Museumswärter die Frau mit dem Baby wirklich in dem Moment fotografiert haben sollte, in dem Herr Hut im Hintergrund durch das Bild lief, dann war sicher auch sein Gesicht darauf zu erkennen. Wir verabschiedeten uns von der Kommissarin, die zuversichtlich war, dieses Foto auf der Kamera besorgen zu können.

Doch Lilli dachte gar nicht daran, nach Hause zu gehen. Sie wollte unbedingt nach Bloodhound Castle. Das alte Gemäuer sei nur eine Stunde zu Fuß entfernt, wenn wir querfeldein gingen. Sie kenne den Weg. Die dort wartenden Polizisten könnten uns bestimmt wieder mit zurücknehmen. Kurzum: Sie war nicht von ihrem Plan abzubringen.


Die Sonne brannte weiterhin unerbittlich, als wir uns an diesem mittlerweile späten Nachmittag auf den Weg nach Bloodhound Castle machten. Wir folgten den stillgelegten Gleisen einer alten Bahnstrecke, die längst von der ungebremst wachsenden Pflanzenwelt verschluckt worden waren. Anfangs führte uns die Strecke durch Wiesen und Felder, doch mit der Zeit änderte sich die Umgebung: Es wurde immer sumpfiger. Dabei kamen wir bei Weitem nicht so schnell voran wie gedacht. Das lag vor allem an Marvin, der ständig neue Tiere entdeckte und unbedingt zeichnen musste. Tiere waren bekanntlich seine große Liebe. Jetzt konnte er diese alte große Liebe mit seiner neuen großen Liebe, dem Zeichnen, verbinden. Schließlich konnten wir ihn überzeugen, dass uns die Zeit davonlief und er seinem Zeichendrang vorerst besser nicht nachgab. Von da an trottete mein bester Freund bedröppelt hinter uns her.

„In der Zeitungsanzeige, dem Aufruf zur Schatzsuche, erwähnt James Eckles ein Elixier“, sagte er. „Was, glaubt ihr, bewirkt es?“

„Es muss etwas wirklich Bedeutendes sein“, sagte Lilli. „Warum sonst sollte James Eckles, der größte Erfinder der Welt, sich damit beschäftigen? Warum sollte ein solches Genie spurlos verschwinden und dann aus einem Versteck heraus so einen Aufwand mit einer Schatzsuche betreiben? Warum sollte eine Bande von Profidieben hinter dem Elixier her sein?“

„Vielleicht verleiht es Superkräfte? Vielleicht kann man die Zeit anhalten. Oder Tiere verstehen. Oder mit Gedanken Dinge bewegen“, brabbelte Marvin los.

Ich musste derweil wieder an die Wächter der dunklen Macht denken. Bestimmt waren sie mit der Textstelle doch die Wächter, sie lassen mich nicht gemeint. Wir hatten ja schon in unserem letzten Abenteuer eine unangenehme Bekanntschaft mit diesem mächtigen Geheimbund gemacht.

Ich sah das antike Buch, welches wir damals fanden, wieder vor meinem geistigen Auge. Der Einband bestand aus braunem Leder mit einem blutroten Rand. Dem Titel nach handelte es ebenfalls von einem Elixier. Genaueres brachten wir nie in Erfahrung, da uns die Wächter das Buch sofort abgenommen hatten.

„Ich glaube, es ist etwas, das der Menschheit hilft“, sagte Lilli.

„Wie Schokolade?“, fragte Marvin.

„Etwas bedeutsamer“, meinte sie.

„Wie Schokoladeneiscreme!“, rief er mit Überzeugung.

„Die würde ich jetzt nicht ablehnen“, seufzte Lilli.

„Glaubt ihr, die Wächter der dunklen Macht haben James Eckles bedroht und ihn gezwungen zu verschwinden?“, fragte ich. „Vielleicht weil er es geschafft hat, das Elixier herzustellen?“

„Ja, so ungefähr muss es sein“, meinte Lilli. „Die Wächter hüten das Geheimnis des Elixiers.“

Der Geheimbund war nicht nur mächtig, sondern auch unheimlich. Der Legende nach erkennt man einen Wächter an seinen Augen und dem Mund. Denn in ihren Gesichtern läge an diesen Stellen nur eine pechschwarze Dunkelheit. Trotz der Hitze lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Eine Zeitlang trotteten wir schweigend das alte Bahngleis entlang, als Lilli plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und auf den Boden vor ihren Füßen blickte.

„Was bitte ist das?“, fragte sie ungläubig.

Wir sahen über ihre Schulter und starrten auf den Abdruck einer riesigen Hundepfote. Wegen der Feuchtigkeit des nahen Sumpfgebietes war der Boden an dieser Stelle trotz der Hitze noch matschig. Die Vertiefung erschien uns frisch. Stimmte die Geschichte über die freilaufenden Bluthunde etwa doch?

„Nur weil ein Tier große Füße hat, muss es nicht böse sein,“ flüsterte Marvin. „Du hast auch große Füße, Lilli.“

Normalerweise hätte sich Marvin hierfür eine freche Retourkutsche von Lilli eingehandelt, aber sie schaute wie gebannt nach unten, während sie ihren rechten Fuß in den Abdruck stellte. Ihr Schuh fand darin problemlos Platz.

„Nicht so große wie dieses Tier“, flüsterte Lilli beunruhigt.

Plötzlich raschelte es irgendwo hinter uns. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst von Panik übermannt wurde, doch wir rannten letztlich alle wie wild geworden die Schienen entlang. Kurz bevor uns die Puste ausging, entdeckten wir neben dem Gleis eine Art illegale Müllhalde. Hier standen eine ausrangierte Lokomotive, ein alter Campingwagen, mit Säcken gefüllte Fässer und vieles mehr.

„Schnell, lasst uns ein Versteck suchen!“, schlug ich vor.


Wo hatten wir uns versteckt?

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KAPITEL 09
Das unheimliche Dorf

Wir versteckten uns in dem großen Anhänger, der sich durch unser zusätzliches Gewicht erkennbar absenkte. Nachdem wir einige Minuten in der Hitze unter der Plane ausgeharrt hatten und alles ruhig geblieben war, wagten wir es, die Reise fortzusetzen.

Wir waren nun schon viel länger unterwegs als von Lilli ursprünglich gedacht. Die uns unermüdlich ins Gesicht scheinende Sonne stand tief und verlor an Kraft. Wir folgten weiterhin stur der stillgelegten Strecke, denn diese würde uns zu dem kleinen Dorf führen, das gleich vor Bloodhound Castle lag.

 

Doch wir kamen erst nach Anbruch der Dunkelheit dort an.

Der Mond strahlte und vorbeiziehende Wolken warfen gespenstische Schatten auf die wenigen altertümlichen Häuschen der Ortschaft. Fast alle Gebäude lagen im Dunkeln und wirkten verlassen. Nur die Fenster eines Wirtshauses leuchteten hell.

„Irgendwie unheimlich hier“, flüsterte Marvin.

„Vielleicht können wir da drin unsere Eltern anrufen“, sagte ich und deutete zum Gasthaus. „In der Dunkelheit können wir den Sumpf ohnehin nicht durchqueren. Und da wir hier nicht weiterkommen, können sie uns auch abholen.“

Als wir durch die knarrende Holztür des Wirtshauses traten, fanden wir uns in einem kleinen Gastraum wieder. Hinter der kurzen Bar stand eine ältere, grimmig aussehende Frau und putzte Gläser. An einem der drei runden Tische saßen zwei ebenfalls finster dreinblickende Männer und tranken aus großen Kelchen. Alle schauten uns verdutzt an. Für ein paar Sekunden sprach keiner ein Wort. Das leise Ticken einer Wanduhr war das einzige Geräusch.

„Was in aller Welt treibt ihr Kinder denn hier?“, raunzte die Wirtin schließlich.

„Ich warte dann draußen“, flüsterte Marvin und kassierte einen Ellbogenstoß von Lilli.

„Wir haben uns verlaufen“, sagte ich.

Die Wirtin steckte sich einen kleinen Holzstab in den Mund, kaute darauf herum und musterte uns still. Hatte ich etwas Dummes gesagt?

„Wir würden gerne unsere Eltern anrufen“, fügte ich hinzu.

„Was in aller Welt treibt ihr hier?“, wiederholte sie unwirsch.

Einer der Männer am Tisch murmelte unverständlich vor sich hin. Der andere nickte.

„Wir wollen nach Bloodhound Castle“, sagte Lilli.

Bei der Erwähnung dieses Namens erstarrten die Frau und ihre beiden Gäste förmlich. Alle drei sahen uns sprachlos an.

Eine Kinderstimme durchbrach die unangenehme Stille: „Ich könnte euch führen.“

„Hat dich jemand gefragt?“, rief die Wirtin. „Ab in dein Zimmer!“

Ein Mädchen in unserem Alter schälte sich aus einer dunklen Nische, rannte hinter die Bar und war gleich darauf wieder verschwunden.

„Ihr geht nirgendwo mehr hin“, sagte die Wirtin. „Wisst ihr denn nicht von den Bluthunden?“

„Das sind doch Märchen“, sagte Lilli.

Die Wirtin sah Lilli erschüttert an. Unvermittelt schlug sie mit der Faust auf den Tresen.

„Wer so redet, den holen sie zuerst!“, fauchte sie.

Wir zuckten zusammen.

„Ich mag es hier wirklich nicht“, flüsterte Marvin.

„Können wir telefonieren?“, fragte ich und hoffte, so das Thema wieder zu wechseln.

„Hier gibt es kein Telefon“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Und mit dem Auto kommt man nur bis Bloodhound Castle. Dann muss man durch den Sumpf, um hierher zu kommen. Eure Eltern können euch gar nicht erreichen. Heute Nacht bleibt ihr hier. Morgen früh sehen wir weiter.“

Lilli und Marvin sahen mich fragend an. Sagte sie die Wahrheit? Sollten wir rennen oder hier übernachten? Ich nickte leicht, um zu signalisieren, dass wir das Angebot besser annahmen.

Kurz darauf fanden wir uns in einem bescheidenen, aber wohnlichen Gästezimmer wieder, das im oberen Stockwerk lag. Die Wirtin hatte uns eine Karaffe mit Wasser, Kartoffelsuppe und Brot ins Zimmer gestellt. Sie zog die hölzerne Tür knarrend hinter sich zu. Dann hörten wir, wie sie von außen den Schlüssel im Schloss umdrehte und uns einsperrte.

Lilli drückte die Klinke herunter und rüttelte an der Tür.

„Das glaube ich jetzt nicht. Sie hat uns eingeschlossen“, sagte sie, rannte zu dem Fenster und zog die Vorhänge beiseite. Eine Reihe dicker Metallstäbe starrte uns ungerührt entgegen. Auf diesem Weg gab es kein Entkommen. Lilli lehnte sich an die Wand und ließ sich langsam zu Boden rutschen. Ich setzte mich zu ihr. Eingesperrt zu werden passte uns nicht. Wir mussten hier raus.

Marvin spähte durch das Schlüsselloch und sagte fröhlich: „Dachte ich es mir doch. Sie hat den Schlüssel von außen stecken lassen. Und er steckt ganz gerade im Schloss.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er zu dem kleinen Tischchen und vertiefte sich in die warme Kartoffelsuppe.

Schließlich bemerkte er unsere fragenden Blicke.

„Was schaut ihr denn so? Euch ist schon klar, dass wir hier jederzeit rauskönnen?“, lächelte er zufrieden und schlürfte von seiner Suppe.


Wie konnten wir möglichst geräuschlos an den von außen steckenden Schlüssel gelangen und die Tür öffnen?

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